Salon Littéraire | Florian Neuner : Ückendorfer Straße

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Salon Littéraire | Florian Neuner : Ückendorfer Straße

Mit einer Photoserie von Jörg Gruneberg

So ist der Westen. Eine Bahnunterführung bildet die Stadtgrenze. Eine Straßenbahnlinie, die in mehr als einer Stunde Fahrzeit Bochum-Laer mit Gelsenkirchen-Buer verbindet, unterquert die stillgelegte Kray-Wanner-Bahnstrecke. & nur das Ortseingangsschild deutet darauf hin, daß die Bewohner des unteren Straßenzugs keine Bochumer, sondern Einwohner des Gelsenkirchener Stadtteils Ückendorf sind. Wobei auch noch berücksichtigt werden muß, daß die Bewohner des hier an Gelsenkirchen grenzenden Bochumer Stadtteils Wattenscheid sich mit dem Ende Wattenscheids als kreisfreier Stadt im Jahre 1975, gegen das auch die Aktion Bürgerwille nichts auszurichten vermochte, bis heute nicht abgefunden haben & nach wie vor nur ungern als Bochumer ansprechen lassen. Aber was zählt der Bürgerwille schon! & welche der Städtefusionen & Eingemeindungen wäre nicht anfechtbar! Aber nun: Wenn man aus Bochum kommt, fällt links der Förderturm der Zeche Holland in den Blick. Ein sogenanntes deutsches Strebengerüst mit dem Namenszug ‘Holland’ – Reminiszenz an die niederländischen Investoren & in den fünfziger Jahren von Zollverein hierher verpflanzt. Immerhin ein Ankerpunkt im Siedlungsbrei. Das Kauen- & Verwaltungsgebäude der Schachtanlage Holland 3/4/6 auf Wattenscheider Boden ist das älteste noch erhaltene Werk der Industriearchitekten Fritz Schupp & Martin Kremmer. Damals noch nicht streng modern, sondern neoklassizistisch. Aber die Zeichengebung in absolutistischer Tradition, so drückt Roland Günter es aus, ist schon so stark zurückgenommen, daß sie beinahe wie ein unwirklicher Nachhall wirkt, der auch leicht zurückgenommen werden kann. Wie die Stadt unter dieser dichten Hülle von Zeichen wirklich ausieht? Auch das Maschinenhaus von Schacht 6 ist erhalten, während andere Tagesanlagen abgebrochen wurden. Umwelt-, Recycling- & Aufbereitungstechnologien, ein Gewerbepark, das Erwartbare.

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Hinweisschilder auf das Lohrheidestadion, den Olympiastützpunkt, die “Athletenfabrik”. Der Olympiastützpunkt Westfalen/Bochum bietet Hochleistungssportlern ein Zuhause. Dorthin zweigt die Hollandstraße ab, eine Seitenstraße mit parkähnlichem Charakter. Das Stadion, heißt es, sei nach der Sanierung 2002 wieder erstligareif. Die Sportgemeinschaft 09 Wattenscheid ist es nicht. Kaum ein Fernsehbericht aus dem Lohrheidestadion verzichtet auf die Einblendung des alten Förderturms, um die längst vergangene Tradition des fußballspielenden Bergmanns sozialromantisch zu verklären. Jenseits der stillgelegten Bahnstrecke die sogenannte Himmelstreppe, eine begehbare Skulptur auf der Halde Rheinelbe, der zweithöchsten im Ruhrgebiet. Der Skulpturenwald im Wissenschaftspark Rheinelbe auf dem Gelände eines ehemaligen Gußstahlwerks. Kunst & Naturschutz. Die Zeche Rheinelbe wurde bereits 1928 stillgelegt, die Halde bis 1999 geschüttet. Hier ragen Betonteile, Relikte einer Dortmunder Zeche, in den Himmel. Fundstücke aus der Industriegeschichte. Was ist ein “Industriewald”? Die ständigen Bodenbewegungen auf Rheinelbe haben abenteuerliche Steilhänge, Schluchten & mit Abbruchtrümmern übersäte Felder hervorgebracht. Nach uns der Urwald! Ein bestehender Raum mag seinen ursprünglichen Zweck & die raison d’être, die seine Form, Funktion & Struktur bestimmen, überleben. Er wird so gewissermaßen leer & offen für Zweckentfremdungen, Aneignungen & Umnutzungen. Schräg gegenüber dem Eingang von Holland liegt eine für das Ruhrgebiet typische Zechensiedlung. Die heutige Idylle täuscht jedoch über das Elend vergangener Zeiten hinweg – wie der Sozialwissenschaftler K. in seinem Text über Wattenscheid nicht vergißt anzumerken.

