Rezensionen von Johann Holzner

    

 
Joseph Zoderer, Mein Bruder schiebt sein Ende auf.
Zwei Erzählungen
Innsbruck-Wien: Haymon, 2012

Mit dem Superlativ sollte man vorsichtig umgehen; aber wo er angebracht ist, muss man ihn doch bemühen, und in diesem Fall ist er angebracht: Die beiden Erzählungen, die Zoderer in diesem Band zusammengestellt hat, gehören ganz bestimmt zu seinen schönsten Prosatexten. In beiden Erzählungen setzt Zoderer ein Denkmal: in dem einen seinem Bruder, in dem andern seinem besten Freund; und er setzt – wirklich unentwegt darauf bedacht, wie am besten zu erzählen wäre – auf Genauigkeit, auf die akribische Wahrnehmung unterschiedlicher Identitätsentwürfe und auf die unablässige scharfe Beobachtung einer jeden, das heißt: auch der eigenen Stimme. So hat es schon Tumler gehalten, der väterliche Freund des Autors, jedenfalls seit den späten fünfziger Jahren, in der Überzeugung (oder wenigstens: in der Hoffnung), damit künftig allen ideologischen Verlockungen und Fallen souverän entkommen zu können. Zoderers Erzähler hält es ganz ähnlich, in seinem Fall: um den Figuren nie Unrecht zu tun, beispielsweise durch Behauptungen, die womöglich am Ende nur der Selbstbehauptung des Ich-Erzählers dienen. Er stellt vielmehr ständig in Frage, was er berichtet, er stellt seine eigene Position also am schärfsten in Frage; so überschreiten denn auch die beiden Erzählungen permanent die Grenze zur Autobiographie.
Es geht darum, geduldig zuzuhören, die verschiedenen Stimmen nicht durch das eigene Gerede gleich wieder zum Verstummen zu bringen. Die Titelgeschichte beginnt mit dem Satz: „Die Stimme am Telefon klingt sehr lebhaft, ich höre sie, als wäre sie meine.“ Schon in diesem ersten Satz ist das Verhältnis zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Bruder charakterisiert, wird die Nähe und zugleich auch die Distanz sichtbar, die den Jüngeren, den Erzähler, von dem zehn Jahre Älteren trennt. Distanz. Kein Wunder: Der Ältere war im Krieg, der Jüngere stellt (sich) immer wieder die Frage, wie der Bruder wohl sich in Extremsituationen verhalten hat, und: wie er selbst sich in ähnlichen Situationen verhalten hätte. Beide haben sich schon seit der Kindheit auseinandergelebt, zeitweise bestenfalls zweimal im Jahr getroffen. Inzwischen besucht der Jüngere den Älteren wieder öfter – nicht zuletzt, „weil ich mir bei ihm selbst zusehen kann.“ Auf die Fragen, die er dem Bruder noch stellen will, bekommt er keine Antworten mehr. Aber er kommt dem Bruder doch immer näher; und hinter die Antworten, die er früher selbst sich gegeben hätte, setzt er mehr und mehr Fragezeichen, während er den Älteren beobachtet. „Er schiebt sein Ende auf. Warum sollte er das nicht?“ Alles ist unversehens einem ständigen Wandel unterworfen, auch der Bericht: er entwickelt sich zur Liebeserklärung.
Am Anfang mag es so scheinen, als stünde im Mittelpunkt der zweiten Erzählung, Konrad, der beste Freund des Erzählers, ein Journalist (sein Name wird im Text nicht verraten; aber im Porträt wird sichtbar: es ist der Südtiroler Journalist Dr. Konrad Neulichedl, der 2011 in Rom verstorben ist). Tatsächlich dreht sich die Geschichte jedoch um zwei Figuren. Schon der erste Satz stellt sie vor: „Manchmal grolle ich meinem toten Freund, und doch möchte ich ihm nur gut sein, denn wir haben den Blick auf diese Welt brüderlich geteilt.“ Der Freund und der Ich-Erzähler also, beide schon seit der Studienzeit eng miteinander verbunden, stehen im Mittelpunkt einer Erzählung, die nicht nur aufzurollen versucht, was beide erlebt haben, sondern unter einem die Schwierigkeiten enthüllt, im Prozess des Erinnerns, d.h. in der Konstruktion der Erzählung der Wahrheit auf die Spur zu kommen. „Er war mein Freund, mein bester Freund, aber vielleicht habe ich ihn nicht wirklich gekannt.“ Das Geständnis des Erzählers stellt von allem Anfang an alles, fast alles, was er in Erinnerung ruft, gleich wieder in Frage; und im Lauf der Erzählung wird dann auch sichtbar, dass die Freunde sich über viele Themen, über wichtige Beziehungen gar nie ausgetauscht haben. – Auch in dieser Geschichte wird in einem auffallend-nüchternen, immer in erster Linie auf Genauigkeit bedachten (und gerade deshalb berührenden) Ton, im Vergleich zweier Lebensläufe, in vielen nahezu stummen Bildern vor allem die Welt des Erzählers umrissen, wird vermittelt, was ihm begegnet und widerfahren ist, was er liest, träumt, denkt, was alles ihn an den Schreibtisch drängt.
Zwei Erzählungen, die ohne weiteres auch als Bruchstücke einer Autobiographie gelesen werden könnten. Jede Form von Selbstüberhöhung aber ist aus diesen souverän-formulierten poetischen Schlüsseltexten verbannt. Es geht stattdessen um Selbstergründung.

Eine kleine Korrektur, ganz am Rande: Auf dem legendären Gipfeltreffen, das 1961 (wohl) auf Anregung des damaligen österreichischen Außenministers Bruno Kreisky in Wien stattgefunden hat, ist John F. Kennedy nicht mit Leonid Breschnew, sondern (zum ersten Mal) mit Nikita Chruschtschow zusammengekommen. 

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Ulrich Ladurner, Südtiroler Zeitreisen
. Erzählungen
Innsbruck-Wien: Haymon tb 101, 2012 

Ein Buch über Südtirol, das von allen älteren Büchern über dieses Land recht selbstbewusst sich abheben möchte. Wenn Ulrich Ladurner über seine Heimat schreibt, dann hat er nämlich, anders als alle Autorinnen und Autoren vor ihm, gleichzeitig die ganze Welt im Blick; und schon im Vorwort gibt er darüber Auskunft, was ihm in Südtirol wie nirgends sonst endlich klar geworden ist: „die Welt ist groß, sehr groß.“
Acht Geschichten aus der Geschichte Südtirols, acht so genannte Zeitreisen unterstreichen diese Einsicht, dass sich zwischen Toblach und Kaltern „alles Wesentliche abspielt“, dass in diesem Kerngebiet die ganze Welt sich spiegelt.  Ladurners Reisen führen also von Toblach (1905) über Graun (1949), Kiens (1965), Meran (1985), Bozen (2010), Brenner (2015) und Martell (2020) bis nach Kaltern (2025)  – und sie führen (in ihrem Selbstverständnis) vor, welche Faktoren das „Modell“ Südtirol geprägt, recht eigentlich dieses einmalige Erfolgsmodell der europäischen Minderheitenpolitik ermöglicht haben.
Neues erfährt indessen bestenfalls, wer über Südtirol nichts weiß; und verlassen darf man sich dann lediglich auf eins: dass es in den Rückblenden wie in den Zukunftsvisionen nur so wimmelt von Klischees.
Zum Beispiel Kiens, 1965. Zeit der Anschläge auf Carabinieri-Posten. Der Maresciallo spielt eine zentrale Rolle; einer, der nicht gerne über Politik redet. „Davon verstand er wenig und sie interessierte ihn auch nicht. Er war ein Carabiniere. Er erhielt Befehle und führte sie aus, wo immer, wann immer und unter welchen Bedingungen auch immer. Er musste darauf achten, dass die Gesetze eingehalten wurden. Das war keine leichte Aufgabe, nicht im Alto Adige, nicht in Chienes.“
Zum Beispiel Kaltern, 2025. In dieser Gemeinde spielt noch immer der Wein die Hauptrolle; nach wie vor geben sich „der Klerus und sein Klüngel alles andere als enthaltsam“. Aber sonst hat sich doch einiges geändert: Vom nahe gelegenen Flughafen in Bozen kommt man direkt nach Berlin und nach Paris, mit einem einzigen Zwischenstopp sogar schon nach New York. Parallel zum Flugverkehr ist auch die Zahl der Bio-Bauern angestiegen; und nicht nur der Klimawandel macht sich längst bemerkbar, sondern auch ein Wandel in den sozialen Milieus. Eine neue Angst geht um. „Heute war es nicht mehr der Walsche, der den Menschen Sorge machte. Der war längst zum Freund geworden. Vielmehr noch: Man hatte sich verbündet, gegen einen neuen, gemeinsamen Feind – die Moslems, die Araber, die Kopftuchträger. Oder wie auch immer man diese Leute nennen mochte, die aus aller Herren Länder kamen [...].“
Es ist kein vielschichtiges, es ist ein schnell und achtlos hingeworfenes Bild des Lebens in Südtirol, das Ladurner hier vermittelt. Der ZEIT-Journalist hat wenig Zeit und verliert keine Zeit mehr damit, seine Formulierungen zu prüfen, sie z. B. auch aufeinander abzustimmen („in“ und „im“ Alto Adige, beides findet demnach nebeneinander Platz) oder das Tempus/Modus-System des Deutschen zu respektieren (insbesondere das Plusquamperfekt immer richtig einzusetzen). Ebenso wenig  bekümmert ihn, verschiedene Positionen, unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte nebeneinander festzuhalten oder gar einfach einmal stehen zu lassen. Sein auktorialer Erzähler, ein Relikt aus der Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts,  hat immer Recht: er weiß genau, was in den Figuren vorgeht, was sie denken, was sie träumen, woher sie ihre Sorgen und auch ihre Kraft beziehen, immer steht er hoch über allen, souverän vor allem über den so genannten einfachen Menschen, die kaum einmal verstehen, was in ihrem Umfeld, was in der Region und in der Welt sich zuträgt. Ihm dagegen bleibt nichts verborgen. „Italien träumte einen unschuldigen Traum vom Wohlstand und befand sich plötzlich mittendrin im Aufruhr.“
Eine trübe Sicht auf die große Welt in Südtirol. Schlicht wie die Figurenzeichnung, methodisch naiv (um es vornehm auszudrücken) und schlicht wirkt denn auch die Konstruktion des sozialen Bezugsrahmens, in dem das kulturelle Gedächtnis sich entfalten sollte.
Keine einzige Quellenangabe. Kein Literaturverzeichnis. – Jeder weitere Kommentar erübrigt sich. 

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Norbert Gstrein, Die ganze Wahrheit. Roman
München: Carl Hanser Verlag, 2010. 304 Seiten

