Salon Littéraire | Florian Neuner: Helgoland (Neuabmischung | Inseltexte)

 

 

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Neuner Helgoland 01

 

Text und Fotos © Florian Neuner

 

Salon Littéraire | Florian Neuner : Helgoland (Neuabmischung)*

 

Weitaus einsamer.

Aufleuchtende Passagen. Oder auch: Einzelbilder, Splitter.

Festland-Zeiten & Insel-Zeiten.

Der erste Eindruck von Helgoland ist gespentisch.

Der Wind wird immer kälter.

Nachmittags braut sich etwas zusammen. Eine zerstörerische Windhose fegt über die Düne & verwüstet den Campingplatz. Die Hauptinsel bleibt von den Auswirkungen des Unwetters verschont. Elf Verletzte; vor allem Arm- & Beinbrüche. Auf dem Flugplatz kippt eine Propellermaschine um. Strandkörbe werden durch die Luft geschleudert.

Was soll ich sonst noch erzählen?

Ich habe das ja nicht erfunden.

Die Bilder jener Sturmtage:

Ich habe mich mit den helgoländischen Verhältnissen genau vertraut gemacht.

Ein Sturm, ein Orkan aus Südwest, der zwei Tage lang bläst. Es ist fast unmöglich, sich auf den Beinen zu halten.

Die Schrecken des Meeres.

Der Meerfelsen.

Fragmente einer Reise nach Helgoland: das Heulen des Sturmes. Ich bilde mir ein, Glocken zu hören oder Nebelhörner oder … in dem Rauschen … in das Rauschen kann alles hineingehört werden.

Dumpfes Heulen der Winde, Brausen, Summen, Pfeifen.

Pfeifen, Brausen, Summen. Dumpfes Heulen.

Das donnernde Anschlagen der überbrandenden Wogen hört man auf der ganzen Insel.

Starkwinde & Stürme.

Die Frage Helgoland.

Die bloße Existenz Helgolands.

Die schwarze Meeresnacht.

Notiz: Es war anfangs nicht meine Absicht, längere Zeit auf Helgoland zu bleiben.

Fragment einer Reise nach Helgoland: nächtliche Ankunft im Südhafen nach einer stürmischen Überfahrt. Der erste Eindruck ist das Strahlenbündel des Leuchtturms, das über die Insel streicht. (aufleuchtende Passagen) Es handelt sich um ein Blitzfeuer mit einem Wiederkehrintervall (Blz.) von 5 s. Position: 54° 10′ 54,71″ Nord, 007° 52′ 56,38″ Ost.

Der Leuchtturm.

Warum sollte man nicht Textteile übernehmen? Fragt Zsuzsanna Gahse.

Neuner Helgoland 02

 

Aufruf der Freien Deutschen Jugend (FDJ): Deutsche Jugend! Deutsche Männer & Frauen! Wieder wehen die deutsche Fahne Schwarz-Rot Gold, die Helgoländer Fahne Grün-Rot-Weiß & die blaue Friedensfahne auf der deutschen Insel Helgoland. Wir erklären offen vor der ganzen Welt, daß wir den Protest & das Werk der vor uns gelandeten sieben jungen deutschen Patrioten fortsetzen. Nach der Landung dieser jungen Deutschen im Februar erklärte die britische Besatzungsmacht, daß die Bombardierung Helgolands sofort eingestellt & die Insel freigegeben werde. Dieses Versprechen wurde schon am Tage der gewaltsamen Räumung der Insel gebrochen. Helgoland wurde weiter bombardiert. Wir wollen, daß Helgoland sofort freigegeben wird. Helgoland soll der friedlichen Wirtschaft, der Wissenschaft & der Erholung dienen. Das deutsche Volk will den Frieden! Wir bleiben auf Helgoland & rufen allen deutschen Jungs & Mädchen zu: Kommt nach!

Es scheint sich der Wind etwas zu drehen.

Hoch auf der Nordsee.

In einer Viertelstunde kann es regnen, schneien, hageln, sonnen, winden & nochmals regnen.

Auch Sturm & Stille wechseln oft sehr schnell.

