Ein Stein für René Schickele
Von Kasimir Edschmid
Nach dem ersten Weltkrieg, als René Schickele sein Haus in Badenweiler bezogen hatte, sprachen wir manchmal davon, Ernst Stadler in den Vogesen einen Gedenkstein zu setzen, der von dem jünglingshaft adeligen Dichter künden solle. Stadler war im selben Jahr, im selben Monat, eine Woche später als Schickele im Elsaß geboren. Er war im Jahre 1914 zu gleicher Zeit Professor der Universitäten Straßburg und Brüssel. Er hielt seine letzte Vorlesung, rückte ein und fiel bald darauf. Aber die Übertragungen, die er von den Versen Francis Jammes geschaffen hatte und noch mehr die Verse, die er in seinem „Aufbruch“ geschrieben hatte, werden ihn so lange überleben, als die deutsche Sprache lebt und bereit ist, vom Wesen der französischen Sprache zu lernen und sich in edlem Wetteifer mit ihr zu messen. Stadler und Schickele setzten nur eine Tradition fort, die schon unter den Minnesängern in dieser Landschaft steten Gebens und Nehmens Selbstverständlichkeit war – und darum, um dieses selten gewordene Mühen zu ehren, hatte Schickele, Gottfried von Straßburgs schöner Nachfahre, den Plan gefaßt, Ernst Stadler in den Bergen des Elsaß, über denen nun die Trikolore wehte, ein Erinnerungsmal aufzustellen. Aber die Umstände fügten es, daß wir auf der Terrasse von Schickeles Haus oder im Garten des Hauses, das dicht daneben Annette Kolb bewohnte, wohl davon sprachen, daß es aber nicht geschah. Nun haben die Freunde Schickeies in Baden beschlossen, René einen Stein der Erinnerung zu setzen, auf den Vorhöhen des Blauen, der als mächtiger Vorposten des Schwarzwaldes in die Rheinebene hereinbricht, In der Nähe Badenweilers, wo Schickele sein Haus gebaut hatte und wo er leben wollte, obwohl er durch den Versailler Vertrag Franzose geworden war, einen Stein, dessen Inschrift hinüber nach den Vogesen und nach Frankreich schauen soll, nach dem Frankreich, das Schickele ebenso wie Stadler geliebt hat, dessen Geist er mit dem Deutschlands versöhnen und vereinen wollte,... nach Frankreich, in dem Schickele gestorben ist.
Schickele hatte es nicht leicht, denn er versuchte, das zu leben, was einst noch utopisch schien, was aber in einer fernen Zukunft Wirklichkeit werden wird, wenn einmal das, was man früher auf der einen Seite den französischen, auf der anderen Seite den deutschen Menschen nannte, in einer höheren Einheit aufgegangen sein wird. Die Deutschen der „Täglichen Rundschau“ nannten ihn Deserteur, die elsässischen Landsleute, die unter Führung Grumbachers von der Schweiz aus den ersten Weltkrieg bekämpften, verteidigten ihn, indem sie einen nationalistischen Franzosen aus ihm machten. Er war beides nicht. Er wagte nur ein Europäer zu sein und mit Tapferkeit, brav, ehrlich und männlich, zwischen den Schlachten, Liebe zu predigen, eine feurige Liebe, versteht es sich, eine Liebe, in der die dunklen Wälder des Blauen rauschten, in der die Süßigkeit des Vogelweiders und die edle Haltung Riemenschneiders von Deutschland zeugten ... und in der auch Frankreich aufblühte, mit den Hüften seiner frühen Göttinnen, seinen Säulenheiligen, und dem duftigen Mai, in dem die Kathedralen, liegen. Was Schickele über dies und anderes zu sagen hatte, hat er in der „Genfer Reise“ aufgezeichnet. Und dann schrieb er die drei Bände des „Erbe am Rhein“, er, der die „Schreie auf dem Boulevard“, er, der „Benkai den Frauentöter“, er, der die stürmischen Gedichte „Weiß und Rot“, er, der die hinreißende Prosa der „Freundin Lo“ geschrieben hatte, er, der die elsässische Tragödie im „Hans im Schnackenloch“ gestaltet, er, der Deutschlands hervorragendste Zeitschrift „Die weißen Blätter“ verwaltet, er, der dreißig Jahre vor dem Machtantritt des Regimes bereits eine Zeitschrift der Jugend und der Gedanken, den „Stürmer“, herausgegeben hatte.