Was heißt, was kann, zu welchem Ende schreibt man Literatur? Fragen, die Gstrein seit seinem ersten Buch schon stellt, stehen in diesem Buch endlich ganz im Zentrum. Welche Möglichkeiten, welche Verantwortung auch hat ein Erzähler, der nicht-gelebtes Leben zu Papier bringt, mit seinen Figuren wie mit seinen Wörtern scheinbar nach Belieben schalten und walten ... spielen kann und doch auch immer wieder sich gezwungen sieht hinzunehmen, dass die Wörter wie die Figuren dazu tendieren, ein eigenes Leben zu entwickeln?
Das alles ist keineswegs neu, das ist vor allem auch in den letzten Büchern Gstreins wiederholt verhandelt worden. Aber es wird in diesem Roman auf eine spielerisch-leichte, ironisch-hintergründige, im besten Sinn des Wortes unterhaltsame Art und Weise zusammengepackt, die ihresgleichen sucht. Noch dazu aus der Perspektive eines Erzählers, der weiß, wovon er redet, und dennoch alles andere ist als Vertrauen erweckend, alles andere als ein glaubwürdiger Berichterstatter. Er ist nämlich Verlagslektor, aber gerade aus dem Verlag hinausgeworfen worden, über den zu schreiben er sich anschickt; angeblich auf der Suche nach der Wahrheit, in Wahrheit aber auf einem Rachefeldzug. Das ist die ganze Wahrheit.
Die Wahrheit des zurückgestoßenen Liebhabers. Kein Wunder, dass er über den inzwischen verstorbenen Verleger Heinrich Glück (der ihn seinerzeit sogar dazu ausersehen hat, seinen Nachlass zu verwalten und seine Biographie zu schreiben) und über dessen Witwe Dagmar (mit der ihn weiß Gott ja doch weit mehr verbunden hat als ihm am Ende lieb ist) nie und nimmer sine ira et studio reden kann, verständlich auch, dass er hin und wieder leicht verweht wirkt wie ein Blatt im Föhn. Außerdem hat er Angst, nicht zuletzt vor dem offenbar ebenso beflissenen wie gerissenen Anwalt der Verlegerin, dem Dr. Mrak. Selbstzensur! Und mit den übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags verbindet ihn auch nicht eben das allerbeste Einvernehmen.
Alle Figuren bekommen mithin ihr Fett ab. Der Verleger, der (versteht sich: wird hier doch auf eine feine, halbseidene Gesellschaft ein grelles Licht geworfen) in Hietzing wohnt und in der Schönlaterngasse seinen Betrieb angesiedelt hat, ebenso wie seine Autoren und Autorinnen, namentlich Anabel Falkner, das Wunderkind der Literaturszene (die junge Dichterin, die Selbstmord verübt hat), und die Mitarbeiter/innen des Verlags, insbesondere jedoch Dagmar, die Aufgedonnerte: ihre Art, das Verlagshaus an sich zu reißen, ihre Bemühungen, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit einige Brocken Hebräisch einzustreuen, um ihren grob-klotzigen Philosemitismus zur Schau zu stellen, ihre pseudo-mystischen Anwandlungen, ihre nicht anders als obszön zu nennende Trauerarbeit ... Dagmar Glück ist die geborene Gegenspielerin eines wutentbrannten, wütenden Erzählers.
Der indessen ist ein wenig schon vom Alkohol gezeichnet. Der depravierte Held, wie er im Buch steht. Was immer er über alle anderen Figuren äußert, fällt umgehend auch auf ihn zurück.
Eben daraus, aus dieser vertrackten Erzählstrategie ergibt sich die Spannung des Romans (die immer wieder auch durch subtile Vorausdeutungen geschürt wird), eines Romans, der höchst-unterhaltsam zu lesen ist und doch fast wie en passant zentrale Dimensionen des Verhältnisses zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf hohem Niveau thematisiert. Nur ganz nebenbei ist der Roman auch eine Satire auf den Literaturbetrieb: Anspielungen auf Thomas Bernhard, Peter Handke, Josef Winkler (der schon von Wolfgang Bauer als „Poet des Kälberstricks“ bezeichnet worden ist) und andere Repräsentanten des kulturellen und auch des politischen Lebens in Österreich sind nicht zu übersehen; und dass er im Akt des Schreibens auch an den Suhrkamp-Verlag gedacht hat, hat Gstrein frühzeitig (und ganz ohne Not) bekanntlich selbst gestanden.
So wird sein neuester Roman vielfach nur mehr als Schlüsselroman diskutiert (und attackiert). Das hat das Buch, das hat der Autor nicht verdient. 

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Joseph Zoderer, Liebe auf den Kopf gestellt
. Gedichte
München: Hanser 2007

Den neuen Gedichtband Joseph Zoderers mit wenigen Worten vorzustellen und dabei allen seinen Facetten auch nur einigermaßen gerecht zu werden, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Fast 100 Gedichte, allesamt vielschichtige Texte, die eine langsame, konzentrierte Lektüre verlangen, oft und oft von der Liebe reden, wie das der Titel des Bandes ja schon anzeigt, aber darüber hinaus alle zentralen Themen und Motive mitreflektieren und neu reflektieren, die aus den Erzählungen und Romanen des Autors schon wohlvertraut sind, diese Gedichte, in denen hin und hin von Narben und Schmerzen und Zweifeln die Rede ist und zwischendurch doch immer wieder Witz und Selbstironie und Übermut aufblitzen, entziehen sich souverän jeder knappen Charakterisierung.
Sie sträuben sich im Übrigen nicht weniger gegen jede Klassifizierung im Kontext der zeitgenössischen Lyrik. Das macht ihr Ton, ein ganz und gar unverwechselbarer Ton, der eben nur ihrem Autor eigen ist, einem Autor, der sich nicht im geringsten kümmert, der sich nicht kümmern muss um eine Platzkarte in der ersten Klasse der Literatur; denn er hat dort längst seinen Platz, er sieht sich also nie gezwungen, etwa durch intertextuelle Querverweise auf kanonisierte Vorbilder, auf prominente Vorläufer oder Mitspieler im literarischen Feld Aufmerksamkeit zu erregen, ihm genügt es vollauf, Wahrnehmungen und Erfahrungen, namentlich über die Spannungsverhältnisse Innen und Außen, Nähe und Ferne, Lust und Qual, Eros und Thanatos, Traum und Wirklichkeit zu ver-dichten. In diesen Gedichten ist nichts lediglich Angelesenes zu Papier gebracht, auf dass es immer noch raschelt, sondern Leben verdichtet.
Gleichwohl, zwei Prädikate drängen sich auf. Zoderers Verse sind ungewöhnlich hart und ungemein behutsam zugleich.
Diese Verse sind ungewöhnlich hart. Aber keineswegs in erster Linie jener Welt gegenüber, die das lyrische Ich aufmerksam, mit einer Hinneigung zum Detail sondergleichen beobachtet, in der das lyrische Ich lebt; auch wenn dieses  Ich gelegentlich Mordgedanken hegen mag, auf seinen Waldwegen, die leere Wodkaflaschen und Bierdosen säumen, oder auch nach der Lektüre der Schlagzeile „Bush und Blair: Der Krieg war rechtens“. Hart attackieren diese Verse zuallererst und zumeist das lyrische Subjekt selbst. – In einer der aufregendsten Passagen aus dem Roman „Der Schmerz der Gewöhnung“  entdeckt Jul, der Held dieses Romans, mitten in einer Debatte unter Verwandten über das Siegesdenkmal auf der Piazza della Vittoria in Bozen unvermittelt „den Faschisten in sich […], die Intoleranz, die Arroganz eines Rassisten. Und die Lust, sich wie ein Herr eines Stückes Land aufzuführen, wie ein Heimatbesitzer.“ Ähnlich erschreckende Beobachtungen registriert ab und an das lyrische Ich in diesen Gedichten, und ähnlich schonungslos stellt es sich bloß, reißt es die dünnen Wände zwischen der intimen und der sozialen Welt nieder. Das einzige Interpunktionszeichen, das hin und wieder in diesen Gedichten zu finden ist, ist das Fragezeichen. Das Ich stellt sich auch den quälendsten Fragen.
Diese Verse sind also ungewöhnlich hart. Sie sind jedoch gleichzeitig ungemein behutsam, nämlich wo es darum geht, und es geht in jedem Vers darum, Wahrnehmungen in Worte zu fassen oder auch aus dem Zusammenspiel der Wörter Wahrnehmungen erst zu gewinnen. – Die vielleicht schönste Geschichte aus dem Band „Der Himmel über Meran“, die Erzählung „Die Nähe ihrer Füße“, ist die Geschichte eines Liebespaares, das sich trennt; und doch die Geschichte einer Beziehung, das macht der Schluss dieser Erzählung deutlich, die nicht endet. Der Erzähler jedenfalls weigert sich, das Ende der Geschichte zu erzählen. Die Oszillation, die dieser Geschichte ihren ganz besonderen Reiz verleiht, ist das Signum der Poetizität auch in den Gedichten des Bandes „Liebe auf den Kopf gestellt“.
Die Dinge auf den Kopf zu stellen, das Gemeine vor dem Absturz in den Orkus zu retten und aufzuheben, die Grenzen zwischen dem Wirklichen und dem Imaginierten zu verwischen, das ist zunächst einmal vielleicht bloß ein Spiel. Aber was das lyrische Subjekt in diesem Spiel erlebt, prägt sein Leben.
Zusammenfassend: Diese Gedichte verlangen eine langsame Lektüre und sie laden dazu ein, sie wieder und wieder zu lesen: vor und nach den Schrägstrichen, die den Rhythmus der Verse bestimmen, nach Möglichkeit inne zu halten und vor und zurück zu schauen, zu achten in jedem Fall auf die spannungsreichen Beziehungen zwischen den Wörtern und Sätzen, auf die Beziehungen zwischen den Menschen. 

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Joseph Zoderer, Der Himmel über Meran
Erzählungen
München-Wien: Hanser, 2005. 141 Seiten
ISBN 3-446-20667-1

Joseph Zoderers neuer Erzählband, rechtzeitig zu seinem 70. Geburtstag am 25. November 2005 erschienen, enthält eine Reihe von Geschichten, die als Geschichten aus der Geschichte Südtirols gelesen werden könnten. – Blenden wir also einmal kurz zurück: Südtirol vor rund 35 Jahren, um 1970. Der „moralische Pakt“ (Peter von Matt), den die junge Literatur aus Südtirol um diese Zeit ihrem Publikum unterbreitet, impliziert ein entschiedenes Nein zum Normenzusammenhang der alten Literatur wie auch ein entschiedenes Nein zu jenem politischen Diskurs, der jahrzehntelang, vor allem von Landeshauptmann Silvius Magnago und vom Verlagshaus Athesia gefördert, jedes Problem auf „die ethnische Schiene“ (Alexander Langer) gelenkt hat. Sie gehörten also nicht dazu, die jungen Autoren; sei es, dass sie darunter litten, sei es, dass sie endlich sich frei bewegen wollten: sie alle, die 1970 in der Anthologie „Neue Literatur aus Südtirol“ erstmals geschlossen an die Öffentlichkeit traten, waren im literarischen Leben ihres Landes nirgendwo verankert und sie stießen nirgends auf härtere Kritik als im Land selbst. Erst Jahre später erfuhren sie allmählich die ihnen gebührende Aufmerksamkeit und Anerkennung, unter ihnen Norbert C. Kaser (1947-1978) und Gerhard Kofler (1949-2005). Vor allem aber Joseph Zoderer, der Älteste der Gruppe.
Zoderers Texte sind keineswegs nur Geschichten aus der Geschichte Südtirols, es sind Geschichten, die vom Alleinsein, vom Durst nach Zugehörigkeit, von der Suche nach Heimat reden. – Weil in diesen Texten sehr anschaulich erzählt, geradezu akribisch festgehalten wird, was der Erzähler sieht und sehen möchte, empfindet und empfinden möchte, weiß oder auch nicht ganz sicher weiß und doch gern wissen würde, weil diese Texte zudem über weite Strecken (auf den allerersten Blick) wie Passagen aus einer größer angelegten Autobiographie wirken, taucht die Geschichte Südtirols, von der Zeit der Option bis zur Gegenwart, oft und oft als Folie noch auf. Trotzdem, in diesen Texten wird alles andere als bloß subjektiv Erlebtes und Erfahrenes, in diesen Texten wird weit mehr verhandelt.
In diesen Texten ist nämlich aufgezeichnet, was für den Erzähler und für die Menschen in seiner Umgebung einmal die Welt gewesen ist, was ihnen verloren gegangen und was ihnen geblieben ist. In diesen Texten ist, manchmal wehmütig, manchmal nüchtern, nicht selten mit einer Gelassenheit, die ihresgleichen sucht, die Rede vom „Gehen über vertrautes Gelände, das plötzlich verhüllt worden ist ins Unvertraute“. In diesen Texten ist schließlich nichts erfunden, in diesen Texten wird nichts erläutert, es gibt keine Klage und keine Anklage, keine Auflösung zwiespältiger Phänomene, kein Täuschungsmanöver; die Titelgeschichte des Bandes beginnt, symptomatisch lakonisch, mit dem Satz: „Den Himmel über Meran kenne ich nicht.“
Mit Begriffen wie ‚Heim’ und ‚Heimat’ tut sich der Erzähler nicht nur deshalb schwer, weil er die „Heim ins Reich“-Parole noch im Ohr hat; von dieser Parole und ihren Folgen berichtet die Erzählung „Wir gingen“ (die zum ersten Mal 1989 in einem von Reinhold Messner herausgegebenen Sammelband über „Die Option“ und später noch einmal gesondert, in zwei Fassungen, deutsch und italienisch, 2004 in der Edition Raetia erschienen ist). Er tut sich damit auch ziemlich schwer, weil er nach wie vor das „Gekeife der Mussolini-Erben“ auf der einen Seite und das „Dröhnen“ der Südtiroler „Stammtischbrüder“ auf der anderen Seite hört.
Weit wichtiger freilich ist, dass er das Fremdheitsgefühl längst schätzen gelernt hat, dass er es braucht.
Nicht zuletzt deshalb greift Zoderer zentrale Begriffe des politischen Diskurses in Südtirol, wie die Begriffe ‚bleiben’ und ‚gehen’ auf (vgl. dazu vor allem die grundlegende Studie von Brigitte Foppa: Schreiben über Bleiben oder Gehen. Die Option in der Südtiroler Literatur 1945-2000. Trento 2003 sowie den Aufsatz von Georg Grote: Gehen oder Bleiben? – Die Identitätskrise der deutschsprachigen Südtiroler in Optanten- und Dableibergedichten der Optionszeit. In: Modern Austrian Literature Vol. 37, 2004, No.1/2, S.47-69). Er greift diese Schlüsselbegriffe auf, um sie zu drehen und zu wenden und somit aus den gewohnten Fesseln zu lösen:

Da hieß es nicht: Wenn du deutsch bleiben willst, ein Tiroler, mußt du gehen, und wenn du italienisch wählst, kannst du daheim bleiben.
Es hieß nicht: Die Heimat bewahren und deshalb für Italien wählen, auf dessen Staatsgebiet die Heimat nun gerade lag. Es hieß nicht: daheim bleiben in Italien oder die Heimat verraten, sie verlassen, und also fürs deutsche Großreich wählen.
Es hieß nicht, wie es hätte heißen sollen: Die Heimat behalten und deshalb italienisch optieren mit einem weißen Zettel, oder die Heimat verlassen, sie verraten und deutsch optieren mit einem orangenen Zettel.
Nein, es hieß: Deutsch bleiben oder Italiener werden.

