Wien , 10. 3. 2010
Nachdem der Schlaf die wichtigste Auskunft zu geben scheint über das Innenleben eines fassadenhaft, distanziert sich benehmenden, psychisch leidenden Menschen, erschrak ich über meine eigenen Schlafstörungen und derer von mir als normal empfundenen Zustand steter Schwächung. Ich hätte mich gleich in den Sesselkreis zur Morgenrunde setzen können und mich unter den Patienten einreihen, dann hätte ich meinen Humor ausleben können, für den ich oft missverstanden werde. Während der eine hübsch aussehende junge Mann, schwer depressiv, dichtes, schwarzes Haar und samtige Augen habend, verkündete, dass er sich wieder beim „Hirntschechern“ ertappt hatte, wäre ich beinahe vor Begeisterung über die Wortschöpfung vom Sessel gefallen.
Da ich mich entschlossen hatte Praktikanten in psychotherapeutischer Ausbildung adäquat zu verhalten, nahm ich Stift und Papier und schrieb das Wort nieder, was mir in meiner Verlorenheit als Praktikantin in der Psychiatrie Halt und Denkzielersatz anbot.
Denken geht in eine Richtung, das nicht Ziele setzt sondern Bewegung ins Jetzt bringt. Davor kann man auch Angst haben. Blockaden entstehen schnell, auch durch Schreiben wider die Selbstzensur. Außerdem unterliege ich der Verschwiegenheitspflicht über die Gesprächsinhalte und Identität der Patienten. “Hirntschechern” bedeutet für mich, sich am Gedankenkreisen betrunken machen. In der Praktikumszeit drehten sich die immergleichen Fragen um Herkunft, Beziehung zu Familienmitgliedern, soziale Eingebettetheit, um auf die Erfahrungen des Patienten zu stoßen. Dabei kann man sich als Echolot begreifen, und ich rückte gegen die Armut im sprachlichen Ausdruck der Gefühle auf deutsch näher, weil die nonverbalen Anteile von Sprache Mimik, Gestik, Lautstärke, viel eher ein Wahrnehmen des anderen ermöglichen als Worte. Ich entwickelte ein Gespür für mich selber und verstand mich so auf das Gegenüber, wenn mir die Gefühle aufstiegen. Man redet miteinander wie zwei Kulturen.
Die Achtung ist das Interkulturelle. Das “Transkulturelle” ist der Versuch einer Gefühls-Wahrnehmung des Erfahrungshintergrundes des Patienten im eigenen Repertoire der Gefühle zu suchen. Wer sich dann therapeutisch auskennt, kann dem Patienten Medizin sein.
Polnische und Südafrikanische Hintergründe meiner Gesprächspartner weckten das Interesse für Landstriche und Kulturen, die jenseits ihrer Schilderung und wahnhafter Verarbeitung subjektiver Erfahrung getränkt, zu besuchen seien. Quasi um Nachschau zu halten, ob man den Riss in der Herkunftslandschaft noch auffinden kann und kitten, damit die Gespenster zur Ruhe kommen und der Mensch heilt. Ich beschloss den Blick auf die Erscheinung und Topographie des verlorenen Raums und der Zeit zu richten. Tief in mir spüre ich die Abneigung gegenüber dem Fremden, weil es verlangt, sich mit ihm auseinanderzusetzen, in Begegnung zu treten, gegnerschaftlich zu sein, also unvergleichlich man selbst. Das Fremde erzeugt in mir Spannung. Damit ist der Stress gemeint, dauernd wer Bestimmter zu sein, den ich bestimme. Dazu gehören Mut und gute Nerven. Vielleicht ist der unheimliche Zustand mit einem Besuch von Geisterstädten zu vergleichen. Man muss wissen, wer man ist, wo es rundherum spukt.
Widersprüche gehören in jedes Lebensalter. Sie aufzulösen ist die Aufgabe der menschlichen Reifungsprozesse, was einer Reise ins Alter gleichkommt, wo die Rückbildung ab 45 beginnt.
Zur Kultur gehört das Wie. Wir kauen mit geschlossenen Mündern und benützen die Messer mit der rechten Hand. Wie fühlt sich Fremde an? Trennung von Elternhaus und gleichzeitig Bindung an fremde Menschen. Wie fühlt sich Fremde gegenüber intim aufeinander bezogenen Personen an?
