Hans Augustin, Aufzeichnung einer Täuschung. Roman. Kyrene 2010 Hubert Gundolf, Geschichten der Erinnerung. Eine Kindheit und Jugend in der Nazizeit. Hg. Isabella Plankensteiner. Kyrene 2010 Georg Payr, Das ewig Päpstliche zieht uns hinan. Erzählungen. Kyrene 2010 Elias Schneitter, Venedig. Jugendroman. Kyrene 2010
Innerhalb der Tiroler Verlagslandschaft ist der 2003 gegründete und von Martin Kolozs geführte Kyrene-Verlag der jüngste. Insbesondere um die junge Tiroler Literatur macht sich der kleine Literaturverlag seither verdient. Dass das in einer Zeit, in der allerorts im Kulturbetrieb gespart werden muss, nicht immer einfach ist, lässt sich denken. Zeit also, ein paar jüngst erschienene Titel aus dem Kyrene-Verlag vorzustellen. In der „Reihe junger Autoren“ erschienen 2010 Bücher zweier Schriftsteller, die im Tiroler Literaturbetrieb längst vertraute Namen sind: Hans Augustins Roman Aufzeichnung einer Täuschung und nach langer Veröffentlichungspause – 1999 erschien sein letztes Buch – Georg Payrs Erzählband Das ewig Päpstliche zieht uns hinan.
Hans Augustins Roman führt in eine nicht näher lokalisierte Bergwelt. Ein Mann und eine Frau, sie bleiben den ganzen Roman hindurch ohne Namen, verlassen bei einer Bergtour die vertrauten Pfade und wagen sich in unbekanntes Terrain vor, um einen nur vermeintlich existierenden Gipfel zu erreichen. Dabei geraten sie in eine fremde Welt, in der alles Vertraute plötzlich wegbricht, die gewohnten Lebenszusammenhänge fragwürdig und unsicher werden. In der fremd gewordenen und feindlich anmutenden alpinen Landschaft finden sie Unterschlupf in einem verlassenen Heuspeicher. Dort wollen sie Kräfte sammeln für den Rückweg am nächsten Morgen. Doch verzögert sich der Aufbruch und schnell wird klar, an eine Rückkehr ist nicht zu denken. Was wie eine Bergsteiger- und Abenteurergeschichte beginnt, wird zur Geschichte eines gesellschaftlichen Ausstiegs, zu einer modernen Robinsonade. Das Paar beginnt sich einzunisten in seiner Höhle, die Frau sammelt Kräuter und Wurzeln, aus denen sie Brühe kocht, der Mann macht die Behausung winterfest. Dass spätestens zu diesem Zeitpunkt manches nicht mehr ganz schlüssig ist, ist ohne Belang, die Erzählung folgt der Logik ihrer eigenen Fiktion. Das zunächst schmerzhaft erfahrene Verlustig-Werden der Welt erweist sich zunehmend als Gewinn und Befreiung. Es geht um die Reduktion auf Wesentliches, um die letzten Dinge des Lebens, um die Rückkehr an den Anfang einer Geschichte. Letztlich um Sehnsüchte, die der Reflex sind einer modernen Gesellschaft und einer sinnentleert erlebten Welt. Die Frau wird schwanger und das Paar beschließt die hochalpine Welt zu verlassen und sich in lebensfreundlichere Gefilde vorzuwagen, sich dem Tal wieder anzunähern. Was folgt – es soll an dieser Stelle nicht genauer ausgeführt werden –, lässt verschiedenste Lesarten zu, kann als stufenweise Vertreibung aus dem Paradies ebenso gelesen werden wie die Geschichte einer Schöpfung und damit auch als Reflexion über das Schreiben. Von Anfang hat an man es mit einem Erzähler zu tun, der den präzisen Aufzeichnungen seiner eigenen Wahrnehmungen misstraut und sich zunehmend zu fragen beginnt, ob die von ihm wahrgenommene Welt nicht eine Täuschung ist. Auch als Leser sitzt man wiederholt dem Gefühl der Täuschung auf. Immer wieder führt der Text auf scheinbar vertraute (Lektüre-)Pfade, man glaubt sich zurecht finden und einrichten zu können in einem bestimmten Motivkomplex, einer bestimmten Erzähltradition, doch dann nimmt der Erzählfaden einen anderen Verlauf. Was als Bergsteigergeschichte beginnt, erweist sich als Aussteigergeschichte, was der Himmel sein könnte, offenbart sich als postapokalyptisches Szenario einer Einsamkeitshölle, wie wir sie etwa auch aus Glavinics Arbeit der Nacht kennen, bis schließlich der Roman immer expliziter einen biblischen Stoff be- und umarbeitet und sich auf einer zweiten Ebene als religionsphilosophische Betrachtung erweist. Ein Text also, der Bruchlinien und Nahtstellen kennt, der irritiert. Der Roman endet mit dem Tod des müde und alt gewordenen Erzählers und lässt den Leser etwas ratlos und mit einem Gefühl von Traurigkeit zurück. Daran ändert auch der Epilog nichts. Im Gegenteil, Umstände und Erzählgegenstände, die sich dem Leser zunächst als Hoffnungsträger angeboten haben, erfüllen die in sie gesetzte Erwartung letztlich nicht. Und dennoch, es ist gut diesen Roman gelesen zu haben.