Aber Zoderer gibt sich keineswegs damit zufrieden, die über den diversen Strategien der Verschleierung liegende Decke zu lüften. Aus der Erzählung, die wie eine autobiographische Skizze eröffnet wird, erhebt sich vielmehr ein Reflexionsterrain, in dem eine ganze Reihe von Themen aufgeworfen wird. Die Option bzw. die Grenze ist nur eines dieser Themen, das Fremdheitsgefühl ist ein zweites, ein drittes das Problem der Rekonstruktion bzw. Konstruktion in der Historiographie und in der Erzählung. – „Wir gingen“ kann und sollte deshalb nicht nur im Zusammenhang der Südtiroler Literatur gesehen werden, sondern etwa auch im Kontext der Erzählung „Wunschloses Unglück“ von Peter Handke.
In der schönsten Erzählung dieser neuen Sammlung, in der Erzählung „Die Nähe ihrer Füße“, die nicht in Südtirol, sondern in einer mediterranen Landschaft, in einer „Stadt am Meer“ spielt, steht ein Liebespaar im Mittelpunkt, ein Liebespaar, das dabei ist, wie es scheint, sich für immer zu trennen. Der Erzähler allerdings weigert sich, das Ende der Geschichte zu erzählen. Er bricht die Geschichte stattdessen ab, und zwar just an einem Punkt, an dem sie ganz neu beginnen könnte.

Sie beugte sich zu ihm, nannte einige Male seinen Namen, es war das Trauergebet für alles, er blieb sitzen, während sie auf die Straße hinaustrat. Er sah, wie sie die Fahrbahn überquerte, kaum ein Auto kam in seinen Blick, er schaute durch das Heckfenster, während das Taxi wieder anrollte, der Schal hing mit einem langen Ende von ihrer rechten Schulter, sie hatte einen stolzen, ruhigen Schritt, die Schalschleife fiel ihr bis über die Hüfte, eine Handbreit oberhalb des Knies endete auch ihr Minirock.

So kommt also diese Geschichte zu keinem Abschluss: Der Erzähler sagt nicht, er will nicht sagen... mehr noch, er weiß nicht, er will nicht wissen, wie die Geschichte ausgeht. Oszillation ist ein Signum der Poetizität.
So kommt also diese Geschichte zu keinem Abschluss ­– und doch zu einem guten Ausgang:
Fast so wie die Geschichte, die vor 35 Jahren begonnen hat, mit der bescheidenen Anthologie „Neue Literatur aus Südtirol“: Die höchste Auszeichnung, die das Land Südtirol einem Schriftsteller verleihen kann, der „Walther-von-der-Vogelweide-Preis“, wurde 2005 Joseph Zoderer zuerkannt.

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Norbert Gstrein, Das Handwerk des Tötens. Roman
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003

Norbert Gstrein, Wem gehört eine Geschichte?
Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004

Es ist schon richtig, Iris Radisch hat sich nicht gerade eifrig bemüht, einen ausgewogenen, differenzierten Artikel über "Das Handwerk des Tötens" zu verfassen. Sie hat tatsächlich das Thema des Romans, den Krieg auf dem Balkan, besser gesagt: die Schwierigkeiten, über den Krieg zu schreiben, in ihrer Besprechung kaum berührt, sie hat sich stattdessen ganz konzentriert auf die Erzählstrategien, auf die Machart des Romans, der, wie das Radisch sieht, "mit nachgerade altkakanischer Umständlichkeit erzählt", als sei es längst schon unmöglich oder gar verboten, anders zu erzählen, als müsse inzwischen jedes anspruchsvolle literarische Werk pausenlos "auf sein vielfach gebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit" verweisen. Und sie hat darüber hinaus schließlich nur einen einzigen Punkt noch deutlich herausgestellt: dass Gstrein in diesem Roman "innerösterreichischen Stammesfehden" allzu viel Platz einräumt, also alles in allem einen keineswegs aufregenden, sondern einen missglückten Schlüsselroman geschrieben habe.
Aber Gstreins Behauptung, Radisch hätte versucht, ihn "umzubringen", nachzulesen in "Wem gehört eine Geschichte?", ist überzogen, unbegründet, eine peinliche Entgleisung: Im deutschen Feuilleton, jedenfalls in der ZEIT-Redaktion kämpft man denn doch mit anderen Waffen als im Kosovo!

Die Grenzen der Fiktion

Die Kritik hätte sich nicht gescheut, so Gstrein, seinen Roman "seiner Fiktionalität zu berauben". Auch das ist überzogen; ist doch der Roman so angelegt, dass er immer wieder unübersehbar über die Grenzen der Fiktion hinauszeigt.
Ähnlich wie der Roman "Die Zumutung" von Sabine Gruber. Die Welt der Ich-Erzählerin erinnert an die Welt der Autorin, die fiktiven Figuren erinnern an reale Vorbilder; und um abzusichern, dass diese Vorbilder in jedem Fall auszumachen sind, setzt die Erzählerin sogar eine lange Reihe von Signalen.
Diese gelten insbesondere einem Schriftsteller, den Sabine Gruber Holztaler nennt und im übrigen in einem fort attackiert, wo immer sie ihn auftauchen lässt in ihrer Geschichte. Was auch immer Holztaler anfasst, sei es in der Rolle des Freundes, sei es in der Rolle des Autors, wann immer er redet, wann immer er schreibt, nie bringt er, in den Augen Mariannes, etwas zustande, was hält oder wenigstens zählt. Als sie schließlich erfährt, dass er einen neuen Roman vorbereitet, "Die bosnischen Jahre", einen Roman noch dazu über einen gemeinsamen Freund, über Mariannes "Lebensfreund" schlechthin, gerät sie ganz außer sich. "Untersteh dich, je über mich zu schreiben", warnt sie ihn, und fügt gleich eine Drohung hinzu: "dann verwandle ich dich in eine Kotsackblattwespe oder in eine Gallenlaus."

Die Rache

Der so Angesprochene hat die Drohung nicht ernst genommen, gleichwohl auch wenig Sinn für Humor bewiesen und jedenfalls prompt zurückgeschlagen. In dem in der "Zumutung" angesprochenen Roman, der in vielem an seinen Erfolgsroman "Die englischen Jahre" anknüpft, in dem Roman "Das Handwerk des Tötens", den der Autor tatsächlich Gabriel Grüner gewidmet hat, lässt Norbert Gstrein wiederholt eine Schriftstellerin auftreten, die ihn, das heißt natürlich: seinen Ich-Erzähler permanent reizt. Dieser räumt zwar ohne weiteres ein, dass andere Figuren über Lilly alias Sabine Gruber doch ganz anders denken als er und seine Einschätzung keineswegs teilen, aber gleichzeitig lässt auch er, wie Marianne, sich nicht davon abhalten, Bilanz und einen Schlussstrich unter alle ihre Begegnungen zu ziehen: "Ich wußte nicht, was sie sich von mir erwartet hatte, ob ich es ihr überhaupt hätte recht machen können, ob es wirklich an mir lag und meinem vielleicht zu direkten Vorgehen oder ob es auf das gleiche hinausgelaufen wäre, wenn ich mich mehr zurückgehalten hätte, aber zu guter Letzt spielt es ohnehin keine Rolle, interessierte ich mich einfach nicht mehr dafür, so wenig vermochte ich mit ihrem migränischen Getue anzufangen, dem alles eine Zumutung war."
Gstrein selbst hat mit derartigen Invektiven begonnen, den Roman "seiner Fiktionalität zu berauben". Sein Schreibverfahren betont wohl den Konstruktions-Charakter jeder Darstellung, aber es provoziert zugleich die Kritik der fiktionalen Rede(n) wie auch eine mehr und mehr wachsende Skepsis gegenüber seiner Poetik, die sich gern, jedoch keineswegs konsequent an die biblische Aufforderung anlehnt, sich kein Bild zu machen. Wo es ihm darum zu tun ist sich zu rächen, dort nämlich vergisst der Erzähler, dort vergisst mit ihm der Autor alle seine Vor-Sätze.

Kritik der Kritik der Kritik

Die mehrschichtige Erzählstruktur des Romans, die doppelte, sogar dreifache Schrift, die "Das Handwerk des Tötens" in die Tradition von Thomas Bernhard und W. G. Sebald rückt, ist von der Kritik (zu Recht, meine ich) in der Regel gewürdigt, vielfach sehr positiv aufgenommen worden. Gstrein aber hat offensichtlich nur die (wenigen) Verrisse gelesen, also schreibt er, in "Wem gehört eine Geschichte?", seinen Kritikern ins Stammbuch, mit welchen Autoren sie ihn, gefälligst, in einem Atemzug künftig zu nennen hätten: Marcel Beyer oder Uwe Johnson wären recht, auch Handke, auch Sebald, auch Michail Bulgakow, vor allem freilich Imre Kertész, Danilo Kis und selbstverständlich Jorge Semprun. Natürlich auch Cesare Pavese, dessen Tagebuch "Das Handwerk des Lebens"  ja im Romantitel zitiert wird. - Es versteht sich: wer einmal in einer solchen Reihe steht, ist unangreifbar.
Kann aber seinerseits nach Herzenslust attackieren. Zum Beispiel alle jene Schriftsteller, die in der gleichen Reihe nichts zu suchen haben, diese skandalsüchtigen "Halb- und  Dreiviertelalphabeten", "diese paar Aufrechten und ihre Handlanger", oder die "Informanten unter den schreibenden Anhängseln von österreichischen Kulturbehörden" (ein Schelm, wer in diesem Zusammenhang an Sabine Gruber oder Robert Schindel denkt), oder auch die "ebenso blutleeren wie vampirhaften" Studierenden, die an der Universität Wien im Fachbereich Neuere deutsche Literatur nach wie vor den Vorlesungen eines bekannten Professors ("Träger eines Doppelnamens") folgen, eine "Schattenhörerschaft" sondergleichen.
Wenn er einmal schon in Fahrt ist, kann nichts und niemand mehr Norbert Gstrein aufhalten, er setzt jede Anstandsregel,  großzügig  nur sich selber gegenüber, außer Kraft. Wer immer in den "halbklandestinen österreichischen Zirkeln" verkehrt, diese, so wörtlich, "satte Schriftstellermischpoke" (Achtung Achtung! Die doppelte Schrift. Ein Zitat. Von Danilo Kis; "so kann man wahrscheinlich nur in einer Diktatur reden"), mit Norbert Gstrein kann es (aus allen diesen Zirkeln) niemand aufnehmen, am Ende nicht einmal Gabriel Grüner selbst, an den doch zunächst einmal "Das Handwerk des Tötens" erinnern sollte; Grüner ist, stellt Gstrein jetzt unmissverständlich fest, kein Freund, allenfalls "so etwas wie ein Freund gewesen".
Norbert Gstreins Nachschrift zum "Handwerk des Tötens" ist keine Antwort auf einen Skandal, sondern ein Skandal par excellence.

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Armin Gatterer, Augenhöhen. Essays zu Politik und Kultur
Bozen: Edition Raetia 2003

Es ist historisch zu erklären, es ist, mehr noch, sogar unumgänglich gewesen, meint Armin Gatterer, dass in Südtirol über Jahrzehnte hinweg der politische Diskurs alle anderen Diskurse überdeckt oder in den Schatten gestellt habe; inzwischen aber, fügt er diesem Befund hinzu, inzwischen sei es höchste Zeit, dass ein Dialog in Gang komme, "auf gleicher Augenhöhe", ein Dialog, der den politischen und den ökonomischen, den wissenschaftlichen und den kulturellen Diskurs verbinden müsse. - Derartige Verbindungen zu knüpfen, wo sie noch keineswegs selbstverständlich erscheinen, den Zynismus zu untergraben, der verhindert, dass die Perspektiven der verschiedenen Seiten gerecht wahrgenommen und ernst genommen werden können, ist für gewöhnlich eine Sisyphos-Arbeit. Für den Leiter des Ressorts Kultur und Denkmalpflege im Land Südtirol hingegen ist diese Aufgabe keine unlösbare. Also macht er Vorschläge. Beherzigenswerte Vorschläge.

