Rezension von Sabine Grimkowski

 
 

Erika Wimmer, Im Winter taut das Herz. [Sept. 2002]
Wien, München: Deuticke, 2002, 160 Seiten.

Was wissen wir über unsere Eltern? Wir sehen sie als Vater und Mutter, aber wir nehmen selten wahr, dass sie ein Leben ohne uns haben, ein Leben vor unserer Existenz, ein Leben, in dem sie eine andere Rolle als Vater oder Mutter spielen. In den siebziger Jahren machten sich viele Söhne auf die Suche nach ihren Vätern, nach Vätern, die der Ideologie nationalsozialistischen Wahns aufgesessen, für diese Ideen in den Krieg gezogen und enttäuscht und verstört zurückgekommen waren. Oft blieben die Konturen der Suchbilder unscharf, die Väter entzogen sich den bohrenden Fragen ihrer Söhne. Ihr Interesse an Aufklärung war gering, und mit der Verdrängung ließ sich leben.
Mütter geben bereitwilliger Auskunft über ihr Leben. Es scheint, dass sich die weibliche Psyche nicht so leicht hintergehen lässt, dass Glück und Schmerz Rechtfertigung fordern und Taten Rechenschaft.
Erika Wimmer ist in ihrem Roman „Im Winter taut das Herz“ dem Leben einer Mutter nachgegangen, hat die Perspektive der Tochter eingenommen, die sich langsam diesem Menschen, der Mutter, annähert. Die Tochter sucht nach Erklärungen für die lange zurückliegende Entscheidung der Mutter, ihren Ehemann, den Vater der zwei Töchter, zu verlassen, um mit einem anderen Mann zu leben. Bert, so der Name des Mannes, war todkrank. Nur ein Jahr gemeinsame Zeit war den beiden Liebenden vergönnt. Von der Krankheit wusste die Mutter allerdings nichts, als sie zu ihm zog an die Nordsee. Nach seinem Tod ging sie in die Heimat zurück, zunächst gelähmt und sprachlos, bis sie nach einem halben Jahr zu schreiben begann, Tagebücher, Briefe, adressiert an den toten Geliebten. Nach vierzehn Jahren – die Mutter war längst in ihr gewohntes Leben zurückgekehrt – verschwand sie erneut, verschenkte Hab und Gut und zog wieder in jene Küstenregion, in einen Leuchtturm, der ihr von einem ehemaligen Nachbarn als Unterkunft zur Verfügung gestellt wurde. Auch die Motive für dieses wortlose zweite Verschwinden der Mutter enthüllen sich der Tochter erst nach und nach.
„Das Leben meiner Mutter ließ sich, beginnend mit dem Tag am See, Stück für Stück nachzeichnen, die einzelnen Fragmente und Episoden, die Entscheidungen und ihre Folgen setzten sich allmählich nahtlos zusammen, nur Begründungen blieben aus“, setzt die Stimme der Tochter ein.
Begründungen weiß die Mutter selbst nicht immer zu geben, und so bleiben auch am Ende noch Leerstellen übrig, nachdem das Muster dieses Lebens gezeichnet und sichtbar gemacht wurde. Indem die Tochter immer mehr begreift, hört sie auf, Kind zu sein, und kann der Mutter das Eigenständige zugestehen. Dazu gehört Distanz, das Abrücken von Vertrautem, um eine neue Perspektive zu gewinnen. „Auf ihren Zug aufzuspringen und ein Stück weit mitzufahren, ist mein Versuch. Indem ich ihrem Leben näher rücke, schaue ich aus einer neuen Warte auf mich selbst.“
