Felix Mitterer, Stücke 3 Innsbruck: Haymon, 2001, 416 Seiten
Der jüngste Band der Felix Mitterer-Ausgabe enthält die bislang letzten, nicht seine besten Stücke: Das wunderbare Schicksal, Abraham, Krach im Hause Gott, Das Fest der Krokodile, In der Löwengrube, Die Frau im Auto, Die drei Teufel; außerdem eine Bilddokumentation, Statements des Dramatikers zu seiner Theaterarbeit und ein Werkverzeichnis sowie Hinweise auf Stücke, die der Autor selbst nicht (mehr) publizieren will: Das Spiel im Berg (Uraufführung 1992 in Altaussee, Regie: Klaus Maria Brandauer) und Die Geierwally (Uraufführung 1993 in der Tiroler Bernhardstalschlucht, Regie: Ekkehard Schönwiese). Die meisten dieser Stücke sind Auftragsstücke. Sie müssen also oder sie wollen Rücksicht nehmen, auf das und jenes, und so präsentieren sie sich denn auch: als könnte sich Literatur damit begnügen, brauchbare Ideen auf weiße Fahnen zu heften. Kein Wunder, daß Mitterer inzwischen selbst mit dem und jenem, namentlich mit dem Schwarz-Weiß nicht mehr ganz einverstanden ist. Merkwürdig ist indessen, daß auch diese Stücke aus dem Mitterer-Steinbruch, wenn sie nur recht behauen werden, glänzen können; das bestätigen Regisseure, das bestätigen auch Übersetzerinnen; zuletzt Tatjana Fedjaewa aus St. Petersburg, die Abraham ins Russische überträgt, und Regula Rohland de Langbehn aus Buenos Aires, die Die Frau im Auto in einer spanischen Version herausbringt. - Es gibt gute Gründe, zurückzuschauen auf die Zusammenhänge zwischen diesen jüngsten und den früheren Stücken Mitterers (die ja nie unumstritten gewesen sind).
I. Das erste Mitterer-Stück erlebte am 15. September 1977 in einem Innsbrucker Wirtshaus seine Premiere, nämlich im Breinößl, wo die Volksbühne Blaas ihre Heimstatt und ein Stammpublikum hatte, das in der Regel nichts anderes als harmlose Schwänke sehen wollte. Kein Platz für Idioten, ursprünglich als Hörspiel verfaßt, erst nachträglich, und zwar speziell für die traditionsreiche Innsbrucker Volksbühne als Theaterstück eingerichtet, brachte, inszeniert von Josef Kuderna, nicht nur dem Autor, sondern auch dem Schauspieler Mitterer, der die Hauptrolle spielte, einen Erfolg, der die kühnsten Erwartungen übertraf. Es wurde sogleich in Wien nachgespielt, auf einer Deutschlandtournee gezeigt, von mehreren Fernsehstationen aufgezeichnet (ORF, SRG, NDR, RAI) und schließlich in andere Dialekte und in diverse Fremdsprachen übersetzt. Mitterer erhielt eine Flut von Einladungen, spielte in rund 250 Aufführungen seinen Idioten, bekam ein Dramatikerstipendium des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst in Wien und gewann den ersten Preis der Landeshauptstadt Innsbruck für dramatische Dichtung; er konnte seinen Arbeitsplatz am Zollamt Innsbruck aufgeben. Das Stück, die Geschichte eines jungen Behinderten, der einzig und allein von einem älteren Mann beschützt und aufgenommen und endlich dennoch aus dem Verbund der Dorfgemeinschaft in eine Nervenheilanstalt abgeschoben wird, folgt im dramaturgischen Konzept einer Volksstücktradition, als deren Ahnherr Ludwig Anzengruber zu nennen ist. In einer engmaschigen Konfiguration, in der die Figuren weithin als Typen erscheinen, zeigt Kein Platz für Idioten, exakt 100 Jahre später als Das vierte Gebot, daß die Dynamik des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels, hier im besonderen die enorme Entwicklung des Tourismus, nach wie vor serienweise Probleme produziert, die von der Gesellschaft den Einzelnen, namentlich den Schwächsten aufgebürdet werden. Wie schon Anzengruber propagiert auch Mitterer keine Revolte. Er bekämpft vielmehr allein individuelles Fehlverhalten, das auf der Bühne aus der allgemeinen sozialen Entwicklung zwar erklärt, aber damit keineswegs entschuldigt wird. Denn die Aufklärung über die Möglichkeit, Menschlichkeit zu beweisen, das Leben in jeder erdenklichen Konfliktsituation nach ethischen Maßstäben zu gestalten, ist ihm weiterhin das wichtigste Anliegen. Die ungeheure Resonanz, die dieses Stück ausgelöst und die wohl auch den Autor überrascht hat, auf den ersten Blick tatsächlich verwunderlich, ist nur zu verstehen, wenn auch das Voraussetzungssystem ins Blickfeld kommt, das Mitterers literarische Karriere zweifellos gefördert hat: Diese Karriere beginnt in einer Zeit, in der, spät aber doch, etliche Jahre nach der Studentenbewegung, auch in Österreich das Interesse wächst, die kritischen Stimmen jüngerer Autorinnen und Autoren wenigstens wahrzunehmen, vor