In diesem Band hat er sie gesammelt; und er erstellt gleichzeitig ein Fundament, sie zu begründen.
Südtirol habe in der Vergangenheit viel erreicht, unterstreicht Gatterer. Aber die Phase des Kampfes um große politische Vorhaben, des Kampfes um das Paket sei längst vorbei, und auch im Zeichen der Globalisierung sei die frühere Dominanz des politischen Diskurses nicht mehr länger aufrecht zu erhalten: Die Institutionen der Politik, der Kirche, der Kunstvermittlung müssten darauf reagieren.
Stichwort Bildungspolitik. Gatterer plädiert für die Fortführung der gymnasialen Tradition, für das Studium der europäischen Geschichte, für die Rückbesinnung auf den Fundus, den uns Antike, Christentum, Humanismus und Aufklärung überliefert haben. Und er engagiert sich, nach wie vor, für das Erzählen, "das Reden in Bildern";   für den Verfasser der "Genfer Novellen" (1991) ist das Erzählen immer noch der "Feind aller Ideologie".
Stichwort Kulturpolitik. Sollte Bozen sich entscheiden, weiter darum zu kämpfen, 100 Jahre nach St. Germain, also im Jahr 2019 Kulturhauptstadt Europas zu werden, müsste die Stadt, meint Gatterer, alle ihre Kräfte mobilisieren und zuallererst Geschichten sammeln: Geschichten, die von Südtirol, von Bozen handeln, Geschichten "von Deutschen und Italienern und Ladinern, von Juden, von Immigranten, von Gastarbeitern." Geschichten, die sichtbar machen sollten, was nicht allein in Südtirol, was in   ganz Europa sich zugetragen und verändert hat. Eine Bibliothek voll von Geschichten, "Landkarten der Narrativität", die, was sie als Landschaft anleuchten, "auch anleuchten als Text", derartige Einrichtungen könnten nicht nur vergegenwärtigen, was gewesen ist, sie könnten vielmehr leisten, was nur das Erzählen leistet: "Erzählen als Auflösung von Verhärtung, als Aneignung von Fremdem, als Strategie des Versöhnens."
So redet Gatterer einer neuen Bildungs- und Kulturpolitik das Wort. Einer Politik, die auf den Prozess der Auflösung der traditionellen Wertvorstellungen stärker als bisher antworten und in der Praxis sowohl den Empfindungen der Kulturkonsumenten wie auch den Forderungen der Kulturproduzenten erhöhte Aufmerksamkeit schenken sollte. Dass er dabei umsichtig (um nicht zu sagen: übervorsichtig) Distanz wahrt nach allen Seiten und doch zugleich für sein Projekt die Zustimmung möglichst aller Instanzen zu gewinnen trachtet, ist nicht zu übersehen; über manches, was in diesen Essays mit Samthandschuhen angefasst wird,   wie die "Wiederbelebung von kulturellen Traditionen" in Südtirol nach 1945 oder die symbiotischen Beziehungen zwischen der Medien- und der Parteien-Landschaft, ist schon wesentlich härter geurteilt worden, und nicht ohne Grund. Andererseits, jeder aggressive Ton würde den Dialog, den Gatterer eben anstrebt, doch wieder sogleich gefährden; und deshalb bleibt er (nicht ohne zwischendurch und fast wie nebenbei doch einmal anzumerken, dass "Ausgewogenheit keine Kategorie von Literatur" ist) immer auf einem Konsens-Kurs, auch dort, wo er, das passiert nicht selten, gegen den Strom steuert, den man mainstream nennt.

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Toni Bernhart, Lasamarmo und andere Stücke
Innsbruck: Skarabaeus, 2002, 77 Seiten

Das Theater Toni Bernharts ist keine moralische Anstalt mehr. Schon weit eher "eine ungesunde Anstalt, wo Kaffee getrunken wird und geraucht undsoweiter." Dann böte also das Theater auch kein Gegenbild mehr zum Leben? Kein Bild, das "bei der Vereinzelung und getrennten Wirksamkeit unsrer Geisteskräfte, die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte notwendig macht", noch einmal "gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder herstellt" (Friedrich Schiller), sondern nur noch ein Abbild unseres Lebens, ebenso schräg wie dieses? Bernharts Theater bietet auch kein Abbild. "Theater ist alles, nur nicht das Leben", heißt es einmal im Szenario "Lasamarmo".
Das Stück, das dem gesamten Band den Titel gibt, ist Kennern der Südtiroler Theaterszene längst bekannt. Es ist zuerst 1999 in dem Band "Leteratura Literatur Letteratura" in Bozen herausgekommen und hat im selben Jahr in Brixen seine Uraufführung erlebt; für diese Neuausgabe hat der Autor dieses Szenario allerdings noch einmal (leicht) überarbeitet.- Der Band enthält darüber hinaus das Theaterstück "Sebastianskizze" (aus der Sammlung "Schriftzüge. Texte des 3. Tiroler Literaturtheaters, Innsbruck 1997), das Hörspiel "Sadobre" und schließlich auch einen bemerkenswerten, einen besonders lesenswerten Erstdruck: "Langes afn Zirblhouf".

Handlungszusammenhänge, die man nacherzählen könnte, wird man in diesen Stücken ganz vergeblich suchen. Aber die Bilder, die Regieanweisungen, die Sätze, die man in diesen Stücken findet, verweisen ja auch gerade auf die Unmöglichkeit, der Komplexität des Lebens gerecht zu werden durch das gewohnte Erzählen, durch die gewohnte Verschriftlichung von Geschichten: Indem derartige Verschriftlichungen hier pausenlos zitiert und parodiert und denunziert werden, wird in erster Linie der Leser, der Zuhörer, der Zuschauer selber angegriffen. Das Theater-Publikum soll sich nämlich nicht mehr länger abfinden mit der gewohnten (moralischen), aber recht eigentlich doch faden Kost.

Das Dialektstück "Langes afn Zirblhouf" verdankt seine Entstehung dem Versuch, "eine perfekte Kopie eines alten Wilderer-Stücks herzustellen" (wie Bernhart selbst einmal notiert hat). Auf den ersten Blick kein sonderlich aufregendes Unterfangen. Aber was dabei am Ende, am Ende der Arbeit mit vielfach verkommenen Materialien herausspringt, ist nicht nur ein Stück, das in alten Theaterkulissen spielt, in alter Theaterzeit, vielmehr: Theater übers Theater. Theater pur. Ein Dialektstück (im übrigen: ein sprachlich perfekt gestaltetes Dialektstück), das keineswegs bloß an triviale, sondern zugleich auch an die herausragenden Zeugnisse des Genres anschließt.
Ein Volksstück, das die Tradition des Volksstücks aufnimmt und dabei gleichzeitig zerstört und ganz erneuert.
Es besticht durch eine Handlungsführung, die Überraschungen über Überraschungen bietet, durch eine Dialogführung, die nicht selten mit wenigen Worten ganze Abgründe sichtbar macht, vor allem jedoch durch beinahe stumme Bilder, die auf die besten Stücke von Kranewitter, Schönherr und Horváth zurückverweisen.
Das Stück ist kurz. Es wird in diesem Stück nicht viel geredet. Mehr gestorben. Am Ende kommen die Überlebenden mit dem Zählen der Leichen kaum mehr nach:

Frau 1: Wer mocht norr iatz die Begreibnis?
Frau 2: Woos Begreibnis? Vier Begreibnissn!
Frau 3: Wos redsch denn? Sechse sains!
Frau 1: I rechn, do muaß dr Bischof kemmen.
Frau 2: Dr Bischof! Marianna, tua di nit vrsindign! Dr Bischof kimmp gwiis it zu inz aui.
Frau 1: Sell wäarmr norr schun sechn! Dr Bischof kimmp gwiis.
Frau 3: Valaicht kimmp eppr grood dr Popscht!
Frau 2: Jessasmaria, dr Popscht!
Frau 1: Sell gäat nia!
Frau 2: Sell gipp a Prozessioun!
Frau 1: Und a Gipflmess!
Frau 2: Moansch, die Lait hobm Plotz int Kirch?
Frau 1: Wenn decht dr Meismr it seffl saufn tat!
Frau 2: Wer wäart denn in Popscht vrköschtign, wenn die Haisrin grod gschtorbm isch?
Frau 1: Naa, deis gäat nia! Dr Popscht kimmp gwiis it!
Frau 3: I rechn, dr Gailtoolr Kopratr wäart die Begreibnissn holtn.
Frau 2: Oh! Sell wäart schäan! Woasch, wia der schäan singen konn!
Frau 1: I gschpiir haint nou sain Primizsegn ibr dr gonz Kripp oi!
Frau 2: Deis gipp jo finf Tog long Begreibnis. [...]

Aber in Dialogen wie diesen verrät sich, das versteht sich, weit mehr, als die Figuren preiszugeben denken, weit mehr, als den Figuren selbst bewusst wird. Ein verkümmertes Bewusstsein nämlich, ein Bewusstsein, wie es, auf der Ebene des Volkstheaters, indessen allzu oft Figuren eignet, die als Identifikationsfiguren charakterisiert sind. Damit jedoch kommt mehr als alles andere zum Vorschein die Kritik eines Theaters, dem Doppelbödigkeit gänzlich fremd ist.
Bernharts Drama ist demgegenüber doppelt doppelbödig. Denn es erweckt auch ziemlich lang den Eindruck, es könnte sich, auf den Spuren des neueren kritischen Volksstücks, zu einer Tragödie entwickeln. Um am Ende, indem es mehr und mehr sich als Spiel mit vorgefertigten, kopierten, zitierten Dialogpartien zu erkennen gibt, sich als Komödie zu entpuppen. Als eine Komödie, die Szene für Szene hartnäckig in Erinnerung ruft, in welcher Misere das Volkstheater steckt, das keinen Kunstanspruch mehr stellt.

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Martin Pichler,
 Lunaspina
Roman
Innsbruck: Skarabaeus, 2001, 260 Seiten