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Der Blick überfliegt die Straßen wie beschriebene Seiten: Auf einigen Fassaden kleben heute noch Ruß & Abgase der letzten 50 Jahre. In den Hinterhöfen der Häuser kleine Anbauten, Schuppen & Gärten. Ein Buch über Gelsenkirchen verspricht trotz mancher unansehnlichen Ecken eine Menge Überraschungen. Die Laubenstraße führt zum Kleingärtnerverein Lehmkuhle e.V., auf dessen Gelände sich auch die Gaststätte Lehmkuhle befindet. Hier residiert der Stammtisch Die Saufziegen. Wir sind gut drauf. Denn wir feiern alle heute Nacht, heute Nacht. Diese Wiederholung wie zur Bekräftigung. Oder um es sich einzureden. Am frühen Novemberabend ist von Feierlaune nichts zu spüren. Ein Markus wird begrüßt. Am Tresen ist inzwischen eine Diskussion über Notstromaggregate aufgekommen, ihre Bedeutung in Krankenhäusern, für die Kühlschränke mit dem Blutplasma insonderheit. Das nahegelegene Knappschaftskrankenhaus freilich, erbaut im Stil der Neo-Weserrenaissance & seinerzeit zuständig für Bergbaugeschädigte, wurde bereits 1973 geschlossen. 1974 wurde die Zeche Holland stillgelegt. Die Schächte blieben zunächst offen, das Baufeld kam zu Zollverein. Ob die Sparkassenauszahlung am 24. stattfindet, möchte jemand wissen. Nein, am 1. Dann ist das woanders! & nicht in der Gaststätte Lehmkuhle. Er muß das alles auf die Reihe kriegen, versucht das jedenfalls. Ob noch irgendwo Platz sei, wird eine Frage in die leere Kneipe gestellt. Ein Plakat wird aufgehängt, das ein Muschelessen ankündigt. Kannst noch rüberkommen etwas saufen. Wird einem Dieter telephonisch mitgeteilt. Man könnte einwenden, daß das Iserlohner, das hier ausgeschenkt wird, zu warm ist. Der Herr hat eine Lokalrunde gegeben! Heißt es dann. & man nimmt doch gerne noch ein Iserlohner. & die Frage taucht auf, wofür man denn überhaupt einen Meistertitel benötige. Überall, wo Wissen gefordert ist! Soll ich jetzt in der Kneipe auch noch einen Meister machen? Stellt der Wirt eine rhetorische Frage & kann sich ja sicher sein, daß seine Stammgäste das nicht von ihm fordern werden. Du sollst noch lange leben! Wieso? Du sollst noch viel trinken! Nun denn. Stell dir vor, du wachst morgen auf & bist tot. Wenn das die Vorstellungskraft auch übersteigen mag, so evoziert das Raisonnieren über die letzten Dinge in der Lehmkuhle aber noch einen Schwulenwitz: Wenn du tot bist, lasse ich dich verbrennen & aus deiner Asche Zäpfchen machen! Eros & Thanatos in Wattenscheid.

