22. 12. 2009
Ich schaue mir nicht gerne zu beim Nachdenken und Schreiben. Ich will das Ergebnis: Bedrucktes Papier in großer Anzahl, das mir – im günstigsten Fall – aus der Hand gerissen wird. Eigene kreative Vorgänge verfolge ich nur, wenn ausdrücklich verlangt. Wogegen mich die Prozesse anderer Autoren interessieren.
Heute Morgen wird mein Blick geteilt zwischen Felsengischtabgrund und Weihnachtsstern aus Draht, durch den ich auf touristische Hügelbauten blicke. Der Stern durchleuchtet nichts.
Ich umfasse eine ungeöffnete ovale Blüte, sie passt in die Wölbung meiner Hand. Ansonsten Entsetzen über touristische Kolonisierung. Sie sind wegen der Sonne hier. Gibt es keine, stehen sie ratlos, laufen aufgescheucht suchend herum. Die männlichen Tattoos matt und verwischt, die weiblichen nackten Knie schlaff und blässlich. Sie warten und hoffen, dass, sich ein Versprechen erfüllt, das sie für Pfund und Euros teuer erkauft haben.
Die Drogentouristen des Jahres 1979 verfolgten bestimmte Routen: Haschisch in Marokko, Indien, Opium in Afghanistan, Peyote in Mexiko, Fliegenpilz und Psylocibin in den Alpen. Je abgelegener desto üppiger.
Psilocybe semilanceata | Wikipedia
In der Fototasche, die ich zur Erinnerung an die frühere Reise nach Siebenbürgen mitgenommen habe, stecken neben den Aufnahmen aus Rumänien folgende Bilder:
Postkarte von Lukas Cejpek, mit der er von den Tonaufnahmen für mein Hörspiel: Alles was bisher gut war ist nun schlecht und umgekehrt, berichtet. Vera Borek spricht den Part der Trina, Hüterin der Tradition, die ich 1989 in einem sächsischen Dorf kennen gelernt hatte.
Eine rätselhafte Aufnahme vom 8. Februar 1931, die ich zuerst den Fotos zuordne, die mir Trina damals geschenkt hatte: In holländische Tracht gekleidete Kinder stehen auf einer Bühne vor einem schwarzen Tuch, auf das drei Begriffe gestickt sind: Volkesfreiheit!, Rasseeinheit!, Geistesfreiheit!.
Wahrscheinlicher aber ist, dass dieses Bild zu den kleinen Fotos gehört, die die soldatische Ausbildung meines Ex-Schwiegervaters in Brünn und Olmütz dokumentieren und die auch in der Fototasche stecken.
Nur zwei Fotos aus dem Bestand Trinas finde ich wieder. Ein Gruppenbild des Familienverbandes, die Frauen alle mit Kopftuch, entweder im Nacken oder unterm Kinn gebunden. Die Männer entweder mit Glatze oder Hut.
Schließlich eine Aufnahme der Dorfstraße mit Kirche.
Diese Kirche haben die nach dem Zusammenbruch der Diktatur ausgewanderten Sachsen restaurieren lassen. Die Kirche scheint das wichtigste zu sein, Ort der Zusammenkunft der Gemeinde. Seltsam aber, dass die Exil-Sachsen, die sich im Raum meines Herkunftsortes in Oberösterreich (Vöcklabruck, Traun) niedergelassen haben, nicht auf meine Anfrage antworten. Bin ich eine Gefahr? Soll ich nicht nach Siebenbürgen? Gibt es etwas zu verbergen?
Hier setzt der erprobte Paranoia-Mechanismus ein, der immer gut zum Klischee Rumäniens passt. Ist das, was wir sehen auch wirklich das, was es ist? Oder werden wir gerade hereingelegt oder legen wir uns selber rein, weil wir erwarten hereingelegt zu werden?
Einige der Aufnahmen der zweiten Reise sind auf der Rückseite beschriftet. Der Ort, an dem Trina wohnte, hieß Kaisd.
Der Riss der sich senkrecht durch den Turm der Kirchenburg zieht, ist schon von weitem sichtbar. Hier wird der Speck gelagert. Und Speck meint Speck, meint pure Schwarte, geräuchert, haltbar gemacht, als Vorrat zum Durchhalten bis zu den Tagen, an denen man erlöst, befreit, rausgekauft wird von den Deutschen. Die zweite Reise findet noch vor dem Sturz des Diktators statt. Ich wollte zur geplanten Zerstörung der Minderheitendörfer in Siebenbürgen recherchieren und in Österreich davon berichten.
Die meisten Fotos schießen wir aus dem Auto heraus, aus Angst, zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Wir wollen nicht bemerkt werden, wir sind Undercover, wir sind als Touristen verkleidete Journalisten, ein Liebespaar, das es so nicht gibt. Wir sind Fotofreaks und Musikliebhaber, das erklärt den Koffer voller Kamerautensilien, sowie eine Unmenge von bespielten Kassetten, die alle Popstückln enthalten, angeblich. Unsere Mission ist geheim. Wir wollen etwas wissen, was niemand wissen soll.