Ein aufregendes Debüt. Eine aufregende Familiengeschichte aus Südtirol.
Die Geschichte einer Mutter, die sorgsam die ihr immer schon vertraute, ihr liebgewordene Ordnung hütet und gerade mit dieser ihr eigenen Beharrlichkeit sich selbst in eine mehr und mehr bedrohliche Situation hineintreibt. Die Geschichte eines Vaters, der sich in einer ungemein engen Welt, in einer eng begrenzten Gedankenwelt behaglich einrichtet, indessen, sobald es darauf ankommt, die Grenzen dieser Welt resolut öffnet und überschreitet. Die Geschichte schließlich eines Sohnes, der sich von der ihm viel zu kleinen Welt der Eltern löst, mehr und mehr entfernt und ihr zugleich doch immer nahe bleibt. Eine verwickelte, vertrackte Familiengeschichte, weil sie jede Eindeutigkeit in dem spannungsgeladenen Dreiecksverhältnis von Vater-Mutter-Kind meidet, weil sie das gute alte Schwarz-Weiß, das vor allem Vater-Romane gerne auszeichnet, einfach über Bord wirft und weil sie die Beziehungen zwischen den Figuren als permanent sich ändernde, als veränderbare Beziehungen sichtbar und durchschaubar macht.
Aufregend ist schon die Figurenkonstellation dieses Romans. Allen autobiographischen Bezugnahmen zum Trotz, die in dieser Konstellation aufgeschrieben und aufgehoben sind, unverkennbar ein Konstrukt, das an eine stattliche Reihe bekannter Vater-Geschichten erinnert, von Kafka bis Innerhofer, Schutting, Hotschnig und Josef Winkler, und sich doch wieder absetzt, entschieden abhebt von dieser Reihe, und zwar keineswegs nur, weil es der Mutter gewidmet ist, vielmehr weil es alle Orientierungsmuster, die sich auf das Fest-Stellen, das Fest-Schreiben familiärer Beziehungen konzentrieren, hartnäckig untergräbt.
Aufregend ist die Handlung. Was immer sich in dem hier dargestellten privaten Kosmos zuträgt, was immer Magda Stofner, der ersten Hauptfigur dieses Romans, auch zustößt, es bringt nicht nur ihre eigene Weltordnung gehörig durcheinander, es rührt weit darüber hinaus an alle Tabus, die in ihrem sozialen Umfeld noch scheinbar unumstößlich fest verankert sind. Kein Wunder demnach, daß es ihr schwer fällt, beinahe unmöglich ist, über jene Erfahrungen zu sprechen, die sie am allermeisten quälen: die Krankheit, die ihren Körper zerstört, das Auseinanderklaffen der erträumten und der erlebten Welt, mit dem vor allem ihr Mann kaum mehr zu Rande kommt, und schließlich, als wäre das alles nicht genug, die immer deutlicher zutage tretenden homosexuellen Neigungen ihres Sohnes. - Dieser, Michael, die andere Hauptfigur des Romans, versucht alles, was in seiner Macht steht, um sich aus den Fesseln der brüchigen Ordnung der Welt seiner Eltern, seiner ohnmächtigen Eltern zu befreien. Wo sie es sich angewöhnt haben wegzuschauen, dort schaut er hin. Wo sie es sich angewöhnt haben zu schweigen, dort beginnt er, voll darauf vertrauend, Wörter würden alles ihm erschließen, zu reden. Wo sie es sich angewöhnt haben sich einzusperren, dort zerreißt er die auch für ihn wie selbstverständlich vorgesehenen Ketten der kulturellen, der religiösen, der sexuellen Sozialisation.
Aufregend ist die Handlungsführung. Auch sie folgt, wie die Zeichnung der Figurenkonstellation, in keiner Passage dem Muster des konventionellen autobiographischen Erzählens, noch weniger den Schienen der dokumentarischen Literatur. Fiktion ist nämlich für den Erzähler alles andere als Schein, Täuschung, Lüge. Fiktion ist ihm ein Raum, in dem er Alternativen durchspielt, die zu erleben die Realität ihm oft genug verwehrt. Demnach nimmt er wohl zahllose Erinnerungsfragmente auf; aber im Akt des Schreibens führt er sie weiter, weit über den Erfahrungshorizont hinaus und hinein in erfundene Welten, um von dort her das Verlogene und das Falsche der realen Welt scharf auszuleuchten. Ganz konsequent kommt der Roman dann auch nicht ohne weiteres an ein Ende. Der erste Schluß wird revidiert und durch einen zweiten, radikal anderen Schluß ersetzt.
Aufregend ist es schließlich zu verfolgen, wie der Erzähler zu seiner Sprache findet. Wie sich insbesondere das Aufdecken des seit jeher Tabuisierten, namentlich der Homosexualität, in einer Sprache äußert, die von der vorsichtigen Umschreibung, von auffallend kurzen oder auch auffallend weitläufigen Sätzen, von poetisch aufgeladenen und überladenen oder gar ausgeliehenen, nämlich übersetzten Wörtern sich weiterentwickelt zu einer selbstbewußten, nichts mehr verhüllenden, nichts mehr verdrehenden, nichts mehr kaschierenden Schrift. Der Titel des Romans deutet das schon an.
Martin Pichler, das ist hier einzuflechten, hat Germanistik und Religionspädagogik, später dazu auch Romanistik studiert, und zwar in Innsbruck, und er hat daneben, seit 1994, in Südtirol an verschiedenen Mittelschulen immer wieder auch schon unterrichtet. In seiner Diplomarbeit über Josef Winkler, "Die Neu-Schrift der eigenen Biographie" (Oktober 2000), einer Arbeit, die es ebenfalls verdienen würde, möglichst bald gedruckt zu werden, vermittelt er nicht nur eine dichte, die dichteste Analyse der großen Trilogie "Das wilde Kärnten", sondern mittelbar auch einen Kommentar zu seinem eigenen dichterischen Werk, zu "Lunaspina".
"Lunaspina" gehört tatsächlich in die erste Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in jenes Regal, auf dem schon Winklers Bücher stehen. Denn dieser Roman knüpft an die von Winkler fortgeführte Tradition, über Themen zu sprechen, über die nicht gesprochen werden soll, in vielem an, ohne dabei allerdings jemals Gefahr zu laufen, ins Epigonale abzurutschen. Ganz im Gegenteil: Pichler präsentiert eine unverwechselbare, eine ganz eigene Handschrift, eine Schrift, als deren aufregendstes Charakteristikum wohl die Imaginationskraft des Erzählers gelten darf. Eine Imaginationskraft, die grundsätzlich zu ihr sympathischen Perspektiven ohne weiteres auch einmal auf Distanz geht und gleichzeitig ihr eher fremden Perspektiven, auch fremd gewordenen Perspektiven nicht selten wieder ganze nahe kommen kann. Allein der letzte Satz dieses Roman bietet dafür ein anschauliches Beispiel; es ist überhaupt einer der schönsten Schlußsätze der zeitgenössischen Literatur.

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Felix Mitterer, Stücke 3
Innsbruck: Haymon, 2001, 416 Seiten

Der jüngste Band der Felix Mitterer-Ausgabe enthält die bislang letzten, nicht seine besten Stücke: Das wunderbare Schicksal, Abraham, Krach im Hause Gott, Das Fest der Krokodile, In der Löwengrube, Die Frau im Auto, Die drei Teufel; außerdem eine Bilddokumentation, Statements des Dramatikers zu seiner Theaterarbeit und ein Werkverzeichnis sowie Hinweise auf Stücke, die der Autor selbst nicht (mehr) publizieren will: Das Spiel im Berg (Uraufführung 1992 in Altaussee, Regie: Klaus Maria Brandauer) und Die Geierwally (Uraufführung 1993 in der Tiroler Bernhardstalschlucht, Regie: Ekkehard Schönwiese).
Die meisten dieser Stücke sind Auftragsstücke. Sie müssen also oder sie wollen Rücksicht nehmen, auf das und jenes, und so präsentieren sie sich denn auch: als könnte sich Literatur damit begnügen, brauchbare Ideen auf weiße Fahnen zu heften. Kein Wunder, daß Mitterer inzwischen selbst mit dem und jenem, namentlich mit dem Schwarz-Weiß nicht mehr ganz einverstanden ist.
Merkwürdig ist indessen, daß auch diese Stücke aus dem Mitterer-Steinbruch, wenn sie nur recht behauen werden, glänzen können; das bestätigen Regisseure, das bestätigen auch Übersetzerinnen; zuletzt Tatjana Fedjaewa aus St. Petersburg, die Abraham ins Russische überträgt, und Regula Rohland de Langbehn aus Buenos Aires, die Die Frau im Auto in einer spanischen Version herausbringt. - Es gibt gute Gründe, zurückzuschauen auf die Zusammenhänge zwischen diesen jüngsten und den früheren Stücken Mitterers (die ja nie unumstritten gewesen sind).

I.
Das erste Mitterer-Stück erlebte am 15. September 1977 in einem Innsbrucker Wirtshaus seine Premiere, nämlich im Breinößl, wo die Volksbühne Blaas ihre Heimstatt und ein Stammpublikum hatte, das in der Regel nichts anderes als harmlose Schwänke sehen wollte. Kein Platz für Idioten, ursprünglich als Hörspiel verfaßt, erst nachträglich, und zwar speziell für die traditionsreiche Innsbrucker Volksbühne als Theaterstück eingerichtet, brachte, inszeniert von Josef Kuderna, nicht nur dem Autor, sondern auch dem Schauspieler Mitterer, der die Hauptrolle spielte, einen Erfolg, der die kühnsten Erwartungen übertraf. Es wurde sogleich in Wien nachgespielt, auf einer Deutschlandtournee gezeigt, von mehreren Fernsehstationen aufgezeichnet (ORF, SRG, NDR, RAI) und schließlich in andere Dialekte und in diverse Fremdsprachen übersetzt. Mitterer erhielt eine Flut von Einladungen, spielte in rund 250 Aufführungen seinen Idioten, bekam ein Dramatikerstipendium des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst in Wien und gewann den ersten Preis der Landeshauptstadt Innsbruck für dramatische Dichtung; er konnte seinen Arbeitsplatz am Zollamt Innsbruck aufgeben.
Das Stück, die Geschichte eines jungen Behinderten, der einzig und allein von einem älteren Mann beschützt und aufgenommen und endlich dennoch aus dem Verbund der Dorfgemeinschaft in eine Nervenheilanstalt abgeschoben wird, folgt im dramaturgischen Konzept einer Volksstücktradition, als deren Ahnherr Ludwig Anzengruber zu nennen ist. In einer engmaschigen Konfiguration, in der die Figuren weithin als Typen erscheinen, zeigt Kein Platz für Idioten, exakt 100 Jahre später als Das vierte Gebot, daß die Dynamik des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels, hier im besonderen die enorme Entwicklung des Tourismus, nach wie vor serienweise Probleme produziert, die von der Gesellschaft den Einzelnen, namentlich den Schwächsten aufgebürdet werden. Wie schon Anzengruber propagiert auch Mitterer keine Revolte. Er bekämpft vielmehr allein individuelles Fehlverhalten, das auf der Bühne aus der allgemeinen sozialen Entwicklung zwar erklärt, aber damit keineswegs entschuldigt wird. Denn die Aufklärung über die Möglichkeit, Menschlichkeit zu beweisen, das Leben in jeder erdenklichen Konfliktsituation nach ethischen Maßstäben zu gestalten, ist ihm weiterhin das wichtigste Anliegen.
Die ungeheure Resonanz, die dieses Stück ausgelöst und die wohl auch den Autor überrascht hat, auf den ersten Blick tatsächlich verwunderlich, ist nur zu verstehen, wenn auch das Voraussetzungssystem ins Blickfeld kommt, das Mitterers literarische Karriere zweifellos gefördert hat: Diese Karriere beginnt in einer Zeit, in der, spät aber doch, etliche Jahre nach der Studentenbewegung, auch in Österreich das Interesse wächst, die kritischen Stimmen jüngerer Autorinnen und Autoren wenigstens wahrzunehmen, vor allem sofern sie nicht allzu radikal gesellschaftliche Erneuerungen einfordern. Die in der Nachkriegszeit dominanten politischen Sprach- und Denkregelungen verlieren ihre Strahlkraft, und zumindest im kulturellen Bereich setzen sich die unterschiedlichsten Bemühungen, eine Gegensprache gegen die Sprache der Macht zu etablieren, allmählich durch. Transformationen des Heimatromans, die sogenannten Anti-Heimatromane, erweisen sich geradezu als Schlager. Die Heimat, als Raum bitterer Erfahrungen, als sozialer Ort, aus dem die jungen Menschen, vielfach zur Sprachlosigkeit verurteilt, wollen sie nicht ganz an den Rand gedrängt werden, flüchten müssen, wird neu vermessen: von Peter Handke (Wunschloses Unglück, 1972), Franz Innerhofer (Schöne Tage, 1974; Schattseite, 1977), Elfriede Jelinek (Die Liebhaberinnen, 1975), Gernot Wolfgruber (Auf freiem Fuß, 1975; Herrenjahre, 1976; Niemandsland, 1978), von Alois Brandstetter, Barbara Frischmuth, Reinhard P. Gruber, Michael Scharang, Josef Winkler und anderen. Gleichzeitig bemühen sich immer mehr Autorinnen und Autoren ebenso wie einzelne Gemeinden, politische und literarische Diskurse enger zu verschränken und damit der Literatur zu einer breiteren Öffentlichkeit zu verhelfen; der Kulturverein Forum Rauris, der Veranstalter der Rauriser Literaturtage, ist in diesem Zusammenhang nur das bekannteste Beispiel. - Die Horváth-Renaissance schließlich und die Entwicklung des sogenannten Neuen Volksstücks, die in den späten sechziger Jahren einsetzt, in Bayern mit den ersten Stücken von Franz Xaver Kroetz und Martin Sperr, in Österreich mit den aufsehenerregenden Debuts von Wolfgang Bauer und Peter Turrini, tragen ganz wesentlich dazu bei, daß das erste Mitterer-Stück sofort und nicht nur in der Region Tirol auf hochgespannte Erwartungen stößt.
Einen günstigeren Zeitpunkt, sein erstes Stück zu präsentieren, hätte Mitterer also kaum wählen können. Weit wichtiger allerdings war, daß er den neuen Strömungen, obwohl sie die Rezeption seiner Arbeit stark vorantrieben, sich gleichzeitig entzog. Er verzichtete darauf, sich den nonkonformistischen Außenseitergestus anzueignen, den nicht wenige Repräsentanten der kritischen Heimatliteratur für ein Gütesiegel hielten. Er verzichtete darauf (bei aller Polemik, die er unmißverständlich vorbrachte, wo sie ihm angemessen schien), Figuren zu denunzieren und damit den Spieß der alten Heimatliteratur, die nur beschönigte, im Sog der neuen Heimatliteratur, die gern schwarzmalte, einfach umzudrehen. Er verzichtete schließlich auch darauf, an die Strategien des Schocktheaters anzuknüpfen, die trotz permanenter Verschärfung, trotz permanenter Ausweitung der Tabu-Grenzen, gerade in den siebziger Jahren, sehr bald ins Leere liefen.
"Ich mach ja nicht Volkstheater, um dem Volk auf den Schädel zu hauen und es aus dem Theater zu vertreiben. Ich mache Theater nicht gegen, sondern für das Volk." In zahllosen Interviews bekräftigte Mitterer dieses sein Programm.
In der ersten Szene des Stückes Kein Platz für Idioten fällt lange Zeit kein einziges Wort. Der Titelheld, der sein Gesicht unter einer Maske verbirgt, sucht sich in einer Bauernstube einen Platz, dreht den Fernseher an, setzt sich auf den Boden. Dann hört er Schritte, schaut sich nach einem Versteck um und kriecht endlich unter den Tisch. - Mitterer vertraut nicht in erster Linie auf die Kraft des Wortes, des literarisierten Theaters, er vertraut stattdessen auf die Kraft des Bildes und bemüht sich aus diesem Grund, die Tradition des theatralischen Theaters, die Ästhetik des alten Volksstücks weiterzuführen.
Es war demnach konsequent, daß er von allem Anfang an den Kontakt zur Volksbühne suchte, zu deren Revitalisierung er beitragen wollte. Es war jedoch keineswegs
vorauszusehen, daß die Rechnung aufgehen würde, wie sie aufging: Während Kein Platz für Idioten in einem nicht sonderlich renommierten Gasthaus, das den Ansturm auf die Theaterkarten kaum zu bewältigen vermochte, über die Bühne ging, spielte das Tiroler Landestheater Das vierte Gebot, und an der Innsbrucker Kellerbühne, im Theater am Landhausplatz, wurde das Kroetz-Stück Stallerhof aufgeführt. Das Stammpublikum der Volksbühne besuchte weder das Landestheater noch das Kellertheater; jenes galt als Tempel des Bildungsbürgertums, dieses war der Treffpunkt der Studierenden. Nach den ersten Aufführungen des Mitterer-Stücks aber kamen auch die Abonnenten des Landestheaters und des Kellertheaters ins Breinößl.