allem sofern sie nicht allzu radikal gesellschaftliche Erneuerungen einfordern. Die in der Nachkriegszeit dominanten politischen Sprach- und Denkregelungen verlieren ihre Strahlkraft, und zumindest im kulturellen Bereich setzen sich die unterschiedlichsten Bemühungen, eine Gegensprache gegen die Sprache der Macht zu etablieren, allmählich durch. Transformationen des Heimatromans, die sogenannten Anti-Heimatromane, erweisen sich geradezu als Schlager. Die Heimat, als Raum bitterer Erfahrungen, als sozialer Ort, aus dem die jungen Menschen, vielfach zur Sprachlosigkeit verurteilt, wollen sie nicht ganz an den Rand gedrängt werden, flüchten müssen, wird neu vermessen: von Peter Handke (Wunschloses Unglück, 1972), Franz Innerhofer (Schöne Tage, 1974; Schattseite, 1977), Elfriede Jelinek (Die Liebhaberinnen, 1975), Gernot Wolfgruber (Auf freiem Fuß, 1975; Herrenjahre, 1976; Niemandsland, 1978), von Alois Brandstetter, Barbara Frischmuth, Reinhard P. Gruber, Michael Scharang, Josef Winkler und anderen. Gleichzeitig bemühen sich immer mehr Autorinnen und Autoren ebenso wie einzelne Gemeinden, politische und literarische Diskurse enger zu verschränken und damit der Literatur zu einer breiteren Öffentlichkeit zu verhelfen; der Kulturverein Forum Rauris, der Veranstalter der Rauriser Literaturtage, ist in diesem Zusammenhang nur das bekannteste Beispiel. - Die Horváth-Renaissance schließlich und die Entwicklung des sogenannten Neuen Volksstücks, die in den späten sechziger Jahren einsetzt, in Bayern mit den ersten Stücken von Franz Xaver Kroetz und Martin Sperr, in Österreich mit den aufsehenerregenden Debuts von Wolfgang Bauer und Peter Turrini, tragen ganz wesentlich dazu bei, daß das erste Mitterer-Stück sofort und nicht nur in der Region Tirol auf hochgespannte Erwartungen stößt. Einen günstigeren Zeitpunkt, sein erstes Stück zu präsentieren, hätte Mitterer also kaum wählen können. Weit wichtiger allerdings war, daß er den neuen Strömungen, obwohl sie die Rezeption seiner Arbeit stark vorantrieben, sich gleichzeitig entzog. Er verzichtete darauf, sich den nonkonformistischen Außenseitergestus anzueignen, den nicht wenige Repräsentanten der kritischen Heimatliteratur für ein Gütesiegel hielten. Er verzichtete darauf (bei aller Polemik, die er unmißverständlich vorbrachte, wo sie ihm angemessen schien), Figuren zu denunzieren und damit den Spieß der alten Heimatliteratur, die nur beschönigte, im Sog der neuen Heimatliteratur, die gern schwarzmalte, einfach umzudrehen. Er verzichtete schließlich auch darauf, an die Strategien des Schocktheaters anzuknüpfen, die trotz permanenter Verschärfung, trotz permanenter Ausweitung der Tabu-Grenzen, gerade in den siebziger Jahren, sehr bald ins Leere liefen. "Ich mach ja nicht Volkstheater, um dem Volk auf den Schädel zu hauen und es aus dem Theater zu vertreiben. Ich mache Theater nicht gegen, sondern für das Volk." In zahllosen Interviews bekräftigte Mitterer dieses sein Programm. In der ersten Szene des Stückes Kein Platz für Idioten fällt lange Zeit kein einziges Wort. Der Titelheld, der sein Gesicht unter einer Maske verbirgt, sucht sich in einer Bauernstube einen Platz, dreht den Fernseher an, setzt sich auf den Boden. Dann hört er Schritte, schaut sich nach einem Versteck um und kriecht endlich unter den Tisch. - Mitterer vertraut nicht in erster Linie auf die Kraft des Wortes, des literarisierten Theaters, er vertraut stattdessen auf die Kraft des Bildes und bemüht sich aus diesem Grund, die Tradition des theatralischen Theaters, die Ästhetik des alten Volksstücks weiterzuführen. Es war demnach konsequent, daß er von allem Anfang an den Kontakt zur Volksbühne suchte, zu deren Revitalisierung er beitragen wollte. Es war jedoch keineswegs vorauszusehen, daß die Rechnung aufgehen würde, wie sie aufging: Während Kein Platz für Idioten in einem nicht sonderlich renommierten Gasthaus, das den Ansturm auf die Theaterkarten kaum zu bewältigen vermochte, über die Bühne ging, spielte das Tiroler Landestheater Das vierte Gebot, und an der Innsbrucker Kellerbühne, im Theater am Landhausplatz, wurde das Kroetz-Stück Stallerhof aufgeführt. Das Stammpublikum der Volksbühne besuchte weder das Landestheater noch das Kellertheater; jenes galt als Tempel des Bildungsbürgertums, dieses war der Treffpunkt der Studierenden. Nach den ersten Aufführungen des Mitterer-Stücks aber kamen auch die Abonnenten des Landestheaters und des Kellertheaters ins Breinößl.
II. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden. Mitterer wurde 1948 in Achenkirch in Tirol geboren. Sein Vater war, so erzählte es ihm jedenfalls, viel später, seine Mutter, ein rumänischer Flüchtling, die Mutter eine verwitwete Kleinbäuerin. Sie behielt das Kind nicht bei sich; es wurde von einem Landarbeiter-Ehepaar adoptiert. Mitterer wuchs in der Umgebung von Kitzbühel und Kirchberg auf, besuchte acht Jahre die Volksschule, anschließend vier Jahre die Lehrerbildungsanstalt in Innsbruck, brach aber schließlich, gezwungenermaßen, das Studium ab. Mehr als zehn Jahre lang arbeitete er am Zollamt in Innsbruck, daneben begann er, ab 1970, zu schreiben: Erzählungen, die in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt, und Hörspiele, die vom ORF gesendet wurden. Mitterer folgt also keineswegs einem modischen Trend, sondern eigenen Erkundungen, wenn er in seinen ersten literarischen Arbeiten von Außenseitern berichtet, von gedemütigten, alleingelassenen, vergessenen Menschen, die kaum einmal agieren, nur hilflos oder auch aggressiv reagieren können auf die kalte, mehr oder weniger teilnahmslose Umwelt. Seine fiktiven Biographien sind durchaus realen Lebensläufen nachgezeichnet, die Geschichten wollen als wirklichkeitsgetreue Abbildungen des Lebens der Randständigen aufgefaßt und beurteilt werden. - Der Autor hat sie später in dem Band An den Rand des Dorfes (1981) gesammelt. Im Bann der Resonanz des ersten Bühnenstücks riskiert Mitterer ein doppeltes Experiment. Er verläßt die Institution Volksbühne, übernimmt einen Auftrag des Wiener Theaters in der Josefstadt, ein Stück zu schreiben, das im Rahmen des Avantgarde-Festivals Steirischer Herbst 1980 aufgeführt werden soll, und wendet sich darüber hinaus einem neuen Thema zu. Das Stück Veränderungen, ein Thesenstück über die Zerstörung der Natur durch die Computertechnologie, beschert ihm einen Achtungserfolg und zudem die Einsicht, in thematischer und in dramaturgischer Hinsicht sich auf derartige Wagnisse nicht weiter einzulassen; "ich hab versucht, davon wegzugehen, und wirklich von einem Ereignis, von Menschen, von einer Geschichte [...] auszugehen". Mitterer kehrt also schnell zu seinem Erfolgskonzept zurück. Das Stück Veränderungen aber zieht er aus dem Handel. Die Tiroler Volksschauspiele, die 1981 zum ersten Mal in Hall und ab 1982 in Telfs organisiert werden, bieten Mitterer eine neue Plattform, als Schauspieler, als Autor und auch als Mitveranstalter aufzutreten. Seine eigene Produktion erhält aus dieser Arbeit, namentlich aber aus der intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk der beiden Tiroler Dramatiker Franz Kranewitter (1860-1938) und Karl Schönherr (1867-1943) kräftige Impulse. Im ersten Programmschwerpunkt der Tiroler Volksschauspiele, in Kranewitters Einakter-Zyklus Die sieben Todsünden (1902-1925) geht es um eine detaillierte Aufzeichnung der todbringenden Redeweisen und Verhaltensnormen in einer topographisch wie mentalitätsmäßig verschlossenen Dorfgemeinschaft, in einer Gemeinschaft, in der jeder bestrebt ist, bestrebt sein muß, durch sein Eigentum, durch Vermögenswerte Ansehen zu erringen bzw. zu bewahren, und in der jeder sich im übrigen nur darum kümmert, sowohl wirtschaftliche wie auch psychische Probleme in seiner Privatsphäre einzuschließen und seine wahren Empfindungen hinter einem Panzer zu verbergen. In einer solchen Gemeinschaft, zeigt der Zyklus, gedeihen Frustrationen, woher immer auch sie kommen, bis sie umkippen in Mord und Totschlag. - ORF-Intendant Wolf In der Maur veranstaltete 1981 einen Werbefeldzug für das "große" österreichische Volksstück in der Absicht, im Fernsehen einen Gegenpol zur trivialen Schwankliteratur zu installieren. Die neue Serie startete mit Kranewitters Todsünden-Zyklus, mit einer Aufzeichnung der Haller Inszenierung. Der Direktor des Wiener Volkstheaters, Paul Blaha, unterstützte diese Initiative: Volkstheater müsse, wenn es bestehen