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Die Stadt enthält ihre Vergangenheit wie die Linien einer Hand. Geschrieben in die Straßenränder, die Fenstergitter, die Brüstungen der Treppengeländer, die Blitzableiter, die Fahnenmasten. Lesen müßte man können in den Kratzern, Spuren, Einkerbungen, Einschlägen. Was aber die Ziffernfolge “676″ zu bedeuten hat, die einem beim Unterqueren der stillgelegten Kray-Wanner-Bahnstrecke auffallen mag, erschließt sich nicht ohne weiteres. Daß Gelsenkirchen Partnerstädte wie Cottbus & Allenstein hat, wird einem auf einem Schild auch noch mitgeteilt, ehe man Gelsenkirchener Territorium betritt. Ein Warnschild spricht alarmistisch von der Lebensgefahr, die vom Wattenscheider Bach ausgehen soll, diesem Rinnsal, das man gleich hinter der Stadtgrenze überquert & ohne dieses Warnschild womöglich gar nicht bemerkt hätte. Vermißt wird seit Montag, dem 7. Juli ca. 7 Uhr, Hans L. (80 Jahre). Er ist 1,81 m groß, trägt eine dunkelblaue Hose, ein blaukariertes Hemd & einen graublauen Blouson, dazu schwarze Schuhe. Inzwischen auf dem Gelände der Zeche Holland 1/2, wo außergewöhnliche Loft-Wohnungen zu vermieten sind, außergewöhnliche Bureau- & Gewerbeflächen zudem. Silberne Pferde mit goldener Mähne weisen auf die UnverwechselBar in einem modernen Glasbau am Eingang zu dem Zechengelände. Versprochen werden eine anregende & zugleich entspannte Atmosphäre; Restaurant, Bar oder Weinlounge, je nach Stimmung & Anlaß. Für Freunde der Malakowtürme ist die ehemalige Zeche Holland in Ückendorf, die einzige erhaltene Schachtanlage mit zwei Türmen dieser Art, ein besonderer Anziehungspunkt. Die beiden Türme mit dem dazwischen liegenden Maschinenhaus werden mit einer trutzigen Burg verglichen. Werkhallen & ein repräsentatives villenartiges Gebäude vervollständigen das Ensemble aus der ersten Gründungsphase des Ruhrbergbaus. Mit dem Abteufen der Schächte wurde 1856 begonnen. In der Blütezeit der Doppelschachtanlage waren in den Türmen große Fördergerüste eingezogen, die bei zunehmender Teufe die Förderung übernahmen. Eine unsichtbare Landschaft bedingt die sichtbare.

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Die Bezeichnung Ückendorf soll auf einen altgermanischen Stammesführer mit Namen Hugo oder Hukko zurückgehen. Die Angehörigen dieses Stammes wären demnach die Huginge oder Huckinge gewesen, die ihre Siedlung Hugingsdorf genannt hätten. Verschiedene Völkerschaften kamen & besiedelten Ückendorf. Aber was sagt uns das? Aber das Schlimmste sieht man nicht. Die Stadt spricht nicht über ihre Vergangenheit. Sie entwickelte sich rasch. Schulen, Kirchen, ein Friedhof, sogar ein Schlachthof entstanden. Das Stadtbild, dem trotz Kriegsschäden & einiger Bergschäden eine hohe Qualität bescheinigt wird, ist vor allem geprägt durch die Wohnbebauung im Norden sowie durch einige markante Industriebauten & öffentliche Gebäude. Durch Abriß sind jedoch bereits etliche Baulücken entstanden, so daß die Geschlossenheit der Straßenräume mit ihren zum Teil ausgeprägten Blockecken stark beeinträchtigt ist. Die Stadt besteht aus Beziehungen zwischen ihren räumlichen Abständen & den Geschehnissen ihrer Vergangenheit. Die Entwicklung soll über Jahrhunderte hinweg eher beschaulich verlaufen sein. Ückendorf behielt seinen dörflichen Charakter bis zur Industrialisierung. Industriedörfer, Bevölkerungsexplosion usf. Die Bausubstanz soll im allgemeinen weniger schlecht sein als das äußere Erscheinungsbild vermuten läßt. Selbst die enormen Bergsenkungen im Bereich Bergmann- & Metzer Straße mit bis zu fünf Metern in zehn Jahren haben die Ziegelbauten erstaunlich gut überstanden. Graue, schwarze, braune Häuser, ein rosa gestrichenes sticht hervor. Irgendwo weht eine Deutschlandfahne.