Familienzusammenführung als Verschleppung empfunden, kann beispielsweise für die junge Patientin dazu geführt haben, dass sie ihre Mutter als Peinigerin abstempelt. Aussichtslose Verhältnisse zwangen die damalige junge Frau das Kind zurückzulassen und im Ausland Arbeit zu finden. Polen mit seinem Wirtschaftsdesaster, Arbeitslose und Pensionisten. Junge Frauen gehen putzen nach Wien. Die Brücke zur Mutter wird durch die Erzählung von ihr gebaut. Das Kind fügt sich ein und die Welt passt zusammen. Bezugspersonen und Freunde und eine Sprache. Alltagskultur. Dann kommt der Tag an dem die Mutter über diese Brücke zurückkehrt. Sie ist eine Fremde und will geliebt werden wie eine Mutter. Sie hat alles für das Kind getan. Sie nimmt einen mit und hier gerät die Welt aus den Fugen. Nichts stimmt mehr. Die Sprache, die Umgebung, das an die Mutter gebunden sein, steht im Widerspruch zu den Aufgaben einer Adoleszenten Pubertierenden sich unter allen Umständen von der Mutter zu lösen, um gesund erwachsen zu werden. Der Konflikt steigert sich durch jede mütterliche Fürsorge, bis diese als übergriffiger Missbrauch zu deuten ist. Die Jugendliche ist fremd besetzt und mit einem scharfen Blick für Grenze kann sie nicht mehr sagen wer sie ist.
Unabhängigkeit ist unerreichbar und das spricht gegen die Entwicklung der Adoleszenz. Sich abzuspalten oder Teile von sich führen in die Ausformung eines schizophrenen Zustand der Verwirrtheit, oder es wird die Flucht in die Droge angetreten.
Der Hass meiner Gesprächspartnerinnen stempelte die Mütter zu Sündenböcken. Eine ganze Herde von Sündenböckinnen hätte ich da zusammentreiben können und als ihr Hirte vorstehen. Was für Wut muss eine Migrantin aushalten, deren Kind ihre Leistung hier in Wien reüssiert zu haben nicht anerkennt, und nicht einmal anerkennen kann, weil es durch mütterlichen Egoismus erkrankt ist. Nun darf sie dabei zusehen, wie sie ausgerottet wird, als wäre sie, die Lebensspenderin, die Wurzel allen Übels. Früher ging sie von selbst ins Ausland, jetzt wird der Traum von ihrer idyllischen Familie endgültig vernichtet und aus jeder rettenden Illusion beraubt.
Wie fühlt man sich da in Wien, wo Auschwitz ein Ort ist, in dessen Nähe ein zu Hause war?
Die persönliche Geschichte ist eingebettet in österreichisches Hier und Jetzt. Brechts Spruch vom Schoß, der noch fruchtbar sei, aus dem die Nazis kröchen ist eine sexistische Verhetzung der Frau. Die Gebärmaschine der Politik zeugt das Grausen der Verhetzung und ist Nestbeschmutzung.
Rassistischen Zuschreibungen war die junge F. ausgesetzt. Mischling. Absolute Untreue des Vaters brachte ihr eine unüberschaubare Halbverwandtschaft in Afrika und Niederösterreich ein. Die Mutter der jungen Frau stammte aus einer Nazifamilie, rebellierte gegen den perpetuierten Rassismus im Haus. Sie ließ sich mit einem schwarzen Fremden ein und hat nun eine psychotische, drogensüchtige Tochter. Für F. ist die Welt schwarz-weiß gemalt. Sie wird von einer “Obrigkeit” zusammengehalten, zu der F. einen direkten Draht hat. Sie sei eine Hexe. Hexen gibt es nicht.
Sie leidet an Liebeskummer und steht in Kontakt zum Geist des Geliebten. Er steckt im Körper eines dreijährigen Kindes, das gestern zu Besuch war. Sie hätte ihm auf den Mund geküsst.
Und so gehen die Reize hin und her. Leider geschah es dann, dass das Mädchen zur Droge griff. War es nur das Kiffen? Der Schädel gibt dann den Rest, wenn so viel Energie zu spüren ist. F. fühlt sich von Vogelstimmen gemeint.
Nachmittags kommt die Mutter, sie holt die Tochter zum Spaziergang ab. Den Vater gibt es schon lange nicht mehr.