– Als die Nationalsozialisten heranrückten, überfiel es Schickele manchmal wie Irrsinn. Er war überzeugt, sie würden zehn bis fünfzehn Jahre bleiben. Ich glaubte überhaupt nicht daran, daß sie kämen. Ich war in diesen Jahren nicht viel in Europa. Ich begriff das Entsetzen nicht, das Deutschland erfaßt hatte, als hundert oder mehr Nationalsozialisten in den Reichstag einzogen. Schickele zog dann nach Frankreich. Er emigrierte nicht, denn er war ja Franzose. Aber er war auch Deutscher, und deshalb emigrierte er doch. Und obwohl er glaubte, das Regime komme für ein oder zwei Dezennien, vermietete er sein Haus nur; er verkaufte es nicht. Er vermietete es an einen Mann, der ebenfalls glaubte, diese Welle gehe rasch vorüber. „Sie“, sagte er, und er meinte das Regime, „sie werden uns vielleicht noch einen Sportanzug lassen.“ Ich sah ihn wieder in Nizza.
Ich besuchte ihn öfter in Nizza. Ich fuhr das erstemal, von der Promenade des Anglais abbiegend, eine steile Straße zwischen Villen und Gärten, den Chemin de la laterne, hinauf nach Nice-Fabron. Da lag die Villa „La Florida“. Als ich das Tor nach dem Garten öffnete, dessen Boden blutrot und saftig leuchtete, flog mir, noch ehe ich das Haus hinter den Bäumen sah, ein Manuskriptblatt entgegen. Es kam mit dem Wind des Mittelmeeres mir entgegengewirbelt. Ich las zwei Sätze und den Namen von D. H. Lawrence – und ich wußte, durch die bunte Schönheit der Sätze, daß dies das richtige Haus war. Es war Schickeles Sprache. Er schrieb damals das Buch über Lawrence, nicht um über den Engländer zu berichten, sondern um anläßlich dieses seltsamen Mannes alles auszusagen, was über die Zeit, ihre Verwirrung und ihre Probleme zu sagen ist – für einen Mann, der, wie Schickele, mitten in den Problemen und dennoch über ihnen stand. Das Buch ist in Holland erschienen. Wir sprachen auch von dem Stein, der in den Vogesen für Ernst Stadler errichtet werden solle. Aber es war klar, daß es im Augenblick wenige Dinge gab, die phantastischer gewesen wären als dieser Plan. Das Grauen, das über den Olivenwäldern hinter Fabron lag, hatte auch die ganze Riviera erfaßt. Keine amerikanischen Jachten schaukelten auf der Reede vor Cannes, keine Automobil-Omnibusse Cooks jagten über die Corniche, keine Dampfer der Dollar-Line spien ihre Passagiere, auf die Kais. Die Hotels standen leer. Und mit den schönen Frauen der „Classe dirigeante“ waren aus dem „Negreseo“ Nizzas auch die Photographen verschwunden. Die Riviera wirkte nur noch gespenstisch. Kaum irgendwo anders sah man so deutlich die Panik, welche die Welt schon lange, ehe die Katastrophe kam, schüttelte.