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Die Hauptverkehrsströme durch den Stadtteil verlaufen in Nord-Süd-Richtung. Quellen & Ziele des Durchgangsverkehrs sind die im Norden gelegenen Gelsenkirchener Stadtteile einschließlich der Stadtmitte sowie im Süden das Zentrum Wattenscheids & Bochum, darüber hinaus Essen, Mülheim & Duisburg. Für diese räumlichen Beziehungen werden überwiegend die Ückendorfer Straße & die Bochumer Straße, die beide durch den Stadtteilinnenbereich verlaufen, als Fahrweg benutzt. Besonders in der Ückendorfer Straße macht dieser Durchgangsverkehr zeitweise die Hälfte des Verkehrsaufkommens aus. Ersatzrouten bedingen große Umwege. Regelmäßige Grenzbelastungen treten jedoch nur zu Hauptverkehrszeiten, & zwar am stärksten in der Ückendorfer Straße, auf. Vor der Tankstelle an der Ecke Am Dördelmannshof stauen sich die Autos. Die Kreuzung ist schon lange ein Streitthema. Denn die Autofahrer, die auf der Ückendorfer Straße unterwegs sind & tanken wollen, biegen nicht in die Straße Am Dördelmannshof ein, um die Tankstelleneinfahrt zu nutzen, sondern nehmen die Abkürzung über den Gehweg. Wie war die Reise? Kurz. Wortwechsel in der Gaststätte Zum Dördelmannshof. Besprochen wird auch das große Polizeiaufgebot, das am Vorabend einigen aufgefallen ist. & heute Mittag schon wieder! Jemand wird gesucht oder ist umgebracht worden. Ich habe keine Angst. Vor Ausländern sowieso nicht! Tut jemand kund. Das Lokal ist häßlich eingerichtet, verfügt über einen riesigen Fernseher. Jemand ist im Krankenstand & erzählt das im Dördelmannshof. Dann werde man ihn ja jetzt jeden Tag hier sehen! Ein anderer Wortwechsel geht so: Was willst du denn in der Stadt? Einkaufen. Welcher Mann geht denn freiwillig in die Stadt einkaufen? Du weißt doch sicher nicht einmal, was ein Brot kostet!

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Der Ückendorfer Platz hat durch den verkehrsgerechten Ausbau nach dem Krieg seinen Platzcharakter verloren. Der Ückendorfer Platz ist zu einer großen Kreuzung geworden; vor dem Krieg geschlossene Gründerzeitbebauung. Das Haus Witte mit seiner klassizistischen Fassade ist heute ein Solitär. Auf der Karte Hüftsteak “Aurora”, Toast “Exotic”, Jägertopf, Spezialtopf usf. Nun, die Stadt besteht fürs erste aus Fassaden. Jeder, der in eine Stadt kommt, wird sofort mit ihnen konfrontiert. Eine fast schwarze Fassade beeinträchtigt die Wirkung der Gestaltungselemente aus der Zeit des Historismus. Eine mit Jugendstilelementen verzierte Fassade wurde zwar renoviert, jedoch mindert die formal wenig überzeugende Fenstergestaltung die Gesamtwirkung. Eine Klinkerfassade wiederum wurde übermalt, ohne daß der Gesamteindruck nennenswert Schaden genommen hätte. An einem dreigeschossigen Ensemble wird die Verkleidung eines Teils der Fassade mit Asbestzementtafeln beanstandet. Fassaden können beschrieben werden. So Waltraud Seidlhofer. Rosetten & Muschelornamente, Gesimsbänder & Pfeiler. Zum Beschreiben der Fassaden benötigt man Worte. Steinernes Flechtwerk & vorkragende Erker. Die Worte, die sich auf den Fassaden selbst befinden, haben meist nichts mit den Fassaden zu tun: Recklinghausen leuchtet. Haus Siebrecht. Internationale Küche in Gelsenkirchen-Ückendorf. Geschmacklose Einrichtung, helles Holz. Schweinelendchen “Mozart”, Fischteller “Ückendorf” usf. Der einsame Stammgast am Tresen möchte ein warmes Bier trinken, worauf der Wirt meint, daß er das doch auch zu Hause tun könne. Der Gast aber spielt den Connaisseur & berichtet von einem Besuch in der Stauder-Brauerei, wo man das Bier vor dem Trinken auch wärmen würde. Wollte man Sylvester im Haus Siebrecht verbringen – mit Live-Musik, für die ein schnurrbärtiger Schlagersänger sorgen wird -, dann müßte man schon jetzt reservieren. Die Worte, die auf dem Papier Fassaden beschreiben, stehen mit den Fassaden in unmittelbarem Zusammenhang.

