Oberwart, 10. Mai 2010
Wenn sich auf dem Wechsel eine slowenische Stimme in die Musik des österreichischen Kultursenders mischt, den sie nach dem Wechsel verdrängt haben wird, geht es Richtung Süden. Die Sonne scheint, verschiedene Grüns heben sich voneinander ab, ich atme auf. Reisen, ja, wieder. Ich sehe die Grenze vor mir, davor eine hoffentlich kurze Autoschlange, schon rieche ich die Nadeln der Pinien, leicht verbrannt: Der Sommer beginnt mit einem Geruch. Reisen, ja, ans Meer, am Strand liegen, Fisch essen, Wein trinken, lesen, ein wenig schreiben – und zwar nur das, was geschrieben werden will. Rovinj, denke ich, auf den Felsen, Blick auf die Stadt. Wofür heißt die Südautobahn Südautobahn?
Vorerst aber Zwischenstation auf dem Balkan, wie ich mein Burgenland nenne, das durchaus verschieden ist von der Wirklichkeit oder der repräsentierten Wirklichkeit des schmalen Streifens Land, aus dem ich komme. Ich sitze in Oberwart, im Garten, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, eine junge Frau aus Rumänien hängt die Wäsche meiner Großeltern auf die Leine. Sie kümmert sich um meine kranke Großmutter, nachdem mein Großvater das nicht mehr alleine schaffte, Tag für Tag, alle paar Monate wechselt sie sich mit einer Kollegin ab. Es ist nicht viel Geld für eine Arbeit, die keine Unterbrechung kennt, aber es ist viel Geld für Rumänien, wie es heißt. Beides stimmt, und der Widerspruch ist der Widerspruch, der in der Welt ist. Ich nenne ihn immer noch Kapitalismus.
Reisen, ja. Als ich letzte Woche nach Düsseldorf flog (um mit den österreichischen Autoren bei einer Autoreneuropafußballmeisterschaft siebter von acht zu werden), am Gate noch die letzten E-Mails beantwortete, bevor ich mich hinter einer Zeitung verschanzte, fiel mir ein, dass ich in diesem Jahr schon knappe zwanzig Mal geflogen bin. Ein Klimasünder ersten Ranges! Mein Streichelinstitut ist eröffnet, der erste Trubel vorbei, eine Reihe Lesungen absolviert. Obwohl dies das falsche Wort ist: absolviert. Ich lese noch immer gern aus diesem Roman, auch wenn ich manche Stellen längst ohne Buch lesen könnte. By heart, wie es so schön heißt im Englischen.
Samstags, als ich über Michaelerplatz und Heldenplatz Richtung Neubau schlenderte, begannen sich die ersten Sätze zu meiner Geschichte oder Reportage, oder wie immer man den Text nennen will, der von der Erfahrung einer Reise berichten soll, im Kopf zu formen. Rekonstruktion einer Reise, Wiederbelebung einer Erfahrung. Darum geht es doch beim Reisen: sich anders wahrzunehmen, Anderes zu entdecken, unter anderen Umständen – und gerade dadurch wieder auf das Eigene zu kommen. Immer mehr kämpfe ich mit dem Gedicht Brechts, das Radwechsel heißt und als Signatur einer konkreten historischen Erfahrung oder als subjektiver Befund gelesen werden kann: Ich bin nicht gerne, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gerne, wo ich hinfahre./ Warum sehe ich den Radwechsel / Mit Ungeduld? Ich wechsle Räder und Wege, um anders zurückzukommen. Was mir aber wichtiger als das Ab und An erscheint, wichtiger als Herkommen und Hinfahren, ist das Dazwischen, das Unterwegssein, die eigentliche Reise.
Nun also die Reise in die Vereinigten Staaten zurückholen, ins Gedächtnis rufen, nachdem ich in der Zwischenzeit mit anderem beschäftigt war. Das Notizbuch und die Tonaufzeichnungen will ich erst dann zu Rate ziehen, wenn das Gedächtnis geleert ist, wenn die Erinnerung nichts mehr preisgeben will. Ich habe etwas gesucht, das es nicht mehr gibt. Ich bin erstens zu spät und zweitens, wie man mich ständig versicherte, zur Unzeit in die Vereinigten Staaten gekommen, um die ausgewanderten Burgenländerinnen und Burgenländer kennenzulernen. Trotzdem habe ich viel gefunden. Vielleicht auch deswegen. Die Pläne kommen von selbst, werden von der Reise geschrieben.
Schreiben ist wie Reisen. Schreiben ist, wie Lesen, eine Form des Reisens. Man weiß ungefähr, wohin es geht – der Rest ereignet sich, wenn man offen ist. Oder auch nicht. Als ich zu Silvester nach Mallorca flog, lachten Martin und ich über das Pärchen neben uns. Er hatte den Reiseführer (das Wort sei in der DDR verboten, lernten wir im Gymnasium) für Barcelona in der Hand, sie einen Tages- und Stundenplan, in dem fein säuberlich verzeichnet wurde, was wann wie lange zu besichtigen sei. Aus den Augenwinkeln, Proseccotrinkend, fanden wir kurze Mittagspausen, die viel zu lang waren – in denen man doch noch etwas hätte unterbringen können! Fleißig sein muss sich lohnen, las ich auf den Wahlplakaten der ÖVP, als ich auf den Balkan, ins Burgenland kam. Revolutionär, dachte ich: Wenn die, die fleißig sein müssen, weil ihnen keine andere Wahl bleibt, dafür be- oder entlohnt würden, sähe es anders aus auf der Welt.
Ich bin ein fleißiger Arbeiter im Buchstabengarten, der sich nach dem Meer sehnt. Und nach dolce fa niente. Reisen, ja, wieder. Bald.
P.S. Während ich diese Zeilen schrieb, zog ich mir den ersten leichten Sonnenbrand des Jahres zu. Schön, eigentlich.
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Hi Clemens!
It took a fractured bone in my leg to slow me down from my mundane chores at home – reconstruction of the basement, etc. So, as I cool my heels, as it were, in Cancun I have time to catch up with your blog.
First of all, it is a joy to read your travelogue. I am honored to know someone who writes so well. Had no idea you played soccer, good enough to participate in the Autoreneuropafußballmeisterschaft. Now that’s what a call a decent word of the German variety! Better 7th out of 8th than not have played at all, wouldn’t you say?
To your comments about das Unterwegssein we would say here: “What’s important is not the destination but the journey.” I hope that the continuation of your journey was as interesting as the description of its beginning indicated.
Greetings from sunny Cancun.
Emmerich