||| GENAZINO UND DIE HÖLLE DES GEWÖHNLICHEN | HANS FALLADA : KLANDESTINE KASSIBER | KRISTÍN STEINDÒTTIRS «LEBEN IM FISCH» | KLANGAPPARAT
GENAZINO UND DIE HÖLLE DES GEWÖHNLICHEN
czz – Mit seiner «Abschaffel»-Trilogie (1977–79) hat sich Wilhelm Genazino als Chronist jener Spezies bewährt, die man heute schon ein wenig altmodisch «Angestellte» nennt. Hatte Siegfried Kracauer in seinem Essayband «Die Angestellten» 1930 eine neue Formation von Arbeits- und Lebenskultur skizziert, nimmt Genazino den Faden gegen Ende der prosperierenden Arbeitnehmer-Gesellschaft auf und führt literarisch meisterlich im Individuum den Typus und im Typus das Individuum vor. Heute, da Beschäftigungsverhältnisse «prekär» oder «untypisch» geworden sind und der «flexible Mensch» (Richard Sennett) gefragt ist, verdienen Genazinos nun in einer Autorenlesung vorliegende literarische Studien besonderes Interesse.
Hatte Kracauer das ausserbetriebliche Leben der Angestellten unter dem Stichwort der «Zerstreuung» subsumiert, folgt ihm Genazino, indem er die zerstreuten Teile einsammelt und zu Figuren zusammensetzt. Eine solche Figur ist Abschaffel, dem – gemäss Dienstplan – nicht einmal ein Vorname zugestanden wird. Strikt nach Arbeitstakt schwenkt das Pendel zwischen den öden Routinen im Grossraumbüro und den privaten Getriebenheiten des fundamental Einsamen hin und her. Egal ob die ihm unterlaufenden Personen, Passanten und Paare nun alt oder jung, schön oder hässlich sind: Abschaffels empathieloser Blick registriert jede Schwäche, ohne daraus Stärke zu ziehen.
Es liegt ein Grauschleier über diesem Leben, dessen Unglück wunschlos ist und das – mangels Fallhöhe – nicht das Zeug zur Tragödie besitzt. Genazinos helle und bewegliche Stimme bestätigt bei aller Resignation, dass er «seinen» Abschaffel nicht denunziert, sondern diesem durchaus Chancen gäbe, wäre da ein Wille zur Gestaltung. Entsprechend lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass ein solcher Wille in der Mühle des Büroalltags zwangsläufig mürbe würde. Gleichwohl gelingt es Wilhelm Genazino, den Hörer ebenso für seinen Antihelden zu interessieren wie für jenes seltsam missliebige Aggregat, das diesen Angestellten ständig umgibt. Selten tönen Nachrichten aus der Hölle des Gewöhnlichen so differenziert, so detailliert, so dicht. ( page )
-
Wilhelm Genazino liest Abschaffel – 5 CD (380 Min.) – HR | Eichborn 2011
|||
HANS FALLADA : KLANDESTINE KASSIBER
czz – Galt Hans Falladas «Jeder stirbt für sich allein» früh schon als erster deutscher Roman eines Nicht-Emigranten über den Widerstand gegen Hitler, hat es doch immerhin 64 Jahre gebraucht, bis die Originalfassung des Typoskriptes ohne redaktionelle Streichungen nun im Frühjahr 2011 erschienen ist. Das auf authentischen Prozessakten zum Fall des Ehepaars Hampel beruhende 700-seitige Werk entstand in nur einem Monat kurz vor dem Tod des psychisch und physisch ausgezehrten Autors.
