Dehli, Jänner 2010
Nicht selten stelle ich einen gewissen Argwohn gegenüber dem Reisen an mir fest, ein Misstrauen, das sich aus verschiedenen Quellen nährt.
Erstens. Als ich jung war, war man fest davon überzeugt, der Nord-Süd Konflikt werde sich entschärfen oder zumindest, dass man gemeinsam darauf hinarbeiten werde. Wenn ich jetzt, 50 Jahre später, hierher komme, sehe ich, es hat sich nichts entschärft, im Gegenteil, es ist meistens noch schlechter geworden. Die Armut ist nicht geringer, im Gegenteil, und die die Umwelt ist komplett kaputt. Der Forschritt also – wie Nestroy sagte – “schaut meistens größer aus als er wirklich ist”.
In diesem Fall kann nicht einmal dieser Trost mehr helfen. Es bedrückt einem, wenn man die hoffnungsfrohen Bilder, mit denen man ursprünglich gereist war, im schmerzlichen Widerspruch zur herrschenden Realität sieht. So trägt man stets das Gefühl eines Verlustes in sich: also eine Art VERSAGENSGESCHICHTE.
Etwas anderes ist es natürlich, wenn jemand hier etwas zu tun hat, oder etwas Nützliches bewirkt; dies ist die einzige gerechtfertigte Weise, sich hier aufzuhalten. Natürlich bin ich kein Fundamentalist, der deklariert “Reisen Verboten” oder so etwas… Allerdings würde ich nie mit einem Hawaii-Hemd angetan da irgendwo durch Indien fahren- Unvorstellbar.
Zweitens. Sie brauchen lediglich den Flughafen aufzusuchen. Speziell bei den Gepäckausgabebändern, wo jene Massen warten, die die Welt als eine Art Luna- Park benützen. Dank dicker Brieftasche kann heute jede Destination konsumiert werden. Und jede Dienstleistung.
Mein Widerwille zielt allerdings nicht nur auf “diese Leute”, sondern bezieht meine eigene Person darin mit ein. Das Resultat ist Argwohn gegen mich selbst und meine Antriebe. Ich frage, ja prüfe mich, “was willst du eigentlich dort, was zieht dich, wieso willst du unbedingt dort herumfahren ?” Da gibt es natürlich viele Antworten.
Drittens. Zum Massentourismus kommt heutzutage noch die neuen Medien wie das Internet. Zuvor konnte man ja wirklich weg-, fort- und verloren gehen und war damit quasi aus der (Alltags-) Welt hinaus katapultiert. Dahingegen kann man jetzt auf den Fiji-Inseln via Internet ebenso die österreichischen Zeitungen lesen wie in Wien. Was aber eben auch heisst, dass man sich selbst nie mehr ganz lösen wird können von dem, was daheim geschieht, womit auch die Erfahrung des FREMDEN preisgegeben wurde und verloren gegangen ist.
Ein anderes Beispiel: das Telefon. In meiner Jugend musste man Ferngespräche z. B. nach Rom vorher anmelden. Also meldete man sich frühmorgens für so ein Gespräch an, dann hiess es “Warten” und irgendwann am Nachmittag kam das Gespräch dann tatsächlich zustande. So erschienen einem die Orte wirklicht weit, weit weg. Heute hingegen spaziere ich mit dem Handy in Rom herum und bin ständig “mit meinen Lieben daheim” (oder mit wem auch immer) verbunden. Diese Ubiquität nivelliert natürlich das Gefühl der “Fremde” und des “Fremdseins”. Man kann praktisch überall sein und verbunden bleiben mit der kleinen Alltagswelt daheim.
All dies sind psychologische Effekte, die bei unseren Kindern und Kindeskindern viel stärker noch hervortreten werden. Meine Generation musste ja alles neu lernen – ich bin ja selbst durch das Internet “kolonisiert”. In meinem fast 65-jährigen Leben haben sich ja alle die technischen Kolonisierungen vollzogen: Telefon, Fernsehen, Internet. Dahingegen erinnere ich mich an meine ersten Amerikafahrten, wo man wirklich ein Monat lang von niemandem etwas gehört hat außer vielleicht durch einen Brief. Das Telefonieren war so teuer, dass man sich jeden Anruf 57 Mal überlegte –
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