Die erlebte Geschichte dieser Frau wirkt auf mich schwer zu ertragen, die Sorge, die unbewältigbare Sucht der Tochter, der ungewisse Verlauf ihrer Erkrankung, wie geht diese Frau damit um, wer versteht sie und wer versteht, was eingeredet wurde und wer klärt die Tochter über animistischen Glauben und keltische Mythologie auf, hilft ihr aus tradierten Versatzstücken ein rationales Gefüge zusammenzusetzen. Was ohnehin kaum möglich ist, da Religion eine wahnhafte Illusion darstellt.
Transkulturelle Psychoanalyse erforscht die Zusammenhänge der faszinierenden Weltbilder, die Konsequenzen aus Trennung und Spaltung durch private und politische Verhältnisse die den Menschen in seiner Entwicklungen stören und fördern. Es ist ein Segen freiwillig aufbrechen zu können. Die geplante Reise nach Südafrika ist mir zu weit. Meine Zeit ist zu begrenzt. Beschäftigung mit Fragen der Wirtschaft, sozialpolitischer Konsequenzen und Auswirkung der Migration müssen am Beispiel Polens genügen.
Verlust von wichtigen Bezugsmenschen, von Gewohnheiten an Raum und Zeit, gleicht dem Einsturz eines Gerüsts. Leere, Chaos, Nichts. Als würde einem Kristall seine kristallinen Struktur entrissen. Dem Berg sein Felsen. Als würde Gestalt von seiner Gestaltung getrennt. F. sieht sich als Prinzessinnen, denn Prinzessinnen haben Diener und Ansehen. Alles das, was F. nicht hat, gäbe es keinen Rassismus, dafür Respekt und “verantwortete Schuld” (Helmuth Figdor)¹, wäre ihre Entwicklung vielleicht anders verlaufen. So konstruiert sie sich eine Brücke zum lebbaren Wahn.
Kapstadt und London sind Zentren der Neuropsychoanalyse. Die Opfer und nachgeborenen von Migration, Apartheidpolitik, Krieg, Kolonialismus und Neokolonialismus spiegeln die Spaltung und Dissoziation der Gesellschaft durch psychotische Politik. Was kann die Neuropsychoanalyse gegen Angst und daraus resultierender Wut in Rassismus und Xenophobie, in Sozial und Demokratieabbau tun? Über die Grundstrukturen des Menschseins aufklären, politisch Wahnsinnige, zur Krankheitseinsicht bringend entschärfen.
Ich könnte auch nach Rest-Jugoslawien fahren, Belgrad. Die Arbeitsmigranten der 70 Jahre stellten den größten Patientenanteil der Schmerzambulanz im Wiener allgemeinen Krankenhaus dar. Schmerz ist eine ebenso subjektive Angelegenheit wie Weltbild, Geschmack, Glauben.
Die Arbeitsmigranten waren schlecht ausgebildet, aus sozial unterschichtigen. ländlichen Familien armer Gegenden. Sprachlicher Ausdruck war von Haus aus karg und nicht elaboriert. Verarmt in der Muttersprache, bedeutet erschwerten Erwerb einer Fremdsprache. Der Wortschatz verebbt weiter.
Fuhr nach Michelbeuern, ins AKH um das Gespräch mit einem Schmerz-Spezialisten der Psychiatrie zu führen. Er legte mir einen Spaziergang im moslemischen Teil des Zentralfriedhofes nahe, wo viele Ex-Jugoslawen bestattet seien. Auf den Grabsteinen ließe sich ablesen, wofür die Menschen gelebt hätten. Was ihnen das Leben wert gewesen war. Eine Villa. Ein Mercedes. Zumeist lebten die Leute im Substandard hier, und hatten ihre Landsitze in der Herkunftsheimat erbaut, doch im Krieg zumeist verloren.
Heute macht den Großteil der Patienten der transkulturellen Psychiatrie kriegstraumatisierte Ex-Jugoslawen aus. In muttersprachlich geführten Schmerz-Bewältigungs-Gruppen erfahren die Leidenden, dass Schmerz nicht gleich Schmerz ist, dass hinter einem Schmerz eine psychische Erkrankung stecken kann. Linderung ist erlernbar und die Methode wird in den Gruppen erarbeitet.