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Die Zeichen bilden eine Sprache. Doch nicht die, die man zu kennen glaubt. Worte, Parolen, Losungen & dgl. Stärker als Dieselruß & Feinstaub. Bei Verdacht auf Herzinfarkt sofort 112! Billardfreunde Gelsenkirchen. Die Pizzeria San Remo bietet einen Schnitzel-Lieferservice an. Die Fassaden werden zu einem Hintergrund von Worten & Farben. Am 9. Dezember findet der 6. Ückendorfer Weihnachtsmarkt statt. Mit attraktiven Verkaufsständen, einem adventlichen Bühnenprogramm, Feuerwerk & Nikolaus-Auftritt. Zwischen Nicolai-Kirche & St. Josef, der protestantischen & der katholischen Kirche an der Ückendorfer Straße. Der Förderkreises Kirchenmusik an der Nicolai-Kirche lädt zu einer Weinprobe ein. Zwischen den beiden Kirchen liegt der Pestalozzihain, eine Grünanlage. Wenn man eine Stadt zu beschreiben vorgibt & dabei in Wahrheit über eine andere spricht. Wenn Ähnlichkeit subjektiv empfunden wird & Gegensätzlichkeit ja auch als eine Form von Ähnlichkeit verstanden werden kann. Wenn der Mensch den Menschen braucht. Wir beraten Sie einfühlsam & fachkundig. “Ich kann es noch gar nicht fassen …” Wirbt ein Spruch um Aufmerksamkeit für eine “Lacrima”-Erwachsenen-Trauergruppe in einem Institut für Trauerbegleitung. Ein Schild weist auf das Wilh. Geldbach Werk in der Ziegelstraße. Ein Unternehmen, das im Rohrzubehörmarkt tätig ist & die termingerechte Bereitstellung von Flanschen, Fittings & Bogen anbietet; langjährige Erfahrung in allen Fertigungsprozessen, mechanische Bearbeitung unterschiedlichster Stahlgüten, effektives Qualitätsmanagement, weltweite Zulassungen usf. Weiters könnte man auf den Konfliktbereich Wohnen-Industrie zu sprechen kommen, auf Geräusche wie Pressen- & Lüftergeräusche, Transport- & Fallgeräusche, die vom Betriebsgelände gut hörbar sein sollen, wobei die Wohnhäuser entlang der Ziegelstraße am stärksten betroffen sind. Anwohner berichten auch von Hammerschlaggeräuschen. Impulsgeräuschen in dichter Folge, überlagert von Fahrgeräuschen.