Bei Hans Fallada sind es Anna und Otto Quangel, denen ein Standard-Feldpostbrief kalt bekanntgibt, der gemeinsame Sohn sei «auf dem Felde der Ehre» gefallen. In ihrem Schmerz und ihrer Aufruhr angesichts der schalen Phrasen zetteln diese «kleinen Leute» privatim eine aktive Widerrede an, die ihresgleichen sucht: Auf Postkarten werden – handschriftlich und anonym – Parolen gegen das NS-Regime verfasst und die Karten in den Treppenhäusern ganz Berlins heimlich hinterlegt. Ein Gestapo-Kommissar geht dem Fall dieser Kassiber nach und kann seine Berlin-Wandkarte mit nahezu 300 Fähnchen für die Fundorte spicken. Dabei wird grausam augenscheinlich, dass nahezu alle diese Unikate bei den Behörden abgegeben worden waren: Das mutige Kalkül einer auch noch so begrenzten ideologischen «Unterwanderung» muss sich gegenüber dem vorauseilenden Gehorsam der Mitbürger geschlagen geben.
Als Sprecher dieses hoch emotionellen Werks hält sich Ulrich Noethen mit hauchzartem Sarkasmus wirkungsvoll zurück, allenfalls eine böse belfernde Berliner Schnauze gebend. ( page )
-
Ulrich Noethen liest Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein – 8 CD (563 Min.) – RBB | Osterwold-Audio bei Hörbuch Hamburg 2011
|||
KRISTÍN STEINDÒTTIRS «LEBEN IM FISCH»
czz – Als Handelsplatz wurde das ostisländische Städtchen Seydisfjördur von den Dänen gegründet, es erlebte in den 1890er Jahren einen ersten Boom durch die norwegische Heringfischerei, war im Zweiten Weltkrieg Stützpunkt der Alliierten, bis die Wiederkehr der Heringschwärme ab 1961 die Gemeinde langsam an die Moderne heranschob. So frugal das Leben im Fjord anmutet, wo die Sonne für fünf Monate hinter den Bergen verschwand, wo harte Arbeit Alltag war und der Speisezettel aus Fisch, Kartoffeln und Steckrüben bestand, so aufregend stellte sich diese Welt dem heranwachsenden Kinde dar.
Wenn die 1946 geborene Kristín Steinsdóttir aus ihrer Kindheit erzählt, wird jedes Ereignis zum Quell lebensfroher Geschichten. Von der Akkord-Bravour des jungen Mädchens beim Einsalzen von Heringen über die turbulenten Kinovorstellungen in einer Holzbaracke bis zum Tanz mit den bei Schlechtwetter in den sicheren Hafen im Fjord eingelaufenen Bootsleuten. «Und ich sag Euch», hebt die quicklebendige Rhapsodin in ihrer klaren, von isländischen Lauten behauchten Sprache an, setzt in Dutzenden von Episoden ein Mosaik des konkreten Lebens im Fjord zusammen und lacht jede Anmutung von Nostalgie selbstironisch fort.
Wo jede Hand beim Verarbeiten von Hering, Kabeljau und Dorsch gefragt war, lebte und arbeitete jedermann – wie es hiess – «im Fisch». Jeder Fangtag konnte Überfluss bringen oder Flaute, in den langen Stunden des Wartens oder bei der eintönigen Arbeit wurde gesungen oder eben erzählt, seien es Schnurren aus dem Städtchen oder Motive aus der Mythologie. Im Echo von Kristín Steinsdóttirs Erinnerungen wird nachvollziehbar, wie die Imagination eine steinige Welt bilderreich überblüht. ( page )
-
Leben im Fisch: Kristín Steinsdóttir erzählt das Island ihrer Kindheit – 3 CD (190 Min.) – Supposé 2011
|||
KLANGAPPARAT
Den Traktor für den Alltag startklar macht heute der Düsseldorfer Musiker , DJ und Producer Matt Flores : Charakteristisch für seinen “disseldub” ist die Orientierung an traditioneller Percussion , die in bassige Sequenzer kippt und von dort aus eine mediative Reise durch minimalistische Akkorde antritt . Das hat Zeit und strebt nichtsdestoweniger unablässig voran : 58 Minuten zur akustischen Mobilisierung des geduldigen Arbeitstiers -
|||