wolle, "aggressiv" sein, meinte er in einer Fernseh-Diskussion, es sei deshalb richtig gewesen, die neue Volksstück-Reihe gerade mit Kranewitter zu eröffnen. Mitterer hatte für diese Inszenierung Zwischentexte verfaßt und sie im Kostüm eines Moritaten-Sängers auch selbst vorgetragen. Anders als nach dem mißglückten Grazer Experiment sah er jetzt nach der ersten Zwischenbilanz der Tiroler Volksschauspiele seinen Kurs bestätigt. Einflußreiche Theatermacher und nicht zuletzt das Fernsehen standen auf seiner Seite. Er konnte auf seiner thematischen Spur bleiben und zugleich weit über die Grenzen der alten Volksbühnen hinaus ein neues Publikum gewinnen. Sein nächstes Stück, Stigma (das in der Zeit um 1830 angesiedelte Spiel um eine Dienstmagd, die wegen religiöser Schwärmerei zwischen die Mühlen der Kirche und der Wissenschaft gerät) wurde 1982 in Telfs uraufgeführt, nachdem der Bürgermeister der Stadt Hall, in der schon alles für die Fortsetzung der Tiroler Volksschauspiele vorbereitet war, die Aufführung verboten hatte. Die Gerüchte, die rund um die Premiere schwirrten, häufig war von Gotteslästerung die Rede, führten zu Demonstrationen, Wallfahrten, Bombendrohungen; diese Reaktionen wiederum zu einem eklatanten Besucherandrang. Was immer Mitterer im darauf folgenden Jahrzehnt in Angriff nahm, es wurde von den Medien aufmerksam verfolgt und nicht selten Gegenstand heftiger Kontroversen. Mit dem Einakter Karrnerleut 83 (1983 erstmals aufgeführt in Telfs; später, 1987, neugefaßt unter dem Titel Heim) nahm Mitterer explizit Bezug auf ein bekanntes Schönherr-Stück, mit der Einakter-Reihe Besuchszeit kehrte er noch einmal zurück zum zentralen Vorwurf von Kein Platz für Idioten; das Theater "Die Tribüne", das schon die Wiener Erstaufführung dieses seines ersten Stücks besorgt hatte, übernahm auch die Uraufführung von Besuchszeit (1985). Mitterer erhielt Aufträge über Aufträge, er schrieb die Theaterstücke: Die Wilde Frau (Uraufführung 1986 im Innsbrucker Kulturgasthaus "Bierstindl"), Drachendurst (Uraufführung 1986 im Rahmen der Telfer Volksschauspiele), Kein schöner Land (Uraufführung 1987 am Tiroler Landestheater), Verlorene Heimat (ebenfalls 1987, am Dorfplatz von Stumm im Zillertal aufgeführt), Die Kinder des Teufels (Uraufführung 1989 am Münchner Theater der Jugend), Sibirien (Uraufführung 1989 in Telfs; Wiener Erstaufführung am Akademietheater, Inszenierungen u.a. in Bonn, München, Frankfurt, Prag, Kopenhagen, Los Angeles), Munde (1990 erstmals aufgeführt auf dem Gipfel der Hohen Munde, im Rahmen der Telfer Volksschauspiele), Ein Jedermann (Uraufführung 1991 am Theater in der Josefstadt), Das Spiel im Berg (Uraufführung im Salzbergwerk Altaussee 1992) und Das wunderbare Schicksal (Uraufführung 1992 wiederum im Rahmen der Tiroler Volksschauspiele). Daneben bereitete er weiterhin Rundfunk- und Fernsehproduktionen vor, darunter die Drehbücher: Der Narr von Wien, eine Peter Altenberg-Biographie, Die fünfte Jahreszeit, eine Fernsehserie über die Zerstörung traditioneller Lebensformen, Erdsegen, nach einem Peter Rosegger-Roman, Das rauhe Leben, nach dem autobiographischen Roman des Arbeiterdichters Alfons Petzold, Verkaufte Heimat, eine Südtiroler Familiensaga, die in die Zeit des Faschismus und der Option zurückführt, und schließlich sein bekanntestes Werk, die Piefke-Saga (1989-1992). Der Stigma-Skandal lag erst zehn Jahre zurück, aber Mitterer war bereits ein Lesebuch-Autor: 1992 veröffentlichte der Haymon-Verlag die ersten beiden Bände der jetzt auf drei Bände erweiterten Gesamtausgabe. Als die ersten Besprechungen erschienen und alle Welt noch über die Piefke-Saga diskutierte, die im Jänner 1993 in Österreich wie in Deutschland erstmals komplett über die Bildschirme laufen durfte, war Mitterer allerdings längst mit einem neuen heißen Eisen vollauf beschäftigt. Am Landestheater Linz sollte im Rahmen des Festivals der Regionen sein "Stück über eine Liebe" Abraham zur Uraufführung gelangen.