Die Tage am See, die Mutter und Tochter gemeinsam erleben, bilden den Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der Geschichte. Und die wird eingeleitet mit einem Satz, der das Geheimnis der Mutter birgt: „Eines hätte niemals geschehen dürfen damals, und doch hätte sie es nie ungeschehen machen wollen, gerade das nicht, sagte sie.“ Was dieses „eine“ ist, das in seiner Unausweichlichkeit die ganze tragische Dimension der Lebensgeschichte ausmacht, wird erst ganz am Schluss enthüllt, nachdem die Mutter selbst durch die Tagebucheintragungen und die Tochter durch Passagen, in denen sie die Ereignisse rekonstruiert, zu Wort gekommen sind.
Die Tagebucheintragungen geben die Gedanken und Gefühle der Mutter nach dem Tod des geliebten Mannes wieder und werfen rückblendenartig ein Licht auf die gemeinsame Zeit mit ihm, das Kennenlernen, die Ankunft an der Nordsee, die Arbeit im Haus und auf den Feldern. Wir erfahren, dass der Nachbar, der Besitzer des Leuchtturms, ein guter Freund des Geliebten – und ein Intrigant war, dass Berts Sohn Lenz, der bei ihm wohnte, von Berts Frau, längst von ihm getrennt, zurückgefordert wurde, was zu großen Spannungen zwischen der Mutter und Bert führte, dass die Mutter manchmal nahe daran war aufzugeben, als die Schwierigkeiten zu groß wurden, dass aber ihre Liebe siegte und sie standhalten ließ.
In den Leuchtturm-Passagen, den Rekonstruktionen aus der Sicht der Tochter, werden die Handlungsmotive der Mutter Schritt für Schritt deutlich. In den ersten Monaten empfindet die Mutter ihr Leben im Leuchtturm „als die einzig mögliche und wirkliche Form des Daseins“. Die Reduktion auf die einfachsten Tätigkeiten – essen und trinken, aufs Meer sehen, spazieren gehen – geben ihr das Gefühl eines auf den Augenblick konzentrierten Daseins: „Es war das Nichts-kommt, was sie mit dem Ort ihres Aufenthaltes vollständig verband, und es war das Nichts-muss, was ihre Blicke über Meer und Land vollkommen glücklich machte.“ Nachts in ihren Träumen erscheinen der Mutter Menschen, die ihr Geschichten erzählen, von Liebe, Glück und Unglück, von Gelebtem und Ungelebtem, und nie gehen sie gut aus. „Sie fragte sich, weshalb die Geschichten der Menschen schwer, dunkel, gewaltsam sein mussten, weshalb es in diesen Geschichten nichts Helles und Leichtes gab.“ In den Träumen der Mutter, wir ahnen es schon, spiegelt sich das eigene Unbewusste, das Verdrängte, das sich auf diese Weise einen Weg bahnt.
Das verborgene Geheimnis bricht an dem Tag hervor, als der Mutter ein Brief in die Hände fällt, den sie längst verloren glaubte. Das erneute Lesen schleudert sie in die Vergangenheit zurück und führt zu einem Zusammenbruch, zu Klinikaufenthalt und Therapie. In dem Brief klagt Berts Frau die Mutter an, sich an dem Sohn Lenz schuldig gemacht zu haben. Es bedarf dieses Zusammenbruchs und des langsamen Sich-Hervorarbeitens, das einer Geburt gleicht, bis die Mutter die Geschichte als ihre eigene, als ihr Lebensmuster, annehmen kann. „Ohne einige Schritte, die aus einer bestimmten Warte gesehen besser nie gemacht worden wären“, sagt sie, sei ihr Leben nicht zu denken.
Behutsam und ohne spektakuläre Enthüllungen lässt Erika Wimmer Mutter und Tochter Mosaiksteinchen zusammentragen, bis sich ein vollständiges Bild vor uns ausbreitet. Die Autorin hält die Spannung von der ersten bis zur letzten Seite, bis das Geheimnis enthüllt und die Mutter in den Augen der Tochter und der Leser längst über ihre Mutterrolle hinausgewachsen und eine Frau mit einem unverwechselbaren Leben geworden ist.

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