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Vielleicht muß zurückgegriffen werden auf Metaphern von Ruß, kreischenden Rädern, wiederholten Bewegungen. Aber niemals sollte man eine Stadt mit der Rede verwechseln, die sie beschreibt. Man kann einem Straßenverlauf auf dem Stadtplan folgen, man kann ihn Meter für Meter abschreiten oder auch ein Stück mit dem Bus fahren oder mit der Straßenbahn. Man kann die Zeichen zu deuten versuchen, die sich einem darbieten im öffentlichen Raum. Man kann sich auch fragen, was sich unter dieser dichten Hülle von Zeichen verbirgt. Kompetenzagentur Südost. Ückendorfer Getränkemarkt. Sport – Spiel – Spannung. Der Imbiß Zur scharfen Ecke. Der Kath. Neustadt-Friedhof. Der Dienstleistungs- & Gewerbepark auf Flächen des ehemaligen Schalker Vereins. Wer erinnert sich an das Lichtspieltheater Odeon, das unter den Ückendorfer Kinos das vornehmste gewesen sein soll? Wer erinnert sich an den Ückendorfer Krug & die Gaststätte Merkentrup, wo es einmal einen Pächter mit dem Spitznamen “Bombenleger” gegeben haben soll? Wer erinnert sich an den Schnapsladen Dörr, an die Holzgroßhandlung Wagner & Hoppmann? Eine Reise in die Erinnerung. Sind die Bilder des Gedächtnisses aber erst mal mit Worten festgelegt, verlöschen sie. Die Zeitung vom Tage berichtet von einer Ölspur durch das Ruhrgebiet, Herne-Gelsenkirchen-Recklinghausen-Henrichenburg-Datteln-Waltrop. Vom Feuer auf einem Essener Schrottplatz & einer Rettungsaktion in der Hattinger Innenstadt am Sonntagvormittag. Davon, daß die Polizei einen Verwirrten in seiner Wohnung festgenommen hat & sich nun fragt, ob er sich & seine Tochter erschießen wollte. Davon schließlich, daß ein 37-jähriger, angetrunkener Mann am Wochenende in einem Schalker Hausflur randaliert hat. Vielleicht sind das aber auch nur gedachte Worte & Taten.

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In der parallel zur Ückendorfer Straße verlaufenden Spichernstraße liegt etwas versteckt die Spichernschänke, eng & klein in der ruhigen Wohnstraße. An diesem Novembertag ist dort eine Diskussion über Casinos im Gange. Der Wirt beschreibt die Gesichter, mit der die Spieler aus dem Casino in Hohensyburg wieder herauskommen, die er als Beweis dafür nimmt, daß man sich auf Glücksspiele besser nicht einlassen sollte. Darauf ein Gespräch über Handtaschendiebstähle in der Straßenbahn, im Supermarkt usf. Auf der anderen Seite, westlich der Ückendorfer Straße, führt die Bergmannstraße in ein Viertel mit geschlossener Gründerzeitbebauung. Behutsame Stadterneuerung in Ückendorf-Nord. Der Jägerhof ist eine Krawallkneipe. Vielleicht ist man nur zur falschen Zeit am falschen Ort oder im falschen Film. Wo früher eine Leber war, ist heute eine Minibar. Alkoholiker-Liedgut. Für ein Bier ist noch Zeit. Du tust mir leid. Ich bin schon wieder breit. Usf. Südlich dieses Viertels die beiden Parallelstraßen Flöz Sonnenschein & Flöz Dickebank, die gleichnamige Kolonie, deren Abriß in den siebziger Jahren von einer Bürgerinitiative verhindert werden konnte. Erbaut ab 1870; ab 1906 Abkehr vom gleichförmigen Siedlungsraster unter dem Einfluß der Gartenstadtbewegung; zweigeschossige Bebauung mit Hofbildung an der Ecke Virchow-/Knappschaftsstraße. Milieus, die angeblich geprägt sind von Nachbarschaftsbeziehungen mit den vielfältigsten Aktivitäten. In die Dunkelheit der Siedlung strahlt die Leuchtschrift der Eckkneipe Flöz Sonnenschein . Dort wird ein Generalstreik in Deutschland gefordert. In Frankreich gehen sie auf die Straße! Auch um Essen aus Dosen drehen sich Gespräche. Die Wirtin berichtet von Strategien, bei der Arbeit nicht abgefüllt zu werden. Auf einem Photo sind die “3 Grazien vom Flöz Sonnenschein” zu bewundern. Von einer abwesenden Frau heißt es: Sie ist zwar jetzt schwanger, malocht aber auch sonst nicht! Jemand will nicht mit dieser Frau auf eine Stufe gestellt werden. Jemand schimpft auf den ehemaligen scheiß Helmut Kohl. Jemand kennt sich nicht aus. Jemand könnte den Sachverhalt erklären, wenn er nur zu Wort kommen würde. Kurz vor 8 beginnt die Kneipe sich schon zu leeren.