Als ich wieder nach Helgoland komme, ist Cassen Eils gestorben, der Reeder, der bis ins hohe Alter das Winterschiff, die MS Funny Girl, nach Helgoland zu steuern pflegte – so auch, schon über 80-jährig, bei meiner ersten, stürmischen Überfahrt, am ersten Tag des Jahres 2005. Der Sturm war so heftig, daß ein Bullauge eingedrückt wurde. Ich nahm mir vor, nicht seekrank zu werden & wurde es nicht. Nun hat man den Weg an der Nordkaje nach Cassen Eils benannt. Ein Leben für die Seefahrt; eine Institution der deutschen Seebäderschiffahrt. Auch wenn er es nie zugegeben hätte: Sein Ehrgeiz sei es gewesen, bei fast jedem Sturm nach Helgoland zu fahren.

Bei fast jedem Sturm.

Helgoland von Bruckner1, notiert Günther Anders2: Da strömt aus dem Radio ein Männerchor, die Intervalle sind als Chorintervalle ganz ungewöhnlich schwierig, aber alles geschieht makellos. Was Bruckner veranlaßt habe, das politische Nordseegeschäft, den Tausch Sansibars gegen Helgoland, in einer hochkomplizierten Kantate zu glorifizieren? Daß der Triumphtext von einem Autor namens Silberstein stamme, mache das Werk noch um eine Spur komischer. Vollends absurd werde diese Radio-Übertragung aber dadurch, daß ein britischer Chor, der berühmte Ambrosian Choir, das Deutschwerden der winzigen britischen Felseninsel feiere & daß Briten diesen Jubel als Platte herausgebracht hätten.

Licht in der Deutschen Bucht.

Grause Wetter.

Schiffe, Wolken.

Auf der küstenfernsten deutschen Insel.

Neuner Helgoland 04

 

Fragmente einer Reise nach Helgoland: Ein ruhiger Abend im Felsenkrug. Diese anheimelnde Kneipe im Unterland, direkt am Fahrstuhl, ist eine Trutzburg. Ist mit dem Felsen verwachsen. Ich halte mich im Hintergrund, lese, trinke Bier aus Dortmund. Ich kann Zsuzsanna Gahse nur beipflichten: Besser, die Ruhe bewahren, nicht alle Begebenheiten wahrnehmen, nicht immer alles sehen. Auch nicht immer alles hören! Der Alkohol reduziert die Sinneseindrücke, die mich erreichen. Ich lese auch langsamer. Ich verlasse den Felsenkrugerst, als es sich gar nicht mehr vermeiden läßt.

Manchem Menschen, der in der Hektik des täglichen Lebens sich & andere zerschleiße, so Gottfried V., möchte man raten, einen Winter auf Helgoland zu verbringen. Er fände zu sich selbst zurück & würde Freude & Genugtuung empfinden bei der Entdeckung einer Umwelt, die so viel mehr zu bieten hat, als alle von Menschen ersonnene Abwechslung & Entspannung. & wer sogar viele Jahre seines Lebens sich zu dieser Selbstbescheidung eines Lebens auf dieser Insel entschlösse, der würde sehr bald merken, daß sich ihm Aufgaben stellen, die aus seinem Inneren erwachsen.

Tide, Windstau, Seegang im Raume Helgoland.

Grause Wetter.

Das Meer kocht. Wellengebirge türmen sich auf. Abgegriffene Bilder. Auch der von Anton Bruckner geschätzte Dichter S. schreibt von Schiffen, gleich Wolken gesenkt, wogenden Wellen, gespannten Segeln, gischtendem Schaum. Grause Wetter, Blitzes Feuerrot. Schrecken des Meeres, flammende Pfeile, Wrackgut der Schiffe usf.

Ich lese: Die Tradition der Helgoländer Algenforschung reicht bis in die zweite Dekade des 19. Jahrhundert zurück.

Neuner Helgoland 05

 

Umkämpftes Helgoland.

Farbiges Helgoland.

“Da bekommt man Anschauungen!” (Zitat aus einem Brief)

Aufleuchtende Passagen.