III. Im Zentrum der Erzählung über Abrahams Opfer - Genesis 22, 1-19 - steht Abraham selbst. Isaak, der Sohn, der einzige, den der Vater liebt, muß sich ebenso mit einer Nebenrolle begnügen wie der Engel des Herrn oder auch der Widder, den Abraham am Ende statt seines Sohnes als Brandopfer darbringt. Dieselbe Figurenkonstellation zeigt das Gemälde "Abrahams Opfer" aus der Sammlung Janina und Zbigniew Carroll-Porczynski, das Michelangelo da Caravaggio zugeschrieben wird und sich seit einigen Jahren in der Galerie "Johannes Paul II." in Warschau befindet: in der Bildmitte Abraham, unter ihm, am Boden, d.h. eigentlich auf dem Altar, hilflos, den Mund aufgerissen, als möchte er schreien, der Sohn, am linken Bildrand der Engel, am rechten Bildrand der Widder. - In Mitterers Abraham ist alles anders. Hier gerät der Sohn in den Mittelpunkt, hier wird er, nachdem weder ein rettender Engel noch ein Widder auftaucht, vom Vater, der sonst mehr am Rand steht, getötet. Eine Konstellation, die Mitterers Handschrift verrät. In der Mitte das Opfer: Peter ist Architekt, könnte alles gewinnen, was zu gewinnen ist, und geht dennoch elend zugrunde. Keineswegs zwangsläufig, aber ebensowenig ganz zufällig. Denn nicht anders als sein Vater hält auch er selbst seine homosexuelle Veranlagung für sündhaft oder jedenfalls unstatthaft in einer Gesellschaft, die eisern an den Gesetzen des Katholizismus weiter festhält, obwohl unter der Decke der Normen, der sogenannten Normalität, nicht mehr viel stimmt; auf dem Land aber gilt es, den Schein zu wahren. Dann der Vater des Opfers: Max, ein Baumeister, kein Ungeheuer, schwankend zwischen Zuneigung, die er trotz allem für seinen Sohn noch empfindet, und Brutalität, einer Hartherzigkeit, die aus Halbherzigkeit herrührt und im übrigen aus dem Allgemein-Üblichen gleichsam ihre Ermächtigung ableitet. Im Umfeld ein Pfarrer, der Aids als die neueste Geißel Gottes betrachtet, und etliche, zumeist traurige Ritter, teils auf dem Land wohnhaft, teils in der Stadt, wo es vielleicht eher ehrlich, gleichwohl schlimm genug zugeht. Wie fast immer, greift Mitterer in diesem Stück einen konkreten Fall auf, nicht ohne ihn, Szene für Szene, zuzuspitzen und zeitweise ins Mythische zu überhöhen. Nicht nur durch Anspielungen auf die Bibel; gelegentlich ist, laut Regieanweisung, sogar Meeresrauschen zu vernehmen, obgleich sich die Geschichte offensichtlich in Österreich abspielt. So aber weist das Stück, über den Anlaßfall hinaus, auf außergewöhnliche wie auf gemeine Beziehungen, auf alte wie auf neue Regelungen von Beziehungen, als gäbe es immer noch eine Spur Hoffnung, daß Theater da und dort in den Köpfen und Herzen Jammer und Schauder erregen und damit aufrüttelnd wirken könnte. Der Anstoß: Gefühlskälte. Mitterer geht, wie schon angedeutet, gern von einem realen Anlaßfall aus - und ihm nach. Vorurteile, Haltungen, Einstellungen, die ihm dabei in die Quere kommen, werden in die Konzeption des Stückes integriert und einander gegenübergestelllt, ohne daß in jedem Fall von vornherein schon ausgemacht wäre, wofür und wogegen sich der Autor ausspricht. In einem Tiroler Fremdenverkehrsort wird eines Tages eine Frau aus einem Gasthaus gewiesen, weil sie ihr behindertes Kind bei sich hat und das den Wirt stört. Das ist der Anstoß zu Mitterers erstem Stück Kein Platz für Idioten. In dem Einakter-Zyklus Besuchszeit, dessen Szenen in dunklen Anstalten spielen, in einem Altersheim, in einem Gefängnis, in einer Nervenheilanstalt und in einem Krankenhaus, weisen sogar alle Figuren auf reale Vorbilder zurück; unter diesen Vorbildern finden sich auch die Adoptiveltern des Autors. In dem eben zitierten Abraham-Stück schließlich verhält es sich nicht viel anders; die erste Anregung dazu erhält Mitterer aus dem Bericht eines Aidskranken, kurz vor dessen Tod. Es ist nicht schwer festzustellen, was die verschiedenen 'Fälle' miteinander verbindet. Im Mittelpunkt stehen beinah immer die Ausgestoßenen, die sogenannten Idioten. Wie die Magd Moid in Stigma, die sich an den Gekreuzigten klammert, der Ausreißer Mike in Heim, der unter seiner homosexuellen Veranlagung leidende Peter in Abraham. Eine lange Reihe von Figuren, die abgeschoben, vergewaltigt, umgebracht werden. Sie erscheinen im Mittelpunkt einer Gesellschaft, die alles andere, nur diese Figuren nicht im Mittelpunkt sehen möchte und der es am liebsten wäre, wenn ihre Welt bleiben könnte wie sie ist. Weil sich Mitterer auf die Seite der Ausgestoßenen stellt, beleuchtet er die Rituale der Ausgrenzung, der Folterung, der Auslöschung aus deren Perspektive. Es ist jedoch hervorzuheben, daß er auch die Täter nicht selten als arme Teufel charakterisiert; sind doch auch sie, wie das am drastischsten in Ein Jedermann zum Vorschein kommt, kommen soll, eingesperrt in einer Welt, deren Gefühlskälte, nicht anders als in der Welt der Volksstücke von Kranewitter oder Schönherr, nur die Aggressivität fördert. "Aus jeder Illustrierten", heißt es in dem Einakter Verbrecherin, spritzt "Gift". In Weizen auf der Autobahn wittert der in eine Nervenheilanstalt abgeschobene "Alte" eine neue Weltverschwörung: "Eine Verschwörung von a paar tausend Leut, die die ganze Welt zuabetonieren wollen, mit elektrische Dräht überziagen wollen, mit die Abgase und Abwässer vergiften wollen. [...] I nenn sie die Elektrischen. Sie ham koa Herz im Leib und koa Hirn im Kopf". Das ist die Perspektive von Figuren, nicht unbedingt gleichzeitig die Perspektive des Autors. Aber daß ihm eine Welt vorschwebt, in der solche Behauptungen ganz unsinnig erscheinen müssen, wird daraus evident. Sibirien, das inzwischen wahrscheinlich erfolgreichste Mitterer-Stück, ist eine einzige Abrechnung mit der realen Welt. Der Inhalt, so Mitterer, "ist eigentlich in einem Satz erzählt: ein alter Mann in einem Pflegeheim, seiner Menschenwürde beraubt, zum entwürdigten Sterben verurteilt. Und er empfindet das schlimmer als seine Kriegsgefangenschaft in Sibirien, aus der er ja zurückgekehrt ist. Und er weiß, aus diesem Pflegeheim wird er nicht mehr zurückkehren. Und er kämpft um zumindest einen würdigen Tod. Und das schafft er auch". Eine einzige Abrechnung. Ein Monolog, der an die Reden des Timon von Athen, an Molières "Misanthrope" und nicht zuletzt an die Tiraden Thomas Bernhards erinnert, vorgetragen allerdings nicht von einem Geistesmenschen mit Narrenkappe, sondern von einem alten Mann, der es satt hat, ein Hanswurst zu sein. Wenngleich dieser Alte im Rückblick auf sein "langes Sterben" unmittelbar lediglich die eigene kleine Welt beschimpft, seine Familie und das Haus, das sich Heim nennt, zielt er mit seinen Vorschlägen, alle angeblich ökonomischen Lösungen noch einmal durchzurechnen und dabei auch aufzurechnen, was unter sozialen Gesichtspunkten meistens unterschlagen wird, weit darüber hinaus.- Aber es ist niemand da, der ihm zuhören würde:
Es ist wohl nur Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit. Das schlimmste aller Gefühle. Nein, kein Gefühl. Der absolute Mangel an Gefühl. Gefühlskälte. Kälte. Tausendmal kälter als die klirrende Kälte Sibiriens. Kommt hinzu: Der Gleichgültige sieht im Aufbegehren eine Belästigung. Kein Wunder, daß viele Figuren Mitterers die Einsamkeit nicht fürchten, sondern suchen: Nachkommen eben der schon von Anzengruber verteidigten, unter den Knüppeln der Verziehung zerbrochenen Kinder, gelegentlich auch Verwandte von Shakespeares edlem Athenienser. Zum Beispiel der "Alte" in Kein Platz für Idioten, der sich am liebsten, gemeinsam mit seinem Schützling, in seiner privaten Welt ganz eingräbt. Willi, der Meister, der ausgespielt hat, aus dem Stück Munde, bringt die Sehnsüchte und Ängste dieser Figuren auf den Punkt: "I kenn sie alle, die Berg da enten! Überall schon oben gwesen! Aber da, auf der Munde, da bin i am liabsten! I woaß gar nit, wieso. I mag sie oanfach, die Munde. [...] Manchmal hab i sogar übernachtet. Ganz still is es, hörst nur die Dohlen sausen ... Unten werds dunkel, die Liachter gehn an ... Und du bist ganz alloan da heroben. Ganz alloan. Wia auf'n Mond. Koaner kann dir was tuan. Koaner kann dir was anhaben. Schön". Am Ende wird Willi auch auf dem Gipfel der Munde von dem sozialen Netzwerk, das ihn ständig gequält hat, eingeholt; er verübt Selbstmord. Schauplatz des Stückes Kein schöner Land, das im folgenden ausführlicher vorgestellt werden soll, ist ein überschaubares soziales Gebilde, ein zunächst nicht näher bezeichnetes Dorf. Weil Abstraktion ein erster Schritt zur Verbrämung des Dargestellten wäre, der Autor jedoch Genauigkeit im Detail über alles stellt, wird sehr schnell deutlich, schon aufgrund des Dialekts, obwohl er (wie in den allermeisten Mitterer-Stücken) ziemlich geglättet ist, daß dieses Dorf in Tirol liegt, im sogenannten "Heiligen Land"; in einem schönen Land also. Der Viehhändler Stefan Adler, der Held des Stückes, kennt kein "schöner's". Er kann sich deshalb nicht entschließen, die Heimat zu verlassen, obwohl fast alles, was sich da zuträgt, ganz und gar nicht anheimelnd, vielmehr widerwärtig wirkt. Die dargestellte Zeit erstreckt sich von 1933 bis 1945. 13 Bilder. Die erste Szene spielt im Herbst 1933; im Hintergrund, auf einem Berghang, wird aus Fackeln ein Hakenkreuz gesteckt. Die siebente Szene, das Mittelstück, findet im September 1939 statt, unmittelbar nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die letzte Szene spielt wieder in Österreich, wenige Tage nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft, nach der Befreiung. Der Handlungsablauf ist bald erzählt (sofern man ihn verkürzt auf die Geschichte des Viehhändlers Stefan Adler, die im Mittelpunkt der Handlung steht): Adler, ein allseits angesehenes Mitglied der Dorfgemeinschaft, schließt sich 1933 der "Bewegung", der die wichtigsten Repräsentanten des Ortes schon länger mehr oder weniger heimlich angehören oder nahestehen, an und sichert sich somit, wie es scheint, einen der ersten Plätze unter allen, die Rang und Namen haben. Seine Tochter ist mit dem Sohn des Bürgermeisters liiert, sein Sohn und der Schwiegersohn in spe sind eng befreundet; beide profilieren sich als Vorkämpfer der "Bewegung" und demgemäß für höhere Ämter. Der Bürgermeister, nur auf seinen Posten bedacht, im übrigen offensichtlich minderbemittelt, sorgt zwar für einige Aufregung in der Idylle, doch Adler stellt sich taub, obwohl er hört, was vorgeht, und blind, obwohl er sieht, was auf ihn zukommt. Denn Adler ist Jude. Als das bekannt wird, nach dem "Anschluß", verliert der früher oft beschworene Gemeingeist des Dorfes endgültig seine Maske; prompt läuft die nationalsozialistische Ausgrenzungsmaschinerie eben dort, wo alles offiziell gerade noch "kohlschwarz" gewesen ist, auf Hochtouren. Adler wird, weil er sich weigert zu emigrieren, isoliert, von allen Seiten verfolgt, endlich von der Gestapo abgeholt und in ein Konzentrationslager geschleppt. Dort trifft er seinen Sohn wieder, der inzwischen unter Irreführung der Behörden einen "arischen" Erzeuger gefunden und als SS-Mann Karriere gemacht hat; jetzt allerdings umarmt der Sohn den Vater, schließlich erschießt er ihn und ebenso tötet er sich selbst. Eine melodramatische Geschichte? Die Geschichte verweist auf einen konkreten historischen Hintergrund, den Fall des Fremdenverkehrspioniers Rudolf Gomperz aus St. Anton am Arlberg. Vieles, was zur Folgerung verleiten könnte, es sei schlecht erfunden, ist schlicht authentisch. Das Stück ist trotzdem kein Dokumentarstück, sondern ein Volksstück, das einerseits die von Kranewitter und Schönherr geprägte Traditionslinie nahtlos weiterführt und andererseits ins Umfeld der kritischen Volksstücke von Martin Sperr (vor allem der Jagdszenen aus Niederbayern) und Franz Xaver Kroetz (der 1987, im Jahr der Uraufführung von Kein schöner Land, im Bayerischen Staatsschauspiel die deutsche Erstaufführung von Stigma inszeniert) zu rücken ist. Wichtiger als der Verlauf des Haupthandlungsstranges, der ohne weiteres später einsetzen und auch schon früher enden könnte, tatsächlich schockierend wirkt die lange Reihe von Momentaufnahmen, die erst sichtbar macht, daß die Geschichte des Juden Adler sich in einem arg verwickelten Beziehungsgeflecht abspielt. Auf diesen Bildern erscheint eine Gesellschaft, in der ausschließlich "Vormacher" (um Thomas Bernhard zu zitieren) und Mitmacher den Ton angeben: Rudolf Holzknecht, der Bürgermeister und mächtigste Gegenspieler Adlers, beherrscht die Technik, anders zu scheinen als zu sein, sogar derart perfekt, daß er anstandslos jeden Wechsel der Verhältnisse von der Ersten bis zur Zweiten Republik auf seinem Posten überlebt. Ähnlich verstehen es die Heimwehrmänner und die Kripobeamten, die 1933 noch ihre Pflicht erfüllen, indem sie die "Illegalen" jagen und verhaften, auch nach 1938 wieder das politische Ruder zu ergreifen. In einer stummen Szene läßt Mitterer schließlich einen Schützen, "in seiner schönen Tracht", eine "riesige Hakenkreuzfahne" über die Bühne tragen (KL, S. 36).