II.
Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden. Mitterer wurde 1948 in Achenkirch in Tirol geboren. Sein Vater war, so erzählte es ihm jedenfalls, viel später, seine Mutter, ein rumänischer Flüchtling, die Mutter eine verwitwete Kleinbäuerin. Sie behielt das Kind nicht bei sich; es wurde von einem Landarbeiter-Ehepaar adoptiert. Mitterer wuchs in der Umgebung von Kitzbühel und Kirchberg auf, besuchte acht Jahre die Volksschule, anschließend vier Jahre die Lehrerbildungsanstalt in Innsbruck, brach aber schließlich, gezwungenermaßen, das Studium ab. Mehr als zehn Jahre lang arbeitete er am Zollamt in Innsbruck, daneben begann er, ab 1970, zu schreiben: Erzählungen, die in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt, und Hörspiele, die vom ORF gesendet wurden.
Mitterer folgt also keineswegs einem modischen Trend, sondern eigenen Erkundungen, wenn er in seinen ersten literarischen Arbeiten von Außenseitern berichtet, von gedemütigten, alleingelassenen, vergessenen Menschen, die kaum einmal agieren, nur hilflos oder auch aggressiv reagieren können auf die kalte, mehr oder weniger teilnahmslose Umwelt. Seine fiktiven Biographien sind durchaus realen Lebensläufen nachgezeichnet, die Geschichten wollen als wirklichkeitsgetreue Abbildungen des Lebens der Randständigen aufgefaßt und beurteilt werden. - Der Autor hat sie später in dem Band An den Rand des Dorfes (1981) gesammelt.
Im Bann der Resonanz des ersten Bühnenstücks riskiert Mitterer ein doppeltes Experiment. Er verläßt die Institution Volksbühne, übernimmt einen Auftrag des Wiener Theaters in der Josefstadt, ein Stück zu schreiben, das im Rahmen des Avantgarde-Festivals Steirischer Herbst 1980 aufgeführt werden soll, und wendet sich darüber hinaus einem neuen Thema zu. Das Stück Veränderungen, ein Thesenstück über die Zerstörung der Natur durch die Computertechnologie, beschert ihm einen Achtungserfolg und zudem die Einsicht, in thematischer und in dramaturgischer Hinsicht sich auf derartige Wagnisse nicht weiter einzulassen; "ich hab versucht, davon wegzugehen, und wirklich von einem Ereignis, von Menschen, von einer Geschichte [...] auszugehen". Mitterer kehrt also schnell zu seinem Erfolgskonzept zurück. Das Stück Veränderungen aber zieht er aus dem Handel.
Die Tiroler Volksschauspiele, die 1981 zum ersten Mal in Hall und ab 1982 in Telfs organisiert werden, bieten Mitterer eine neue Plattform, als Schauspieler, als Autor und auch als Mitveranstalter aufzutreten. Seine eigene Produktion erhält aus dieser Arbeit, namentlich aber aus der intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk der beiden Tiroler Dramatiker Franz Kranewitter (1860-1938) und Karl Schönherr (1867-1943) kräftige Impulse.
Im ersten Programmschwerpunkt der Tiroler Volksschauspiele, in Kranewitters Einakter-Zyklus Die sieben Todsünden (1902-1925) geht es um eine detaillierte Aufzeichnung der todbringenden Redeweisen und Verhaltensnormen in einer topographisch wie mentalitätsmäßig verschlossenen Dorfgemeinschaft, in einer Gemeinschaft, in der jeder bestrebt ist, bestrebt sein muß, durch sein Eigentum, durch Vermögenswerte Ansehen zu erringen bzw. zu bewahren, und in der jeder sich im übrigen nur darum kümmert, sowohl wirtschaftliche wie auch psychische Probleme in seiner Privatsphäre einzuschließen und seine wahren Empfindungen hinter einem Panzer zu verbergen. In einer solchen Gemeinschaft, zeigt der Zyklus, gedeihen Frustrationen, woher immer auch sie kommen, bis sie umkippen in Mord und Totschlag. - ORF-Intendant Wolf In der Maur veranstaltete 1981 einen Werbefeldzug für das "große" österreichische Volksstück in der Absicht, im Fernsehen einen Gegenpol zur trivialen Schwankliteratur zu installieren. Die neue Serie startete mit Kranewitters Todsünden-Zyklus, mit einer Aufzeichnung der Haller Inszenierung. Der Direktor des Wiener Volkstheaters, Paul Blaha, unterstützte diese Initiative: Volkstheater müsse, wenn es bestehen wolle, "aggressiv" sein, meinte er in einer Fernseh-Diskussion, es sei deshalb richtig gewesen, die neue Volksstück-Reihe gerade mit Kranewitter zu eröffnen.
Mitterer hatte für diese Inszenierung Zwischentexte verfaßt und sie im Kostüm eines Moritaten-Sängers auch selbst vorgetragen. Anders als nach dem mißglückten Grazer Experiment sah er jetzt nach der ersten Zwischenbilanz der Tiroler Volksschauspiele seinen Kurs bestätigt. Einflußreiche Theatermacher und nicht zuletzt das Fernsehen standen auf seiner Seite. Er konnte auf seiner thematischen Spur bleiben und zugleich weit über die Grenzen der alten Volksbühnen hinaus ein neues Publikum gewinnen.
Sein nächstes Stück, Stigma (das in der Zeit um 1830 angesiedelte Spiel um eine Dienstmagd, die wegen religiöser Schwärmerei zwischen die Mühlen der Kirche und der Wissenschaft gerät) wurde 1982 in Telfs uraufgeführt, nachdem der Bürgermeister der Stadt Hall, in der schon alles für die Fortsetzung der Tiroler Volksschauspiele vorbereitet war, die Aufführung verboten hatte. Die Gerüchte, die rund um die Premiere schwirrten, häufig war von Gotteslästerung die Rede, führten zu Demonstrationen, Wallfahrten, Bombendrohungen; diese Reaktionen wiederum zu einem eklatanten Besucherandrang.
Was immer Mitterer im darauf folgenden Jahrzehnt in Angriff nahm, es wurde von den Medien aufmerksam verfolgt und nicht selten Gegenstand heftiger Kontroversen. Mit dem Einakter Karrnerleut 83 (1983 erstmals aufgeführt in Telfs; später, 1987, neugefaßt unter dem Titel Heim) nahm Mitterer explizit Bezug auf ein bekanntes Schönherr-Stück, mit der Einakter-Reihe Besuchszeit kehrte er noch einmal zurück zum zentralen Vorwurf von Kein Platz für Idioten; das Theater "Die Tribüne", das schon die Wiener Erstaufführung dieses seines ersten Stücks besorgt hatte, übernahm auch die Uraufführung von Besuchszeit (1985). Mitterer erhielt Aufträge über Aufträge, er schrieb die Theaterstücke: Die Wilde Frau (Uraufführung 1986 im Innsbrucker Kulturgasthaus "Bierstindl"), Drachendurst (Uraufführung 1986 im Rahmen der Telfer Volksschauspiele), Kein schöner Land (Uraufführung 1987 am Tiroler Landestheater), Verlorene Heimat (ebenfalls 1987, am Dorfplatz von Stumm im Zillertal aufgeführt), Die Kinder des Teufels (Uraufführung 1989 am Münchner Theater der Jugend), Sibirien (Uraufführung 1989 in Telfs; Wiener Erstaufführung am Akademietheater, Inszenierungen u.a. in Bonn, München, Frankfurt, Prag, Kopenhagen, Los Angeles), Munde (1990 erstmals aufgeführt auf dem Gipfel der Hohen Munde, im Rahmen der Telfer Volksschauspiele), Ein Jedermann (Uraufführung 1991 am Theater in der Josefstadt), Das Spiel im Berg (Uraufführung im Salzbergwerk Altaussee 1992) und Das wunderbare Schicksal (Uraufführung 1992 wiederum im Rahmen der Tiroler Volksschauspiele).
Daneben bereitete er weiterhin Rundfunk- und Fernsehproduktionen vor, darunter die Drehbücher: Der Narr von Wien, eine Peter Altenberg-Biographie, Die fünfte Jahreszeit, eine Fernsehserie über die Zerstörung traditioneller Lebensformen, Erdsegen, nach einem Peter Rosegger-Roman, Das rauhe Leben, nach dem autobiographischen Roman des Arbeiterdichters Alfons Petzold, Verkaufte Heimat, eine Südtiroler Familiensaga, die in die Zeit des Faschismus und der Option zurückführt, und schließlich sein bekanntestes Werk, die Piefke-Saga (1989-1992).
Der Stigma-Skandal lag erst zehn Jahre zurück, aber Mitterer war bereits ein Lesebuch-Autor: 1992 veröffentlichte der Haymon-Verlag die ersten beiden Bände der jetzt auf drei Bände erweiterten Gesamtausgabe. Als die ersten Besprechungen erschienen und alle Welt noch über die Piefke-Saga diskutierte, die im Jänner 1993 in Österreich wie in Deutschland erstmals komplett über die Bildschirme laufen durfte, war Mitterer allerdings längst mit einem neuen heißen Eisen vollauf beschäftigt. Am Landestheater Linz sollte im Rahmen des Festivals der Regionen sein "Stück über eine Liebe" Abraham zur Uraufführung gelangen.