Das Kapital unserer zweiten Reise nach Siebenbürgen sind das tragbare, von Sony auf Taschenbuchformat verkleinerte, Aufnahmegerät und das fast unsichtbare Mikrophon. Einen Teil der Gespräche, immer wenn es ums Volkskundliche, die Bräuche geht, zeichnen wir offiziell auf. Mit der Zeit wird das Gerät dann als Körperteil akzeptiert, keiner stößt sich sich daran und wir lassen es laufen, wo es nur geht. Verbotene Aufnahmen, verbotene Gespräche. Obwohl ich heute glaube, dass Trina, unsere Hauptinformantin auch der Gegenseite berichtete oder dass wir deshalb halbwegs sicher in ihrer Nähe waren, weil sie geschützt war. Eine Respektperson, eine, zu der alle aufschauten. Sie hatte die Gemeinde im Griff. Der Geheimdienst wäre echt blöd gewesen, hätte er sie nicht angeheuert. (siehe oben: Paranoia-Mechanismus)
Zu den Zusammenhängen von Nerven und Erinnerung gibt es neue Erkenntnisse: Neuronale Reaktionen auf optische Sinneseindrücke sind komplexer als bisher angenommen. Nervenimpulse, die in Reaktion auf einen optischen Reiz entstehen, bilden raum-zeitliche Muster, die auch Informationen über einen unmittelbar vorangegangenen Sinneseindruck beinhalten. Diese sehr frühzeitige Entstehung von “Erinnerung” überrascht die Fachwelt, da Dogmen über die Verarbeitung von Sinnesreizen nun modifiziert werden müssen. Die jetzt in PLoS Biology publizierte Arbeit stellt einen ersten experimentellen Nachweis für die Fähigkeit unseres Gehirns dar, zeitlich aufeinanderfolgende Sinneseindrücke gemeinsam in raum-zeitlichen Mustern von Nervenreizen zu “verpacken”. (Quelle Max_Planck-Institut)
Das Bild illustrierte meinen ersten journalistischen Artikelüber die Dörferzerstörung. Kinder, denen die Milch vorenthalten wird, beobachten nicht den täglichen Vorgang des Abfüllens in den kollektiven Container, sondern das fremde Auto, das dieses Ereignis auf einem heimlichen Foto festzuhalten versucht. Vor allem die Kombination von gesunder Milch und stinkender Abgasrauchwolke ist, was mich heute noch dran fasziniert. Und die Ähnlichkeit der Hausecke zum Ghettobauernhaus meiner Herkunft. Als wäre ich auch einmal hier gestanden und hätte fassungslos einem Fremden zugesehen, der mich als Sehenswürdigkeit und pittoreskes Abbild der Verkommenheit fotografierte.
R. glaubt mir das nicht. Ich sage ihm, er könne sich das Haus jederzeit ansehen fahren. Es wirkt heute noch um einiges verkommener und fehl am Platze als jemals. Von weitem, vom Standpunkt der großen Eiche betrachtet, hatte der Kameramann es damals mit dem Objektiv näher geholt, als sie ein Porträt fürs Fernsehen drehten.
Ich war erschrocken als ich es in seinem Blick später sah, weil das Gebäude so offensichtlich halbkaputt dastand, mit einer riesigen im Wind flatternden blauen Plane davor und muss erneut daran denken, als in allen Medien plötzlich das elende Geburtshaus von Herta Müller ins Bild gerückt wird.
Anscheinend ist meine Faszination für kaputte Umgebungen tatsächlich von dieser ersten kindlichen Raumerfahrung geprägt. Immer wieder kehre ich dorthin zurück. Ob es nun mein tatsächliches Kindheitshaus ist oder das von anderen. Und der Onkel, dem es heute gehört, ist Banater Schwabe.
Wir haben das billigste Mietauto genommen und nicht geahnt, was uns erwartet. Auf löchrigen kaputten Straßen kommen wir langsam vorwärts. Wir schaukeln. Kein Wunder, dass der Wagen mit einem gewaltigen Knall den Geist aufgibt, als wir uns wieder Richtung Wien bewegen wollen. Und wie immer und überall rettet uns die in Siebenbürgen gesprochene deutsche Sprache. Ein sächsischer Automechaniker bastelt das Auto wieder zusammen, ein deutschsprachiger Grenzbeamter stuft bei der Generaldurchsuchung spätnachts vor der Ausreise meine Notizbücher als harmlos ein. Ich habe Scheißangst. Die Filme waren zwar im Auto versteckt und die vielen mit dem Sony aufgenommenen Kassetten mit verfänglichen Gesprächen in einem großen Plastiksack zusammen mit den Popkassetten verstaut. Doch waren wir zu blöd, neugierig und triumphierend und hörten eine Kassette auf der Fahrt, froh über die gute Aufnahmequalität. Und vergessen sie schließlich im Rekorder. Als der Grenzbeamte fragt, was wir denn so hören würden, antworten wir frech, Musik, aber er lässt es sich beweisen, befiehlt, die Play-Taste zu drücken. Die Stimme des Priesters der Dorfgemeinde ertönt und der Kontrolleur freut sich, uns beim Lügen ertappt zu haben. Ich verfluche mich für meine Dummheit, mein Gehirn setzt aus, dann beginnen glücklicherweise die alten Frauen des Gottesdienstes ein Kirchenlied anzustimmen und mein Begleiter antwortet geistesgegenwärtig:
Ich mag Kirchengesänge. Ich fahre überall herum und höre den alten Frauen beim Singen zu. Lieder sammeln ist mein Hobby.
Der Grenzer nickt und verschwindet. In Panik steigen wir aus dem Auto, versuchen ein Szenario zu entwerfen, koordinierte Aussagen. Welche Geschichte sollen wir vorgeben erlebt zu haben, wenn wir getrennt verhört werden?
Wir einigen uns auf die Version der alten Tanten, die wir als Familienmenschen gerne besuchen. Dann kommen meine Notizbücher zurück, in die ich verschlüsselt die Namen und Adressen unserer Gesprächspartner eingetragen hatte. Der deutsche Grenzbeamte verrät nichts. Wir sind durch.
Wo diese Notizbücher sich heute befinden, weiß ich jedoch nicht.
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[...] série : Sabine Scholl ; certainement culturelle, mais, aussi, de voyages en cartes et photos. Donc, d’autres [...]