- Ein Kommentar erübrigt sich. Es sind freilich keineswegs nur die Herrschenden und ihre Helfershelfer, die als "Vormacher" agieren; die Figurenkonstellation ist nicht an ein Schwarz-Weiß-Schema gebunden. Auch Adler hält die längste Zeit seinen Kaftan gut versteckt. Zwei weitere Opfer, die am Ende mit ihm gemeinsam abgeführt und ermordet werden, der Pfarrer, der wiederholt gegen die Juden gepredigt hat, und der behinderte Sohn des NS-Ortsgruppenleiters, der seine Identität mit einer SA-Uniform verhüllt, beide sind zugleich Täter. Allein die Frauen sind als Lichtgestalten charakterisiert. Sie haben jedoch in der patriarchalisch geordneten Welt des Dorfes nichts zu sagen. Die das Sagen haben, die können nicht miteinander reden: Dummköpfe. Wenn sie reden müßten, verfallen sie in peinliches Schweigen, oder dem Alkohol, oder auf Phrasen, die sie dann allerdings, sobald sie dazu eine Gelegenheit erhalten, in Aktionen umsetzen. Aggressive Reden provozieren aggressive Handlungen: das wird vorgeführt. Was die letzte Rede bedeutet, die der Bürgermeister im Schlußbild, schon vor dem Vorhang, im "Trachtenanzug mit rot-weiß-roter Binde" hält, um seine Mitbürger aufzufordern, die Vergangenheit auszulöschen und mit vereinten Kräften den Wiederaufbau zu befördern: darauf kann sich der Zuschauer seinen Reim selber machen. Das zentrale Anliegen Mitterers, Mitleid zu erregen, Mitleid insbesondere mit den Ausgestoßenen, dieses Anliegen wird in Kein schöner Land erstmals überlagert, fast verdrängt von einem neuen: abzurechnen mit dem Mitläufer, der in dem dargestellten Milieu zum Katholizismus und zugleich zum Nationalsozialismus drängt. Mitterer ist in seinem Verständnis alles andere als ein "Nestflüchter". In diesem Stück markiert er gleichwohl den Abstand, der ihn auch von der Unterschicht der beinah Sprachlosen deutlich trennt. Das Verlangen nach Zugehörigkeit (so ließe sich der Subtext des Dramas zusammenfassen) ist nicht um jeden Preis zu stillen. Patriarchalische Ordnungen, Wilde Frauen: Der verlorene Sohn aus dem Stück Heim wird von seinem Vater nicht mehr aufgenommen. Auch nicht von seiner Mutter; sie stürzt zwar, nach der Regieanweisung, "zu ihm hin, kniet sich nieder, umarmt ihn weinend, zieht ihn hoch", aber gleichzeitig überschüttet sie ihn mit einer Suada, die Mike eindringlich demonstriert, daß seine Rückkehr ein Fehler gewesen ist: Mein Gott, Michi! Mein Gott, Michi! Daß du nur wieder da bist! Ach du! Mein Gott, du! Du weißt ja gar nicht, was ich mitgemacht hab, seit du weg bist. Furchtbar! Furchtbar, sag ich dir! Es war einfach schrecklich! Dein Brief! Entsetzlich! Ich bin sofort zusammengebrochen. [...] Deinen Brief vor Augen! Immer mußte ich ihn lesen! Wieder und wieder! Diesen schrecklichen Brief! Noch nie hab ich einen so schrecklichen Brief gelesen. So voller Vorwürfe! So voller sinnloser Vorwürfe! Auch gegen mich! Warum denn gegen mich? [...] Warum bist du weg? Ich war doch immer für dich da! Immer! Aber man muß doch auch Rücksicht nehmen! Hast du das getan? Hast du das getan? Nein, das hast du nicht! Nie hast du das! [...] Du wirst dich schon anpassen! Hauptsache, du bist wieder da! Die Frau, die der Anpassung an die von einem Polizisten ausgeheckte Ordnung das Wort redet. Mitterer hat ihr ganz andere Frauengestalten zur Seite gestellt. Erfundene. Sagenhafte. Wie Die Wilde Frau in dem gleichnamigen Stück, die aus den Wäldern kommt, eines Tages in einer Holzfällerhütte Unterschlupf sucht, von den Männern Tag für Tag vergewaltigt wird und schließlich, ohne je ein Wort zu sagen, ein Massaker auslöst, in dem sich alle Übeltäter gegenseitig vernichten. - Auf den ersten Blick mag es scheinen, als wäre in Moid, der Zentralfigur des Stückes Stigma, eine Gegenposition zu beiden hier genannten Frauen verkörpert, ein Mittelweg zwischen 'Zivilisation' und 'Wildnis'. Tatsächlich steht dieses Mädchen, das wegen seiner Stigmatisation von allen Repräsentanten der Ordnung verfolgt wird, im Lager der "Wilden": Moid folgt Christus nach, indem sie, anders als die pragmatisierten Vertreter der Kirche, in einer Welt mitzumachen sich weigert, in der es Menschlichkeit kaum mehr gibt. Es versteht sich, daß sie nicht durchkommt; das Stück spielt schließlich in der Vormärz-Epoche. Auch sie wird vergewaltigt, sie muß eine Untersuchung, eine Teufelsaustreibung und die Exkommunikation über sich ergehen lassen und wird zuletzt "tödlich getroffen". Aber während ihr Beispiel am Ende die Mächtigen doch in Angst und Schrecken versetzt, bewegt es die Ausgestoßenen zu Phantasien und Träumen; eine "alte Dirn" spricht das Schlußwort: Es wird erscheinen am Himmel a großes Zeichen: A Weib, umkleidet mit der Sonn, der Mond unter ihre Füaß, und auf ihrem Kopf a Kranz von zwölf Stern. Und des Weib wird anfangen zu reden, mit lauter Stimm, und wird sagen: Kommts her, Ihr Armen, kommts her, die Ihr nix geltet, kommts her, versammelts enk zum großen Mahl, um Fleisch von Königen zu fressen und Fleisch von Heerführern und Fleisch von denen, die sich mästen an enkerm Fleisch und Bluat. So wird die Frau reden, und mir wern kemmen, mit Hacken und Sicheln und Sensen, und wern ernten, was uns zuasteht.
