Kaum ein Krieg hat in seiner Schrecklichkeit so viel Dichtung, will sagen: so viele verzweifelte Versuche, die Erfahrung des großen Mordens zu be- und zu umschreiben, hervorgebracht wie der Erste Weltkrieg. Klassiker der Weltliteratur sind darunter, Ernest Hemingways In einem anderen Land, Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, Jaroslav Hašeks vorgeblich heiteres, tatsächlich abgrundtief finsteres Epos über den Braven Soldaten Schwejk, um nur drei zu nennen. Dazu die berühmten Romane von Arnold Zweig, Henri Barbusse, Ludwig Renn oder Alexander Moritz Freys »Feldsanitätsroman« Die Pflasterkästen, Karl Kraus’ Drama Die letzten Tage der Menschheit, die Lyrik Wilfred Owens und Siegfried Sassoons, Georg Trakls Grodek und viele andere große Literatur mehr – nicht eingerechnet all jene Romane, Gedichte, Theaterstücke, die heute nur noch von mentalitäts- oder ideologiehistorischem Wert sind .

Ein Buch, das unbedingt in die erste Reihe der Werke über la Grande Guerre gehört, wie die Franzosen den Ersten Weltkrieg im Unterschied zum Zweiten immer noch nennen, ist der Roman La Peur. Gabriel Chevallier heißt sein Autor, geboren 1895 in Lyon und 1969 in Cannes gestorben. 1930 erschienen, 1951 noch einmal glücklos aufgelegt, wurde das Buch erst 2008 wiederentdeckt und von der französischen Kritik gefeiert. Jetzt hat es Nagel & Kimche im Hanser Verlag unter dem Titel Heldenangst auf Deutsch herausgebracht, übersetzt von Stefan Glock.

Gabriel Chevalliers Roman "Heldenangst" © Verlag Nagel & Kimche

Der Roman ist eigentlich kein Roman, sondern wie viele Erzählungen vom Krieg ein Bericht: der Bericht eines Mannes, der von einem Tag auf den anderen aus der Zivilisation fällt, am Ende sogar ganz aus jedem Raum und jeder Zeit in ein ortloses Reich des Wahns und der Vernichtung. Chevallier, der später mit seinen arg humorigen Büchern über das fiktive französische Städtchen Clochemerle zum internationalen Bestsellerautor wurde (auch in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit viel gelesen), berichtet in der Gestalt des Ich-Erzählers Jean Dartemont von seinem Sterbensleben in den Gräben und Erdbunkern der Front. Er tut das ohne jede Sentimentalität, aber auch ohne die Kälte, mit der sich andere Kriegsautoren vor dem Sog des Grauens zu schützen versuchten.

Der junge Dartemont ist kein Kämpfer, keiner dieser Krieger, wie die völkischen Autoren der zwanziger Jahre, Werner Beumelburg oder Ernst Jünger, sie so priesen. Er ist nicht einmal ein richtiger Soldat, er bleibt zu jedem Zeitpunkt Zivilist: der junge Mann, der Passant, der Student Dartemont, auf unerklärliche Weise verschleppt auf einen fernen, wüsten Stern.

Heldenangst umfasst die vier Jahre des Krieges. Chevallier beschreibt alle Tages- und Jahreszeiten auf dem Planeten Krieg und das Töten in allen Seelentemperaturen: das Töten aus Angst, aus Wut, aus Langeweile, »das Töten, um uns zu beruhigen« – und das Warten auf das Getötetwerden. Denn viele Tage vergehen wie in einer Massentodeszelle, in der sich jeder fragt: Wen trifft es heute, wen morgen, ist es mir schon anzusehen? »Die Erde ist bereit, uns aufzunehmen, die Geschosse, die uns treffen, die Einschlagstellen sind schon in Raum und Zeit festgelegt...«

Von der Begegnung mit dem ersten Massakrierten berichtet Dartemont, als die Hacke bei Schanzarbeiten auf den Leichnam eines Verschütteten trifft: »Sie hatte sich in einen feuchten, verwesenden Bauch gebohrt, dessen plötzlich freigesetzte Gase uns entgegenschlugen.« Und vom »Laufen durch Fleisch«, als die Körper der Toten sich schon zu Wellen schichten. Er beschreibt die Momente des jähen und des schier endlosen Schreckens in all ihren fahlen Farben und die Angst, die Angst.

Die Orte sind Geschichte: die blutgetränkte Ebene des Artois, das Schlachthaus des Chemin des Dames, die zerschossenen Vogesen, die Killing Fields der Champagne. Diese Landschaften werden zu Landschaften der Vernichtung, hier münden tatsächlich alle Straßen in schwarze Verwesung, wie es in Trakls Gedicht Grodek heißt – tatsächlich und wortwörtlich, denn die schreienden Sterbenden zwischen den Gräben bleiben liegen, wie die Toten.

Hier gibt es keine Feldherrnhügel mehr, nicht einmal ein Schlachtfeld, sondern nur noch lebende Friedhöfe bis zum Horizont. Einmal wird Dartemont, der Meldegänger, zum Kartieren des Grabenlabyrinths eingeteilt. Brav zieht er los und zeichnet eifrig jede Biegung, jeden Abzweig auf. Und doch: nichts absurder als das. Nichts absurder als jede Linie, als jeder Plan in diesem Nichts. In diesem höllischen Vakuum, in dem ein Moment der Stille nur dazu genutzt wird, die Leichen zu fleddern: »Mit schon leeren Augenhöhlen und dunklen, ganz klein gewordenen Händen, die sich in die Erde krallten, warteten sie auf ihre Bestattung. Trotz des Gestanks durchsuchten die kühnsten, die beutegierigsten Soldaten sie noch einmal, doch vergeblich.«