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So entstehen vorübergehende Fassadenbilder. Der Ückendorfer Straße folgend in Richtung Norden. Zu gewissen Stunden & auf gewissen Straßenabschnitten kann es sein, daß etwas Unverwechselbares, Seltenes, ja Großartiges wie in Schemen auftaucht – eine Gestalt oder ein Fragment oder Blendwerk – & doch nicht zu fassen ist. Auf der linken Seite kommt der Ückendorfer Hof ins Blickfeld; Gesellschaftszimmer, Bierstube. Neben der Bierwerbung der Dortmunder Actien-Brauerei fällt eine weitere Leuchtschrift auf, die auf den Friseursalon von Karola S. hinweist & ebenfalls an der Fassade des Ückendorfer Hofs angebracht ist. Nun hat aber weder der Friseursalon die Kneipe in diesen Räumlichkeiten beerbt, noch umgekehrt. Es handelt sich vielmehr um eine Fusion beider Einrichtungen. Karola S. praktiziert zu bestimmten Zeiten im Ückendorfer Hof & ermöglicht den Gästen so einen Friseurbesuch, ohne dafür extra die Kneipe verlassen zu müssen. Die Gaststätte ist völlig überdekoriert. Auf den Servietten sind Eichhörnchen abgebildet. Die Toiletten sind hellblau gestrichen. Auf einer Kabine klebt ein Zettel: Defekt!!! Bitte die Wirtin fragen!!! Was aber wird die Wirtin dann tun? Sie hat ein Taxi für ein Ehepaar gerufen, das es schon kurz nach 18 Uhr für den Heimweg benötigt. Der Absacker hat sich sehr in die Länge gezogen. Bevor du einschläfst hier … & alles Vorstellbare kann geträumt werden. Hinter der Bahnunterführung, an der die Ückendorfer Straße im Norden endet, drückt das Wurzelwerk eines Baumes langsam eine Mauer weg.

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Florian Neuner

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HINWEIS

Im Kontext der von Florian Neuner herausgegebenen Zeitschrift IDIOME ( siehe hier und hier ) , tritt der Herausgeber als Moderator von Lesungen und eines Gesprächs über neue Prosa im Wiener Literaturhaus auf . Gäste sind Crauss , Ronald Pohl und Christian Steinbacher .
Prosawerkstatt IDIOME 09 – Literaturhaus Wien – Dienstag , 26. 5. 2009 , 19:30 H

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One Response to Salon Littéraire | Florian Neuner : Ückendorfer Straße
  1. Partisanenfragmente : ECHT!
    March 28, 2010 | 14h41

    [...] Als “Autor zwischen prosaischer Sprachkunst, queeren Subkulturen und literaturpolitischen Kämpfen” wird der Autor Florian Neuner in der aktuellen Testcard porträtiert. Neuner setzt sich aktuell mit dem Ruhrgebiet auseinander, weil es eine “kulturell noch relativ unschuldige, nicht so eindeutig besetzte Landschaft” sei. So ist der Westen. Eine Bahnunterführung bildet die Stadtgrenze. Eine Straßenbahnlinie, di… [...]

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