IV. Auf Brüche und Brücken zwischen ausgedachten und realen Lebenswelten hinzuweisen, ist immer schon eine zentrale Idee Mitterers gewesen. Träume und Visionen, vor allem Horrorszenarien nehmen deshalb in seinen Arbeiten einen breiten Raum ein, und der didaktische Zeigefinger lenkt nicht selten die dramaturgische Struktur. Die Fiktion, die Mitterer in Sibirien entwirft, wird kurz nach der Fertigstellung des Textes von der Wirklichkeit überholt. In einem österreichischen Pflegeheim, in Lainz, wird ein Kriminalfall aufgedeckt, der die von Mitterer dargestellten trostlosen Verhältnisse völlig in den Schatten stellt; "was in Lainz passiert ist, ist viel schlimmer als das, was ich in meinem Stück beschrieben habe, nämlich der brutale Mord, den ich nicht für möglich gehalten hätte und der in meinem Stück nicht vorkommt. Alles andere kommt vor". Es "kommt vor". Mit diesem Argument verteidigt Mitterer auch seine Piefke-Saga, die in seinem Verständnis eine satirische Auseinandersetzung mit der Tourismusproblematik unternimmt. Die ersten drei Teile dieser Serie enthalten indessen kaum kritisches Potential, sie arbeiten weit eher selbst mit jenen Klischees, die aufzusprengen sie sich offenbar bemühen. Wie sie schon auf die Aneinanderreihung romantischer Landschaftsbilder setzen, so stützen sie sich generell auf die Darstellungsprinzipien der Fernsehserien-Konvention. Sie verknüpfen die Geschichte der deutschen Unternehmerfamilie Sattmann (Mitterer hat ursprünglich für diese Serie den Titel Sattmanns Reisen vorgesehen, den viel zugkräftigeren Titel Piefke-Saga verdankt er einer Intervention von Seiten des NDR), die Geschichte einer Familie also, die in Tirol nur Natur pur und Abenteuer erleben möchte, mit der Geschichte zweier Tiroler Familien und zeigen eine Reihe von Konflikten, sie sträuben sich aber perennierend, dem Publikum (des TV-Hauptabendprogramms) bildästhetisch oder politisch härtere als die gewohnte Kost zuzumuten. Es gibt auf der einen Seite kaum überraschende Schnittfolgen, selten Parallelführungen verschiedener Kameras, keine ungewöhnlichen Einstellungsvarianten, auf der anderen Seite aber die denkbar harmlosesten Identifikationsangebote.- Allein der vierte Teil der Serie, Die Erfüllung, der wesentlich später als die ersten Folgen und unter einem neuen Regisseur verfilmt wird, denn Werner Masten übernimmt nach dem Tod von Wilfried Dotzel die Regie, sichert der Saga den Charakter der Satire. Das Bedürfnis, in vorsichtiger Distanz zu trivialen, aber keineswegs in deutlicher Differenz zu außerkünstlerischen, z. B. pädagogischen oder politischen Kommunikationssystemen Botschaften zu vermitteln, sie zu illustrieren, schlägt in der Piefke-Saga am stärksten durch, ist aber in vielen Werken Mitterers präsent, einmal mehr einmal weniger an der Oberfläche. Manche Werke verlieren durch solche Impfung alle Kanten: Das Theaterstück Das wunderbare Schicksal, das auf die Autobiographie des Wanderhändlers und Hoftyrolers Peter Prosch zurückverweist (Leben und Ereignisse des Peter Prosch, eines Tyrolers von Ried im Zillerthal, oder das wunderbare Schicksal, München 1789), hat dem Handlungsverlauf nach mit der Piefke-Saga nichts gemein (vom Schauplatz Zillertal einmal abgesehen); es läßt gleichwohl am Ende kaum andere Assoziationen zu als der TV-Film, weil es ebenfalls auf der 'Predigt' insistiert, daß das Sich-Ducken vor den Mächtigen, konkret die im Zeichen des Fremdenverkehrs selbstauferlegte Prostitution zwar da und dort eine Hebung des Wohlstands bringen mag, aber gleichzeitig mit Sicherheit die Vermurung der Natur und nicht zuletzt der Herzen überall heraufbeschwört. In Texten, die sich ausdrücklich an Kinder wenden, ist dieses Verfahren legitim. Mitterers erstes Kinderbuch, Superhenne Hanna (1977), hat sich denn auch als Bestseller entpuppt; und Das Fest für Krokodile (Uraufführung 1994 in Wien, durch das Theater Schrille Stille), ein Theaterstück für Kinder, das in eine Anti-Märchenwelt hineinführt, in eine Welt, in der alle einander nur bekämpfen und niemand mehr auf den Plan tritt, das dicke Eis der überall um sich greifenden Gefühlskälte aufzubrechen, würde es verdienen nachgespielt zu werden.- Doch in Texten, die sich beispielsweise in theologische Diskurse einmischen, sind literarische 'Predigten' eher fehl am Platz. Krach im Hause Gott (1994), ein "modernes Mysterienspiel", in dem vor allem billige Kalauer den Ton angeben, erhebt sich in keiner Passage über das Niveau einer nichtendenwollenden, Langeweile ausstrahlenden Talkshow. I leb fürs Theater! I bin fürs Theater auf die Welt kommen! In mir hats immer nur oans geben: Theater! Dafür bin i weg, aus meine Berg, denen i jetzt schon jeden Tag nachrear, dafür bin i weg aus mein Hoamatland Tirol, des mei ein und alles is, habs vertauscht mit der Großstadt, wo i mi fürcht, vor de vielen Leut, vor die Automobile, wo i Schädelweh kriag von dem Lärm und dem Gstank, wo i koan Menschen kenn, wo di koaner griaßt, wo's koa Gras gibt und koane Küah und koan gscheiten Schnaps! [...] Schauspieler sein, den Menschen was zoagen, den Menschen was beibringen, aber ohne, daß sie's merken, oanfach mit guate Stückeln sie a bißl weiterbringen! Des is Gottesdienst, was mir da machen [...]. Was Benedikt Höllrigl alias Arthur Kirsch, der fiktive Doppelgänger des Schauspielers Leo Reuß und Held des Theaterstücks In der Löwengrube (1998) in diesem Ausbruch mitteilt, augenzwinkernd und doch todernst, dürfte sich mit Mitterers Programm, Theater "für das Volk" zu machen, weitgehend decken; daß Kirsch, der alle Sprachregister beherrscht und als Shylock, als Klosterbruder, als Tell, in jeder Rolle seine Konkurrenten an die Wand spielt, dieses sein Geständnis in einem stilisierten Tiroler Dialekt vorträgt, ist ein sicheres Indiz. Die Konkretisierung seines Programms aber ist Mitterer, gerade in den neunziger Jahren, nicht immer wunschgemäß gelungen. Auch nicht in diesem Reuß-Stück, auch nicht in seinem Stück Die Frau im Auto (1998), in dem er ein weiteres Mal einen historisch verbürgten Fall behandelt, um (so Mitterer) "zu zeigen, wie wenig manchmal Recht und Gesetz mit Gerechtigkeit zu tun haben und wie leicht es passieren kann, daß jemand - uninformiert, hilflos um sich schlagend - im Kampf gegen die Behörden untergeht". In beiden Arbeiten zerreißt der Zeigefinger nicht das längst verdorbene alte Schwarz-Weiß, sondern das poetische Netz, bevor es gesponnen ist.
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