Schlägt Hans Augustin in seinem Roman nachdenkliche und leise Töne an, hat man es bei Georg Payr mit einer ganz anderen Erzählstimme zu tun. Die gut zwei Dutzend in dem Erzählband versammelten und zu einem größeren Teil bislang unveröffentlichten Kurz- und Kürzestgeschichten schlagen einen vorwiegend vergnüglichen Ton an. In erster Linie sind es abstrus-komische Geschichten, manchmal treibt es einem vor Lachen die Tränen in die Augen. Einer, der in einem Kaffeehausgespräch vor sich hin monologisiert, sich selbst die Stichworte zuwirft, um sich in immer höhere (oder tiefere), auf jeden Fall aberwitzige Sphären der Gesprächskunst zu schwingen. Ein pensionierter Finanz- und Stempelmarkenbeamter, der seine Tage damit zubringt, alltäglich beim Frühstück im Kaffeehaus seinen Tisch bis zu drei Metern mit Bröseln zu markieren und im Klinikum darauf zu warten, dass die Zeit vergeht, und ein motorradliebhabender Kaffeehaussitzer, der das Papstamt anstrebt, begeben sich auf eine motorisierte Wallfahrt nach Wigratzbad. Ein Rilke-Forscher vertieft sich in die Mechanik des Spülkastens seiner Toilette, ein Schauspieler verliert am Höhepunkt des Faust sein Gebiss. Wiederkehrende Themen: Mobilität (von der libidinösen Beziehung des Kindes zu seinem ersten Gefährt zu aberwitzigen Motorradgeschichten), Immobilität (Menschen, die sich gar nicht mehr bewegen, irgendwo festwachsen), Zahnarztbesuche und Lokusprobleme, selbstverliebte Menschen und solche, die das Papstamt anstreben. Aber auch nachdenklichere Geschichten und Betrachtungen, die schönste, wie ich finde, Friedhof im Engadin. Was die Qualität der meisten dieser Erzählungen ausmacht, ist neben dem (Sprach-)Witz ein sehr bewusster Umgang mit Sprache, kaum wo ein Wort zu viel, eine große Stilsicherheit und die Stringenz der Texte, die meist vom ersten bis zum letzten Wort den Spannungsbogen halten und sehr geschlossen, ja stimmig wirken. Kurz: Ein Lesevergnügen.
In der „Reihe für junge Leser“ erschien Elias Schneitters Jugendroman Venedig. Der Titel des Romans ist ein wenig irreführend, ist Ort der Handlung doch irgendein „Kuhdorf“ im Oberland von Tirol. Venedig, das ist anderswo. Venedig könnte eigentlich überall sein, Venedig ist, wie es lapidar heißt, „gut essen, durch die engen Gassen strolchen, etwas trinken und rauchen, und vor allem quatschen“. Hier, das ist tiefe Provinz, das sind die an einer Hand abzählbaren Orte einer Provinzjugend, ein dörfliches Pub, ein paar Gymnasiastenkneipen, wo man immer dieselben Leute trifft. Im Mittelpunkt des Romans steht die 15jährige Julia, die in Briefen an ihre beste Freundin Melissa aus den Wechselfällen ihres Lebens berichtet, wobei die Briefpartnerin selbst kein einziges Mal zu Wort kommt und seltsam körperlos bleibt. Die Form des Briefromans wirkt ein wenig konstruiert, ist es doch eher schwer vorstellbar, dass eine Jugendliche ihrer besten Freundin, die sie jeden Tag in der Schule trifft, seitenlang aus ihrem Leben berichtet, vor allem, weil in diesen Briefen nichts gesagt wird, was nicht genausogut besprochen werden könnte. In einem einzigen atemlosen Monolog also erzählt Julia von ihren Alltagssorgen, Verliebtheiten und ersten sexuellen Erfahrungen, von Alkoholexzessen und hemmungslosem Zigarettenkonsum, Gewichtsproblemen und guten Vorsätzen. Der Horizont des Erzählten ist eng. Obwohl dauernd gesprochen wird, entsteht der Eindruck, dass eigentlich nichts erzählt wird. Dennoch entwickelt sich während der Lektüre ein Gefühl für die Protagonistin, dafür, worüber nicht geredet werden kann, was unausgesprochen bleiben muss. Eine Ahnung von Suche und Sehnsucht nach etwas anderem. Doch das lässt sich lediglich im Subtext erahnen, muss zwischen den Zeilen gefunden werden. Was auffällt – bei allen pubertären Grenzüberschreitungen, von denen berichtet wird – ist die große Konformität der Jugendlichen, von denen erzählt wird. Ihre Wünsche und Träume sind doch sehr bescheiden. Eine Reise nach Venedig, eine gute Figur, weniger rauchen. Irgendwo ist an Stelle von Phantasie, Vorstellungen und Träumen Leere getreten. Und da liegt vielleicht auch der Mangel dieses sehr leicht lesbaren und mit leichter Hand geschriebenen Romans. Erwarten sich nicht Leser – gerade in diesem Alter, an der Schwelle zum Erwachsen-Werden – von Literatur eine Horizonterweiterung, alternative Lebenskonzepte zu den ohnehin vertrauten Alltagsgeschichten? Ist Lesen nicht häufig ein Erproben fremder Gedankengänge, ein Ausbrechen und Türen-Öffnen?
Als dritter Band der „Reihe alter Autoren“ erschienen 2010 posthum die Erinnerungen Hubert Gundolfs (1928–2001), langjähriger Redakteur der Tiroler Nachrichten und ab 1972 Pressereferent der Tiroler Fremdenverkehrswerbung. Sie führen zurück in die Kindheit und Jugend des Autors, die er im Tirol der 30er und 40er Jahre erlebt hat.
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