III.
Im Zentrum der Erzählung über Abrahams Opfer - Genesis 22, 1-19 - steht Abraham selbst. Isaak, der Sohn, der einzige, den der Vater liebt, muß sich ebenso mit einer Nebenrolle begnügen wie der Engel des Herrn oder auch der Widder, den Abraham am Ende statt seines Sohnes als Brandopfer darbringt. Dieselbe Figurenkonstellation zeigt das Gemälde "Abrahams Opfer" aus der Sammlung Janina und Zbigniew Carroll-Porczynski, das Michelangelo da Caravaggio zugeschrieben wird und sich seit einigen Jahren in der Galerie "Johannes Paul II." in Warschau befindet: in der Bildmitte Abraham, unter ihm, am Boden, d.h. eigentlich auf dem Altar, hilflos, den Mund aufgerissen, als möchte er schreien, der Sohn, am linken Bildrand der Engel, am rechten Bildrand der Widder. - In Mitterers Abraham ist alles anders. Hier gerät der Sohn in den Mittelpunkt, hier wird er, nachdem weder ein rettender Engel noch ein Widder auftaucht, vom Vater, der sonst mehr am Rand steht, getötet.
Eine Konstellation, die Mitterers Handschrift verrät. In der Mitte das Opfer: Peter ist Architekt, könnte alles gewinnen, was zu gewinnen ist, und geht dennoch elend zugrunde. Keineswegs zwangsläufig, aber ebensowenig ganz zufällig. Denn nicht anders als sein Vater hält auch er selbst seine homosexuelle Veranlagung für sündhaft oder jedenfalls unstatthaft in einer Gesellschaft, die eisern an den Gesetzen des Katholizismus weiter festhält, obwohl unter der Decke der Normen, der sogenannten Normalität, nicht mehr viel stimmt; auf dem Land aber gilt es, den Schein zu wahren. Dann der Vater des Opfers: Max, ein Baumeister, kein Ungeheuer, schwankend zwischen Zuneigung, die er trotz allem für seinen Sohn noch empfindet, und Brutalität, einer Hartherzigkeit, die aus Halbherzigkeit herrührt und im übrigen aus dem Allgemein-Üblichen gleichsam ihre Ermächtigung ableitet. Im Umfeld ein Pfarrer, der Aids als die neueste Geißel Gottes betrachtet, und etliche, zumeist traurige Ritter, teils auf dem Land wohnhaft, teils in der Stadt, wo es vielleicht eher ehrlich, gleichwohl schlimm genug zugeht.
Wie fast immer, greift Mitterer in diesem Stück einen konkreten Fall auf, nicht ohne ihn, Szene für Szene, zuzuspitzen und zeitweise ins Mythische zu überhöhen. Nicht nur durch Anspielungen auf die Bibel; gelegentlich ist, laut Regieanweisung, sogar Meeresrauschen zu vernehmen, obgleich sich die Geschichte offensichtlich in Österreich abspielt. So aber weist das Stück, über den Anlaßfall hinaus, auf außergewöhnliche wie auf gemeine Beziehungen, auf alte wie auf neue Regelungen von Beziehungen, als gäbe es immer noch eine Spur Hoffnung, daß Theater da und dort in den Köpfen und Herzen Jammer und Schauder erregen und damit aufrüttelnd wirken könnte.
Der Anstoß: Gefühlskälte. Mitterer geht, wie schon angedeutet, gern von einem realen Anlaßfall aus - und ihm nach. Vorurteile, Haltungen, Einstellungen, die ihm dabei in die Quere kommen, werden in die Konzeption des Stückes integriert und einander gegenübergestelllt, ohne daß in jedem Fall von vornherein schon ausgemacht wäre, wofür und wogegen sich der Autor ausspricht.
In einem Tiroler Fremdenverkehrsort wird eines Tages eine Frau aus einem Gasthaus gewiesen, weil sie ihr behindertes Kind bei sich hat und das den Wirt stört. Das ist der Anstoß zu Mitterers erstem Stück Kein Platz für Idioten. In dem Einakter-Zyklus Besuchszeit, dessen Szenen in dunklen Anstalten spielen, in einem Altersheim, in einem Gefängnis, in einer Nervenheilanstalt und in einem Krankenhaus, weisen sogar alle Figuren auf reale Vorbilder zurück; unter diesen Vorbildern finden sich auch die Adoptiveltern des Autors. In dem eben zitierten Abraham-Stück schließlich verhält es sich nicht viel anders; die erste Anregung dazu erhält Mitterer aus dem Bericht eines Aidskranken, kurz vor dessen Tod.
Es ist nicht schwer festzustellen, was die verschiedenen 'Fälle' miteinander verbindet. Im Mittelpunkt stehen beinah immer die Ausgestoßenen, die sogenannten Idioten. Wie die Magd Moid in Stigma, die sich an den Gekreuzigten klammert, der Ausreißer Mike in Heim, der unter seiner homosexuellen Veranlagung leidende Peter in Abraham. Eine lange Reihe von Figuren, die abgeschoben, vergewaltigt, umgebracht werden. Sie erscheinen im Mittelpunkt einer Gesellschaft, die alles andere, nur diese Figuren nicht im Mittelpunkt sehen möchte und der es am liebsten wäre, wenn ihre Welt bleiben könnte wie sie ist.
Weil sich Mitterer auf die Seite der Ausgestoßenen stellt, beleuchtet er die Rituale der Ausgrenzung, der Folterung, der Auslöschung aus deren Perspektive. Es ist jedoch hervorzuheben, daß er auch die Täter nicht selten als arme Teufel charakterisiert; sind doch auch sie, wie das am drastischsten in Ein Jedermann zum Vorschein kommt, kommen soll, eingesperrt in einer Welt, deren Gefühlskälte, nicht anders als in der Welt der Volksstücke von Kranewitter oder Schönherr, nur die Aggressivität fördert. "Aus jeder Illustrierten", heißt es in dem Einakter Verbrecherin, spritzt "Gift". In Weizen auf der Autobahn wittert der in eine Nervenheilanstalt abgeschobene "Alte" eine neue Weltverschwörung: "Eine Verschwörung von a paar tausend Leut, die die ganze Welt zuabetonieren wollen, mit elektrische Dräht überziagen wollen, mit die Abgase und Abwässer vergiften wollen. [...] I nenn sie die Elektrischen. Sie ham koa Herz im Leib und koa Hirn im Kopf". Das ist die Perspektive von Figuren, nicht unbedingt gleichzeitig die Perspektive des Autors. Aber daß ihm eine Welt vorschwebt, in der solche Behauptungen ganz unsinnig erscheinen müssen, wird daraus evident.
Sibirien, das inzwischen wahrscheinlich erfolgreichste Mitterer-Stück, ist eine einzige Abrechnung mit der realen Welt. Der Inhalt, so Mitterer, "ist eigentlich in einem Satz erzählt: ein alter Mann in einem Pflegeheim, seiner Menschenwürde beraubt, zum entwürdigten Sterben verurteilt. Und er empfindet das schlimmer als seine Kriegsgefangenschaft in Sibirien, aus der er ja zurückgekehrt ist. Und er weiß, aus diesem Pflegeheim wird er nicht mehr zurückkehren. Und er kämpft um zumindest einen würdigen Tod. Und das schafft er auch". Eine einzige Abrechnung. Ein Monolog, der an die Reden des Timon von Athen, an Molières "Misanthrope" und nicht zuletzt an die Tiraden Thomas Bernhards erinnert, vorgetragen allerdings nicht von einem Geistesmenschen mit Narrenkappe, sondern von einem alten Mann, der es satt hat, ein Hanswurst zu sein. Wenngleich dieser Alte im Rückblick auf sein "langes Sterben" unmittelbar lediglich die eigene kleine Welt beschimpft, seine Familie und das Haus, das sich Heim nennt, zielt er mit seinen Vorschlägen, alle angeblich ökonomischen Lösungen noch einmal durchzurechnen und dabei auch aufzurechnen, was unter sozialen Gesichtspunkten meistens unterschlagen wird, weit darüber hinaus.- Aber es ist niemand da, der ihm zuhören würde:


Es ist wohl nur Gleichgültigkeit.
Gleichgültigkeit.
Das schlimmste aller Gefühle.
Nein, kein Gefühl.
Der absolute Mangel an Gefühl.
Gefühlskälte.
Kälte.
Tausendmal kälter
als die klirrende Kälte Sibiriens.
Kommt hinzu:
Der Gleichgültige sieht im Aufbegehren
eine Belästigung.
Kein Wunder, daß viele Figuren Mitterers die Einsamkeit nicht fürchten, sondern suchen: Nachkommen eben der schon von Anzengruber verteidigten, unter den Knüppeln der Verziehung zerbrochenen Kinder, gelegentlich auch Verwandte von Shakespeares edlem Athenienser. Zum Beispiel der "Alte" in Kein Platz für Idioten, der sich am liebsten, gemeinsam mit seinem Schützling, in seiner privaten Welt ganz eingräbt. Willi, der Meister, der ausgespielt hat, aus dem Stück Munde, bringt die Sehnsüchte und Ängste dieser Figuren auf den Punkt: "I kenn sie alle, die Berg da enten! Überall schon oben gwesen! Aber da, auf der Munde, da bin i am liabsten! I woaß gar nit, wieso. I mag sie oanfach, die Munde. [...] Manchmal hab i sogar übernachtet. Ganz still is es, hörst nur die Dohlen sausen ... Unten werds dunkel, die Liachter gehn an ... Und du bist ganz alloan da heroben. Ganz alloan. Wia auf'n Mond. Koaner kann dir was tuan. Koaner kann dir was anhaben. Schön". Am Ende wird Willi auch auf dem Gipfel der Munde von dem sozialen Netzwerk, das ihn ständig gequält hat, eingeholt; er verübt Selbstmord.
Schauplatz des Stückes Kein schöner Land, das im folgenden ausführlicher vorgestellt werden soll, ist ein überschaubares soziales Gebilde, ein zunächst nicht näher bezeichnetes Dorf. Weil Abstraktion ein erster Schritt zur Verbrämung des Dargestellten wäre, der Autor jedoch Genauigkeit im Detail über alles stellt, wird sehr schnell deutlich, schon aufgrund des Dialekts, obwohl er (wie in den allermeisten Mitterer-Stücken) ziemlich geglättet ist, daß dieses Dorf in Tirol liegt, im sogenannten "Heiligen Land"; in einem schönen Land also. Der Viehhändler Stefan Adler, der Held des Stückes, kennt kein "schöner's". Er kann sich deshalb nicht entschließen, die Heimat zu verlassen, obwohl fast alles, was sich da zuträgt, ganz und gar nicht anheimelnd, vielmehr widerwärtig wirkt.
Die dargestellte Zeit erstreckt sich von 1933 bis 1945. 13 Bilder. Die erste Szene spielt im Herbst 1933; im Hintergrund, auf einem Berghang, wird aus Fackeln ein Hakenkreuz gesteckt. Die siebente Szene, das Mittelstück, findet im September 1939 statt, unmittelbar nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die letzte Szene spielt wieder in Österreich, wenige Tage nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft, nach der Befreiung.
Der Handlungsablauf ist bald erzählt (sofern man ihn verkürzt auf die Geschichte des Viehhändlers Stefan Adler, die im Mittelpunkt der Handlung steht): Adler, ein allseits angesehenes Mitglied der Dorfgemeinschaft, schließt sich 1933 der "Bewegung", der die wichtigsten Repräsentanten des Ortes schon länger mehr oder weniger heimlich angehören oder nahestehen, an und sichert sich somit, wie es scheint, einen der ersten Plätze unter allen, die Rang und Namen haben. Seine Tochter ist mit dem Sohn des Bürgermeisters liiert, sein Sohn und der Schwiegersohn in spe sind eng befreundet; beide profilieren sich als Vorkämpfer der "Bewegung" und demgemäß für höhere Ämter. Der Bürgermeister, nur auf seinen Posten bedacht, im übrigen offensichtlich minderbemittelt, sorgt zwar für einige Aufregung in der Idylle, doch Adler stellt sich taub, obwohl er hört, was vorgeht, und blind, obwohl er sieht, was auf ihn zukommt. Denn Adler ist Jude. Als das bekannt wird, nach dem "Anschluß", verliert der früher oft beschworene Gemeingeist des Dorfes endgültig seine Maske; prompt läuft die nationalsozialistische Ausgrenzungsmaschinerie eben dort, wo alles offiziell gerade noch "kohlschwarz" gewesen ist, auf Hochtouren. Adler wird, weil er sich weigert zu emigrieren, isoliert, von allen Seiten verfolgt, endlich von der Gestapo abgeholt und in ein Konzentrationslager geschleppt. Dort trifft er seinen Sohn wieder, der inzwischen unter Irreführung der Behörden einen "arischen" Erzeuger gefunden und als SS-Mann Karriere gemacht hat; jetzt allerdings umarmt der Sohn den Vater, schließlich erschießt er ihn und ebenso tötet er sich selbst.
Eine melodramatische Geschichte? Die Geschichte verweist auf einen konkreten historischen Hintergrund, den Fall des Fremdenverkehrspioniers Rudolf Gomperz aus St. Anton am Arlberg. Vieles, was zur Folgerung verleiten könnte, es sei schlecht erfunden, ist schlicht authentisch. Das Stück ist trotzdem kein Dokumentarstück, sondern ein Volksstück, das einerseits die von Kranewitter und Schönherr geprägte Traditionslinie nahtlos weiterführt und andererseits ins Umfeld der kritischen Volksstücke von Martin Sperr (vor allem der Jagdszenen aus Niederbayern) und Franz Xaver Kroetz (der 1987, im Jahr der Uraufführung von Kein schöner Land, im Bayerischen Staatsschauspiel die deutsche Erstaufführung von Stigma inszeniert) zu rücken ist.
Wichtiger als der Verlauf des Haupthandlungsstranges, der ohne weiteres später einsetzen und auch schon früher enden könnte, tatsächlich schockierend wirkt die lange Reihe von Momentaufnahmen, die erst sichtbar macht, daß die Geschichte des Juden Adler sich in einem arg verwickelten Beziehungsgeflecht abspielt. Auf diesen Bildern erscheint eine Gesellschaft, in der ausschließlich "Vormacher" (um Thomas Bernhard zu zitieren) und Mitmacher den Ton angeben: Rudolf Holzknecht, der Bürgermeister und mächtigste Gegenspieler Adlers, beherrscht die Technik, anders zu scheinen als zu sein, sogar derart perfekt, daß er anstandslos jeden Wechsel der Verhältnisse von der Ersten bis zur Zweiten Republik auf seinem Posten überlebt. Ähnlich verstehen es die Heimwehrmänner und die Kripobeamten, die 1933 noch ihre Pflicht erfüllen, indem sie die "Illegalen" jagen und verhaften, auch nach 1938 wieder das politische Ruder zu ergreifen. In einer stummen Szene läßt Mitterer schließlich einen Schützen, "in seiner schönen Tracht", eine "riesige Hakenkreuzfahne" über die Bühne tragen (KL, S. 36).- Ein Kommentar erübrigt sich.
Es sind freilich keineswegs nur die Herrschenden und ihre Helfershelfer, die als "Vormacher" agieren; die Figurenkonstellation ist nicht an ein Schwarz-Weiß-Schema gebunden. Auch Adler hält die längste Zeit seinen Kaftan gut versteckt. Zwei weitere Opfer, die am Ende mit ihm gemeinsam abgeführt und ermordet werden, der Pfarrer, der wiederholt gegen die Juden gepredigt hat, und der behinderte Sohn des NS-Ortsgruppenleiters, der seine Identität mit einer SA-Uniform verhüllt, beide sind zugleich Täter. Allein die Frauen sind als Lichtgestalten charakterisiert. Sie haben jedoch in der patriarchalisch geordneten Welt des Dorfes nichts zu sagen.
Die das Sagen haben, die können nicht miteinander reden: Dummköpfe. Wenn sie reden müßten, verfallen sie in peinliches Schweigen, oder dem Alkohol, oder auf Phrasen, die sie dann allerdings, sobald sie dazu eine Gelegenheit erhalten, in Aktionen umsetzen. Aggressive Reden provozieren aggressive Handlungen: das wird vorgeführt. Was die letzte Rede bedeutet, die der Bürgermeister im Schlußbild, schon vor dem Vorhang, im "Trachtenanzug mit rot-weiß-roter Binde" hält, um seine Mitbürger aufzufordern, die Vergangenheit auszulöschen und mit vereinten Kräften den Wiederaufbau zu befördern: darauf kann sich der Zuschauer seinen Reim selber machen.
Das zentrale Anliegen Mitterers, Mitleid zu erregen, Mitleid insbesondere mit den Ausgestoßenen, dieses Anliegen wird in Kein schöner Land erstmals überlagert, fast verdrängt von einem neuen: abzurechnen mit dem Mitläufer, der in dem dargestellten Milieu zum Katholizismus und zugleich zum Nationalsozialismus drängt. Mitterer ist in seinem Verständnis alles andere als ein "Nestflüchter". In diesem Stück markiert er gleichwohl den Abstand, der ihn auch von der Unterschicht der beinah Sprachlosen deutlich trennt. Das Verlangen nach Zugehörigkeit (so ließe sich der Subtext des Dramas zusammenfassen) ist nicht um jeden Preis zu stillen.
Patriarchalische Ordnungen, Wilde Frauen: Der verlorene Sohn aus dem Stück Heim wird von seinem Vater nicht mehr aufgenommen. Auch nicht von seiner Mutter; sie stürzt zwar, nach der Regieanweisung, "zu ihm hin, kniet sich nieder, umarmt ihn weinend, zieht ihn hoch", aber gleichzeitig überschüttet sie ihn mit einer Suada, die Mike eindringlich demonstriert, daß seine Rückkehr ein Fehler gewesen ist:
Mein Gott, Michi! Mein Gott, Michi! Daß du nur wieder da bist! Ach du! Mein Gott, du! Du weißt ja gar nicht, was ich mitgemacht hab, seit du weg bist. Furchtbar! Furchtbar, sag ich dir! Es war einfach schrecklich! Dein Brief! Entsetzlich! Ich bin sofort zusammengebrochen. [...] Deinen Brief vor Augen! Immer mußte ich ihn lesen! Wieder und wieder! Diesen schrecklichen Brief! Noch nie hab ich einen so schrecklichen Brief gelesen. So voller Vorwürfe! So voller sinnloser Vorwürfe! Auch gegen mich! Warum denn gegen mich? [...] Warum bist du weg? Ich war doch immer für dich da! Immer! Aber man muß doch auch Rücksicht nehmen! Hast du das getan? Hast du das getan? Nein, das hast du nicht! Nie hast du das! [...] Du wirst dich schon anpassen! Hauptsache, du bist wieder da!
Die Frau, die der Anpassung an die von einem Polizisten ausgeheckte Ordnung das Wort redet. Mitterer hat ihr ganz andere Frauengestalten zur Seite gestellt. Erfundene. Sagenhafte. Wie Die Wilde Frau in dem gleichnamigen Stück, die aus den Wäldern kommt, eines Tages in einer Holzfällerhütte Unterschlupf sucht, von den Männern Tag für Tag vergewaltigt wird und schließlich, ohne je ein Wort zu sagen, ein Massaker auslöst, in dem sich alle Übeltäter gegenseitig vernichten. - Auf den ersten Blick mag es scheinen, als wäre in Moid, der Zentralfigur des Stückes Stigma, eine Gegenposition zu beiden hier genannten Frauen verkörpert, ein Mittelweg zwischen 'Zivilisation' und 'Wildnis'. Tatsächlich steht dieses Mädchen, das wegen seiner Stigmatisation von allen Repräsentanten der Ordnung verfolgt wird, im Lager der "Wilden": Moid folgt Christus nach, indem sie, anders als die pragmatisierten Vertreter der Kirche, in einer Welt mitzumachen sich weigert, in der es Menschlichkeit kaum mehr gibt. Es versteht sich, daß sie nicht durchkommt; das Stück spielt schließlich in der Vormärz-Epoche. Auch sie wird vergewaltigt, sie muß eine Untersuchung, eine Teufelsaustreibung und die Exkommunikation über sich ergehen lassen und wird zuletzt "tödlich getroffen". Aber während ihr Beispiel am Ende die Mächtigen doch in Angst und Schrecken versetzt, bewegt es die Ausgestoßenen zu Phantasien und Träumen; eine "alte Dirn" spricht das Schlußwort:
Es wird erscheinen am Himmel a großes Zeichen: A Weib, umkleidet mit der Sonn, der Mond unter ihre Füaß, und auf ihrem Kopf a Kranz von zwölf Stern. Und des Weib wird anfangen zu reden, mit lauter Stimm, und wird sagen: Kommts her, Ihr Armen, kommts her, die Ihr nix geltet, kommts her, versammelts enk zum großen Mahl, um Fleisch von Königen zu fressen und Fleisch von Heerführern und Fleisch von denen, die sich mästen an enkerm Fleisch und Bluat. So wird die Frau reden, und mir wern kemmen, mit Hacken und Sicheln und Sensen, und wern ernten, was uns zuasteht.