Der Grad der Grausamkeiten durch Ächtung, Vergewaltigung, Folter kann in Worten nur Amery zum Einleuchten bringen: Auf seiner Haut darf der Mensch nur spüren, was er will, um nicht das Vertrauen in die Welt zu verlieren. Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Ist zu ewigem Exil verbannt.
Bilderwellen vom Erdbeben des zerstörten Haiti überschwemmen die in hinterste Gehirnkammern verdrängter Ängste und Wüte und spülen die Affekte hervor, überschwemmen das Gemüt und bringen das Leiden in Gestalt von Kriegserinnerungen, Flashbacks, Panikattacken.
Der Schmerz kann auch chronisch sein.
Für den behandelnden Arzt oder Therapeuten ist das Schmerzmodell zu ergründen. Fehlsignale, als die sich der Schmerz erweisen kann, sind keine Warnsignale für physische Erkrankung.
In der psychischen Edukation wird der Patient – und hier verzichte ich nicht nur aus sprachökonomischen Gründen auf die genderisierte Form “PatientIn” , denn ich nütze das Maskulinum als Abgrenzung von mir – in Entspannungstechniken geübt, um Schmerzkontrolle zu übernehmen und die Unterschiede zwischen Fehl und Warnsignal zu erkennen. Aufklärung beruhigt.
Traumatisierungen und Auswirkungen körperlicher Misshandlung auf die Psyche eines Individuums kann die Medizin nicht ausreichend erklären.
In den Anästhesie-Schmerzambulanzen werden Patienten vorstellig, um sich schmerzstillende Mittel zu besorgen, die wiederum zu Sekundärschäden auf organischer Ebene führen können. Patienten der Schmerzambulanz werden von Psychiatern besucht und über psychotherapeutische Möglichkeiten informiert, um die Hemmschwelle vor der Institution Psychiatrie herabzusetzen. Mundpropaganda.
Was ist Schmerz? Was ist schmerzhafter?
In der Ethno-Medizin werden Listen geführt, die Schmerz und Krankheit klassifizieren. Demnach werden Blindheit und Verbrennung nach einem psychosozialen Schmerzmodell nicht nur unterschiedlich bewertet, das Handicap wird als schmerzhafter eingestuft, als eine Verbrennung. Blindheit tut bei uns nicht weh.
Für den behandelnden Arzt bleibt die Herausforderung, sich der Leitlinien und persönlichen Vorurteile bewusst zu werden, um gegebenenfalls noch stark emotionale Trauerprozesse von Gefahren einer Schizophrenie zu unterscheiden.
Psychopathologische Symptome über einen Kamm geschoren, lassen die Halluzination und Dialoge mit Verstorbenen in den Phantasien der Patienten allzu schnell als psychotisch werten, weiß man nicht über die Tradition einer Kultur Bescheid.
Doch ist eine Kultur nicht eine Kultur, jeder Mensch ist eine. Das Übertstülpen von kulturellen Zuschreibungen eines ethnozentrischen Blicks ist die größte Gefahr der transkulturellen Psychiatrie. Ein an der Adria Hotels besitzender Kroate wird anders drauf sein, als ein nach Wien migrierter kroatischer Supermarkt-Verkäufer.
Aus Versatzstücken des Glaubens, der Zeitalter und Weltbilder konstruieren wir individuelle Deutungs- und Lebensmuster. Flexibilisierung und Individualisierung der Globalisierung benötigen als Konstante Einfühlungsvermögen in den Wahrnehmungs- und Erfahrungshintergrund des Einzelnen.
Integration meint, sich etwas Neues zu schaffen und auf Tradiertes zu zugreifen. Schwer genug für einen gesunden Menschen, sich im arbeitsteiligen Erwerb von Realität und Bewertung durch die Gesellschaft sich als erfolgreich zu erweisen. Wie schwer erst ist diese Identitätsbildung zu vollführen, wenn psychisch, physische Beeinträchtigung vorliegt. Migration ist zudem ein dynamischer Prozess, beginnt mit leistungsstarken Jahren, fließt in die Dekompensationsphase und mündet mit Glück in abgeklärte Stabilisierung, Akzeptanz und Akkordanz. In Sinfonie.
¹ Helmuth Figdor: Scheidungskinder. Wege der Hilfe – Psychosozialverlag, Gießen 1998
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