Denken in kleinen Räumen. Kleine Aufmerksamkeitsspannen zwischen einem Schluck Bier, einem aufgeschnappten Satz von der Theke oder aus dem Radio, der Lektüre von ein paar Sätzen.

Inseleinsamkeit.

Passagen, Fragmente, Skizzen.

Ja, warum sollte man nicht Textteile übernehmen? Ich sitze im Felsenkrug & notiere die Frage, die ich bei Zsuzsanna Gahse gelesen habe. Ihr Buch trägt den Titel Erzählinseln3, & es scheint mir angemessen, mich auf einer Insel damit zu beschäftigen. Nun wäre das ja auch der Fall, wenn ich mich zu Hause in das Buch vertiefen würde. Aber die Insel, auf der ich wohne, ist nun einmal keine Hochseeinsel. Man kann sich auf der anderen Insel mitten in Berlin aufhalten, ohne sich die Insellage bewußt zu machen. Auf Helgoland geht das nicht. Erzählinseln, lese ich, das sind einzelne Partikel in der Erinnerung. Als Einzelbilder, als Splitter haben sie zumindest eine notwendige Einsamkeit, eine Inseleinsamkeit.

Inseln, Partikel, Elemente, Amöben, Passagen, Fragmente, Skizzen.

Brausen, Pfeifen, Heulen. Summen.

Was aber beginnen? Wie?

Auf dem vertrackten Felsen.

Lastwagen, Bagger & Baumaschinen auf der Südstrandpromenade. Vorbei die Zeiten, als es hieß: keine Verbrennungsmotoren auf Helgoland! & die Windkraftlobby will natürlich mit Hubschraubern zu ihren Anlagen fliegen.

Allmählich lagert sich eine milde Dämmerung über die ganze Meeresfläche.

Die Befürchtung, daß die Insel in der nächsten Zeit einmal von Sturm & Wellen zugrundegerichtet & vollends weggeschwemmt werden könnte, ist wohl unbegründet.

Die Befürchtung ist wohl unbegründet.

Im Felsenkrug werden heute Erinnerungen an ein “Original” beschworen. Auf allen Vieren sei der Mann über einem Gulli gelegen & habe “Hallo!” hineingerufen. Auch von Selbstgesprächen & lautem Singen wird berichtet, auf Hallunder & auf Deutsch. Ein spät eintreffender Gast verkündet: Ich packe meinen Koffer gar nicht aus, wenn hier alle so sind! Alles verlogener Dreck! Darüber ist Einigkeit herzustellen an der Theke. Alice Schwarzer, Christian Wulff! Eine Million – kein Problem, aber die kleinen Leute … Wenn aber doch jeder weiß, daß das Personal in Politik & Medien verkommenes Pack ist, wenn darüber Einigkeit herzustellen ist – nein, es ist zwecklos. Ich sage nichts. Heute betreutes Trinken. Saufen ersetzt Yoga.

Einzelne Partikel der Erinnerung.

Wissen wir eigentlich, was wir auf Helgoland wollen?

Neuner Helgoland 03

 

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*Anmerkungen | Hinweise:

inseltexte-cov

Der hier auf in|ad|ae|qu|at präsentierte “Helgoland”- Passus ist der “Remix” eines Abschnitts aus dem eben erschienenen Band: Florian Neuner: Inseltexte – Wien: Klever 2014.

Siehe auch: Florian Neuner: Moor (oder Moos). Eine den Inseltexten vorgelagerte Textinsel . Mit einer Photoserie von Jörg Gruneberg in memoriam Peter O. Chotjewitz – Ostheim/Rhön: Verlag Peter Engstler 2013 

Moor ( oder Moos ) . Mit Fotografien von Jörg Gruneberg @ in|ad|ae|qu|at

1 - Anton Bruckner: Helgoland, Kantate für Männerchor (1892) | Wiki | Youtube

Günther Anders: Ketzereien – München: C. H. Beck 1996, S. 240f

3 - Zsuzsanna Gahse: Erzählinseln. Reden für Dresden – Dresden: Thelem Verlag 2009

 

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Florian Neuner @ in|ad|ae|qu|at

 

 

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