herbst , Nietzsche | blatt aus der rolle der zeit

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||| ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE IM AUSSERMORALISCHEN SINN | BEGRIFF | VERGESSEN |

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ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE IM AUSSERMORALISCHEN SINN

Friedrich Nietzsches 1873 entstandener ( allerdings erst postum veröffentlicher ) Essay : “Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne” seziert den menschlichen Metaphernzwang , indem er jedes Blatt berührt : Es ist der Ort , wo sich sujektives Empfinden und gesellschaftliche Achtung / Ächtung treffen . Ein Universalienstreit unter der Sigle Darwins ? – Nietzsche :

Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe. Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, daß es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, daß heißt streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muß.

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BEGRIFF

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Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das “Blatt” wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre.

Eine unserer in|ad|ae|qu|at|en Lieblingsstellen stammt allerdings aus dem ersten Paragrafen des grundlegenden Aufsatzes “Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben” . Hier erscheien ex negativo Flora und Fauna als dem Menschen überlegene Instanzen , welchen das Prvileg und die Gnade des Vergessens a priori einprogrammiert ist .

Nietzsche ( hervorhebungen czz ) :

Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig.

[ ... ]

Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Tiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Tier. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so daß der Mensch sich darob verwunderte.

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VERGESSEN

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Im Grunde geht es um das klassische Paradox vom absichtlichen und vorsätzlichen Vergessen , das als solches unmöglich ist . Und Nietzsche gebraucht ein – siehe oben zur Metaphorik ! – besonders inniges Bild .

Nietzsche :

Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort – und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schoß. Dann sagt der Mensch »ich erinnere mich« und beneidet das Tier, welches sofort vergißt und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und auf immer verlöschen sieht.

So lebt das Tier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne daß ein wunderlicher Bruch übrigbleibt, es weiß sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das, was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich.

Der Mensch hingegen stemmt sich gegen die große und immer größere Last des Vergangenen: diese drückt ihn nieder oder beugt ihn seitwärts, diese beschwert seinen Gang als eine unsichtbare und dunkle Bürde, welche er zum Scheine einmal verleugnen kann, und welche er im Umgange mit seinesgleichen gar zu gern verleugnet: um ihren Neid zu wecken. Deshalb ergreift es ihn, als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, die weidende Herde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch nichts Vergangenes zu verleugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt. Und doch muß ihm sein Spiel gestört werden: nur zu zeitig wird es aus der Vergessenheit heraufgerufen. Dann lernt es das Wort »es war« zu verstehen, jenes Losungswort, mit dem Kampf, Leiden und Überdruß an den Menschen herankommen, ihn zu erinnern, was sein Dasein im Grunde ist – ein nie zu vollendendes Imperfektum. Bringt endlich der Tod das ersehnte Vergessen, so unterschlägt er doch zugleich dabei die Gegenwart und das Dasein und drückt damit das Siegel auf jene Erkenntnis – daß Dasein nur ein ununterbrochenes Gewesensein ist, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen.

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3 Responses to herbst , Nietzsche | blatt aus der rolle der zeit
  1. Ludwig Janssen
    October 31, 2013 | 10h24

    :)!
    Ein wunderschönes, poetisches, inspirierendes Herbarium.

    “…
    Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so daß der Mensch sich darob verwunderte.
    …”

    Vor Jahren hätte ich in die Hände geklatscht und das Gefühl gehabt, nie wieder etwas schreiben zu können, hätte die Seligkeit der Nähe zum sich nicht kümmernden Tier gepriesen, heute rührt gerade das Vergessen in dieser Allegorie mich an, sehe ich doch viele Menschen zurückfallen in stille Zeiten ohne Großhirn, das Vergessen, aus der Sprache heraus – und ihr Verzweifeln, ihr Verkümmern, ihren Kummer.

    Vielen Dank für die Inspiration!

  2. Alexander Peer
    October 31, 2013 | 11h40

    passend zu Methapernobsession, Zeit und Identität und vor allem zu Nietzsche

    “Flamme bin ich sicherlich, aber nicht du verbrennst dich an mir, sondern ich brenne ab … seit Jahren schon, wie lange wird da noch Wachs an meinem Docht sein? Mein Flammenwächter heißt Dionysos, er ist keiner, der sie zügelt; Apollo ist nur ein Statist; er wird es nie zum Chefdramaturgen in meinem weiten Land bringen. Nie! Nie! Nie! Und wenn ich morgen tot bin, heute aber lebe ich! Ich eilte zu Rebecca.”

    Siehe Aleander Peer >>> “Bis dass der Tod uns meidet” , Roman – Limbus 2013 .

  3. czz
    November 1, 2013 | 05h30

    zur >>> dialektik von erinnern und vergessen könnte man fragen , ob der erinnern- vergessen- komplex ( EVK ) für ein menschenleben differenziert genug sei ( siehe die sechs lebensalter der kirchenväter : infantia – pueritia – adolescentia – iuventus – gravitas / senior – senex .
    anfangen sollen / wollen menschen alter lebensalter ; im laufe schon kurzer zeit könnte man mittelfristig an gruppen oder generationen- prortraits denken .

    @ tier & kitsch
    ( passt , nebenbei bemerkt auch zur reihe “wesen vor tapeten” )
    gesetzt den fall , dass ein tier womöglich “jetziger” lebt als alle schreiber , dichter etc, zusammen . “tier” : das ist auch bei Nietzsche eine einschreibung von projektion , wenn nicht gar des selbstbildes .

    So lebt das Tier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrig bleibt, es weiß sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das, was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich.

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