Ich sah Schickele zum letzten Male Ende Juli 1939 in Vence. Damals wußte jedermann, daß das Schwert heruntersausen werde, aber jedermann hoffte, es werde in der Scheide bleiben. Ich kam von Lausanne. Ich hatte Lausanne wiedergesehen, nachdem ich es bei den Friedensverhandlungen zwischen der Türkei und Griechenland besucht hatte. Ich erinnerte mich an Lord Curzon, an Ismet Pascha, der nunmehr Beherrscher der Türkei geworden war; ich erinnerte mich an Mussolini, der damals, kurz nach seiner Machtergreifung, zum ersten Male italienischen Boden verlassen und das Hotel Beau-Rivage mit seiner schwarzbehemdeten Garde gefüllt hatte. Im selben Lausanne, in dem jedermann Bilder haben und Aufzeichnungen lesen konnte aus einer Zeit, die noch nicht lange vorüber war, als man Mussolini nachts unter einer Brücke verhaftet hatte, im gleichen Lausanne, in dem der Gendarm noch lebte, der ihn damals ergriffen hatte. Ich war zwei Tage, ehe ich nach Vence fuhr, von Lausanne nach Genf gefahren, um die Prado-Bilder zu sehen, die dort vor ihrer Rückkehr nach Spanien ausgestellt waren – um mit ihnen Wiedersehen zu feiern. Als ich sie zum ersten Male in Madrid besuchte, herrschte noch Alfons der Dreizehnte und weihte gerade in Malaga zum ewigen Gedenken seiner Regierung ein Hotel ein, das seinen eigenen Namen führte. In der Zwischenzeit hatte der König abgedankt, Spanien hatte einen Bürgerkrieg des Grauens erlebt, und General Franco hatte die Macht ergriffen. Es war viel geschehen in der Welt. Und während ich dies, vor einem Goya stehend, dachte, kam ein junger Mann auf mich zu, grüßte und fragte: „Est ce qui j’al le bonheur de parler avec Monsieur Edschmid – l’écrivain?“ Es war mein eigener Vetter aus Straßburg, der herübergefahren war, die Prado-Bilder zu sehen. Ich hatte ihm zum letztenmal kurz vor Ausbruch des Krieges 1914 gesehen, in Rupprechtsau bei Straßburg. Er und seine Familie spiegelten in der Vergangenheit, in der Gegenwart und wie sich zeigen sollte, auch später das, was Schickele zu überwinden suchte: die Tragödie des Elsässertums. Meine Onkel hatten mir, als ich zwölf Jahre zählte, die Schlachtfelder von Wörth und Weißenburg gezeigt, auf denen sie 1870 gegen Deutschland gefochten hatten. Mein Vetter hatte 1914 gegen Frankreich gefochten. Er würde nun in dem zweiten Weltkrieg – wir sprachen darüber – gegen Deutschland eingesetzt werden. So geschah es auch. Und er wurde dann neben den Männern meiner Kusinen nach der Eroberung Frankreichs verfolgt und verschleppt. Einer der Männer meiner Kusinen – floh nach Algier, und eine seiner Töchter ertrank auf einem Dampfer zwischen Afrika und Marseille. Und die Söhne des Mannes einer anderen Kusine schlugen sich durch zu de Gaulle. Das alles ahnten wir damals nur, als wir aus der Prado-Ausstellung hinauf zum Gebäude des Völkerbundes fuhren und dort unseren Tee tranken.
Ich fuhr den Abend bis Martigny und weiter über den Großen Bernhard nach Turin und Ventimiglia. Man muß zwischen Cuneo und dem Meer durch einen Zipfel fahren, durch den Frankreich ein paar Kilometer lang in das italienische Gebiet hineinstößt. Die Straße wird hier ein Tunnel zwischen Felswänden, und hier war schon beinahe Krieg. Diese kleine Strecke erforderte sechs italienische und französische Grenz- und Paß-Kontrollen. Und zu meinem Erstaunen glaubten mir die Franzosen nicht, daß ich écrivain sei, sie vermuteten, daß ich Offizier sei. Es war fünf oder sechs Wochen, ehe der Krieg ausbrach. Ich nahm ihnen ihre Haltung nicht übel.