IV.
Auf Brüche und Brücken zwischen ausgedachten und realen Lebenswelten hinzuweisen, ist immer schon eine zentrale Idee Mitterers gewesen. Träume und Visionen, vor allem Horrorszenarien nehmen deshalb in seinen Arbeiten einen breiten Raum ein, und der didaktische Zeigefinger lenkt nicht selten die dramaturgische Struktur.
Die Fiktion, die Mitterer in Sibirien entwirft, wird kurz nach der Fertigstellung des Textes von der Wirklichkeit überholt. In einem österreichischen Pflegeheim, in Lainz, wird ein Kriminalfall aufgedeckt, der die von Mitterer dargestellten trostlosen Verhältnisse völlig in den Schatten stellt; "was in Lainz passiert ist, ist viel schlimmer als das, was ich in meinem Stück beschrieben habe, nämlich der brutale Mord, den ich nicht für möglich gehalten hätte und der in meinem Stück nicht vorkommt. Alles andere kommt vor". Es "kommt vor". Mit diesem Argument verteidigt Mitterer auch seine Piefke-Saga, die in seinem Verständnis eine satirische Auseinandersetzung mit der Tourismusproblematik unternimmt. Die ersten drei Teile dieser Serie enthalten indessen kaum kritisches Potential, sie arbeiten weit eher selbst mit jenen Klischees, die aufzusprengen sie sich offenbar bemühen. Wie sie schon auf die Aneinanderreihung romantischer Landschaftsbilder setzen, so stützen sie sich generell auf die Darstellungsprinzipien der Fernsehserien-Konvention. Sie verknüpfen die Geschichte der deutschen Unternehmerfamilie Sattmann (Mitterer hat ursprünglich für diese Serie den Titel Sattmanns Reisen vorgesehen, den viel zugkräftigeren Titel Piefke-Saga verdankt er einer Intervention von Seiten des NDR), die Geschichte einer Familie also, die in Tirol nur Natur pur und Abenteuer erleben möchte, mit der Geschichte zweier Tiroler Familien und zeigen eine Reihe von Konflikten, sie sträuben sich aber perennierend, dem Publikum (des TV-Hauptabendprogramms) bildästhetisch oder politisch härtere als die gewohnte Kost zuzumuten. Es gibt auf der einen Seite kaum überraschende Schnittfolgen, selten Parallelführungen verschiedener Kameras, keine ungewöhnlichen Einstellungsvarianten, auf der anderen Seite aber die denkbar harmlosesten Identifikationsangebote.- Allein der vierte Teil der Serie, Die Erfüllung, der wesentlich später als die ersten Folgen und unter einem neuen Regisseur verfilmt wird, denn Werner Masten übernimmt nach dem Tod von Wilfried Dotzel die Regie, sichert der Saga den Charakter der Satire.
Das Bedürfnis, in vorsichtiger Distanz zu trivialen, aber keineswegs in deutlicher Differenz zu außerkünstlerischen, z. B. pädagogischen oder politischen Kommunikationssystemen Botschaften zu vermitteln, sie zu illustrieren, schlägt in der Piefke-Saga am stärksten durch, ist aber in vielen Werken Mitterers präsent, einmal mehr einmal weniger an der Oberfläche. Manche Werke verlieren durch solche Impfung alle Kanten: Das Theaterstück Das wunderbare Schicksal, das auf die Autobiographie des Wanderhändlers und Hoftyrolers Peter Prosch zurückverweist (Leben und Ereignisse des Peter Prosch, eines Tyrolers von Ried im Zillerthal, oder das wunderbare Schicksal, München 1789), hat dem Handlungsverlauf nach mit der Piefke-Saga nichts gemein (vom Schauplatz Zillertal einmal abgesehen); es läßt gleichwohl am Ende kaum andere Assoziationen zu als der TV-Film, weil es ebenfalls auf der 'Predigt' insistiert, daß das Sich-Ducken vor den Mächtigen, konkret die im Zeichen des Fremdenverkehrs selbstauferlegte Prostitution zwar da und dort eine Hebung des Wohlstands bringen mag, aber gleichzeitig mit Sicherheit die Vermurung der Natur und nicht zuletzt der Herzen überall heraufbeschwört.
In Texten, die sich ausdrücklich an Kinder wenden, ist dieses Verfahren legitim. Mitterers erstes Kinderbuch, Superhenne Hanna (1977), hat sich denn auch als Bestseller entpuppt; und Das Fest für Krokodile (Uraufführung 1994 in Wien, durch das Theater Schrille Stille), ein Theaterstück für Kinder, das in eine Anti-Märchenwelt hineinführt, in eine Welt, in der alle einander nur bekämpfen und niemand mehr auf den Plan tritt, das dicke Eis der überall um sich greifenden Gefühlskälte aufzubrechen, würde es verdienen nachgespielt zu werden.- Doch in Texten, die sich beispielsweise in theologische Diskurse einmischen, sind literarische 'Predigten' eher fehl am Platz. Krach im Hause Gott (1994), ein "modernes Mysterienspiel", in dem vor allem billige Kalauer den Ton angeben, erhebt sich in keiner Passage über das Niveau einer nichtendenwollenden, Langeweile ausstrahlenden Talkshow.
I leb fürs Theater! I bin fürs Theater auf die Welt kommen! In mir hats immer nur oans geben: Theater! Dafür bin i weg, aus meine Berg, denen i jetzt schon jeden Tag nachrear, dafür bin i weg aus mein Hoamatland Tirol, des mei ein und alles is, habs vertauscht mit der Großstadt, wo i mi fürcht, vor de vielen Leut, vor die Automobile, wo i Schädelweh kriag von dem Lärm und dem Gstank, wo i koan Menschen kenn, wo di koaner griaßt, wo's koa Gras gibt und koane Küah und koan gscheiten Schnaps! [...] Schauspieler sein, den Menschen was zoagen, den Menschen was beibringen, aber ohne, daß sie's merken, oanfach mit guate Stückeln sie a bißl weiterbringen! Des is Gottesdienst, was mir da machen [...].
Was Benedikt Höllrigl alias Arthur Kirsch, der fiktive Doppelgänger des Schauspielers Leo Reuß und Held des Theaterstücks In der Löwengrube (1998) in diesem Ausbruch mitteilt, augenzwinkernd und doch todernst, dürfte sich mit Mitterers Programm, Theater "für das Volk" zu machen, weitgehend decken; daß Kirsch, der alle Sprachregister beherrscht und als Shylock, als Klosterbruder, als Tell, in jeder Rolle seine Konkurrenten an die Wand spielt, dieses sein Geständnis in einem stilisierten Tiroler Dialekt vorträgt, ist ein sicheres Indiz. Die Konkretisierung seines Programms aber ist Mitterer, gerade in den neunziger Jahren, nicht immer wunschgemäß gelungen. Auch nicht in diesem Reuß-Stück, auch nicht in seinem Stück Die Frau im Auto (1998), in dem er ein weiteres Mal einen historisch verbürgten Fall behandelt, um (so Mitterer) "zu zeigen, wie wenig manchmal Recht und Gesetz mit Gerechtigkeit zu tun haben und wie leicht es passieren kann, daß jemand - uninformiert, hilflos um sich schlagend - im Kampf gegen die Behörden untergeht". In beiden Arbeiten zerreißt der Zeigefinger nicht das längst verdorbene alte Schwarz-Weiß, sondern das poetische Netz, bevor es gesponnen ist. 

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