caro diario

zu rein wissenschaftlichen zwecken – nämlich zur vergleichenden diaristik und blogologie – dürfen jene journal-auszüge nicht unterschlagen werden, welche die FAZ heute aus Martin Walsers Lebensmitschrift zum besten gibt. . – - – - merk’s und origineller weise : : : es wurden nur jene einträge veröffentlicht, welche Lehrer Lämpel zu eigenen geburtstagen (den 24. märz) sinnenschwer sich entrang . – - – stoff genug, um auch aus nicht-nackten körper des p. t. lesers einige so manche angstblüten hervor zu treiben ?!

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Unveröffentlichte Tagebücher

Das nackte Ich – Von Martin Walser

Jedes Mal in den vergangenen fünfzig Jahren war dieser angebliche Jubeltag für Martin Walser ein Tag der Krise. Was er wirklich empfand und selten auszusprechen wagte, hat er seinem Tagebuch anvertraut. Für die F.A.Z. hat der Schriftsteller erstmals unveröffentlichte Passagen zusammengestellt. F. A. Z.

24. 3. 57. Ulm, Krankenhaus.

Das ist also der 30. Geburtstag: Es ist voll billiger Bedeutsamkeit, dass ich diesen Tag hier verbringe. Unsereins ist in Interpretationen geübt, wir dürfen nicht jede annehmen, bloß weil sie sich uns aufdrängt.

24. 3. 63. Friedrichshafen.

Der Plan: Wenn er an sein Leben denkt, spürt er sofort Magenschmerzen. Er hat alles vorbereitet. Er ist ein Deserteur. Die Glocken läuten. Ihn zieht es fort. Und wenn er wieder so weit wäre, hat er wieder etwas vergessen, was für die Frau, für die Kinder wichtig ist. Er schläft zum letzten, immer wieder zum letzten Mal mit seiner Frau. Das ist sehr schön.

24. 3. 67.

Ich habe für Zahlen so wenig Sinn, dass es mir noch nicht gelingt, einen Geburtstag zu begreifen.

24. 3. 70. Nussdorf.

An den Schrecken sich halten, ohne den Schrecken aufzuschneiden, macht den Schrecken mächtig, du dienst ihm.

24. 3. 71. Sarn.

Das Mädchen von der Sonne her, über den Hang herab, der gleißende Schritt, die Sonne zwischen ihren Beinen.

24. 3. 75. Sarn.

Der Wirt der Ustria Lescha brüllt, er werde Timon abschießen, wenn er den noch einmal vor seiner Haustüre sehen werde. Ob ich nicht im Amtsblatt gelesen hätte, dass jeder ledig laufende Hunde abschießen könne, abschießen müsse.

„Endlich wird mein Gott wieder von mir weichen müssen.“ Oft wiederholt.

Heute vor 48 Jahren. Dass ich Jahre gesammelt habe, Atem getauscht mit wem, eingesperrt in die Enge meines Namens, eins reicht nicht zum anderen, Beton verbindet das meiste. Erwähne regelmäßig die Käsrinde, den Rosenstock, die Tagesschau, die Drucksachen, die durchs Haus treiben, und den in den Armen wohnenden Rost, den Frost, der die Knie schalt und die Eisrinde auf der Stirn.

Wenn es Antworten gäbe, gäbe es keine Fragen.

Jemand muss seinem Feind ein Kompliment machen. Das verbindet er mit Komplimenten für Leute, die absolut nichts gelten. So hofft er, das Kompliment, das er seinem Feind machen muss, abzuwerten.

Das Einzige, was an der Matthäus-Passion auszusetzen ist, ist, dass man sie nicht selber geschrieben hat.

24. 3. 76.

Wenn mich die steigende Wiese nichts anginge, wenn ich nicht alles an mich reißen wollte, was es gibt, wär alles gut. So aber.

Abendschau. Aus Buenos Aires: Eigenen Angaben zufolge haben die Streitkräfte die Lage völlig unter Kontrolle. 30 Offiziere kommen abwechselnd vor das Mikro und sagen, was alles verboten ist. Auch die Gewerkschaften. Sie wollen westlich und christlich sein.

Der Ministerpräsident: Baden-Württemberg bietet seinen Bürgern mehr Sicherheit als jedes andere Bundesland.

Wenn Timon an der Tür kratzt und ich öffne, drängt er herein und sucht extrem gebückt sofort die geschützteste Stelle, die Höhle unter dem Schreibtisch. Wenn ich sehe, wie er seine Angst allmählich verliert, dann stelle ich fest, dass ich noch imstande bin, unserem Hund als ein Hort der Sicherheit und Stärke zu erscheinen.

Do. 24. 3. – 25. 3. 1977.

Hotel Fujita, Zi. 726, Kyoto.

Nach der Lesung gestern mit einem Mönch ins Geisha-Haus. Der Meister schlägt die Hände zusammen und sagt: Mit zwei Händen machen Sie diesen Knall – wie nennen Sie das, was Sie mit einer Hand machen? Dabei schlägt er mit einer Hand bis zu der Stelle, wo vorher die Hände aufeinanderschlugen.

Als ich frage, was er geantwortet habe, sagt er, das dürfe er nicht sagen. Für die Antwort habe er drei Jahre gebraucht. Es nütze mir auch nichts, wenn er mir die Antwort sage.

Der Vortrag gestern könnte an den meisten vorbeigegangen sein.

Früher waren immer andere fünfzig, jetzt bist es du.

© Martin Walser

© FAZ

N. B. “Die vollständigen Auszüge lesen Sie in der Wochenendbeilage „Bilder und Zeiten“ vom 10.3.”

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Sachdienlicher hinweis von © Wilhelm Busch :“Ach!” spricht er, “die größte Freud / Ist doch die Zufriedenheit!”

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