Sabine Scholl: Berlin, Prenzlauer Berg 16. 2. 2010 | Balkan vom Balkon aus betrachtet

| mitSprache unterwegs |

Berlin, Prenzlauer Berg, 16. 2. 2010

BALKAN VOM BALKON aus betrachtet liegt immer unten, unterliegt also dem Betrachter und es obliegt seinem Urteil festzustellen, was das wert ist, dieser Haufen. Balkanisiert ist unorganisiert, ist vorzivilisiert, ist schwer rückfällig und von „da unten“ kam nie Gutes zu „uns“.

Die imaginäre Geographie verortet den Balkan als außerhalb europäischer Zugehörigkeit gelegen, ein Schatten, der seit Ewigkeiten aus dem Fokus geriet. Und was Rumänien betrifft, so ist unklar, ob es nun zum Balkan zählt oder nicht, je nachdem, wer ihn definiert. Das „Mittel Land“ ist demnach doppelt Balkan.

Die Rumänen aber wollten nie in diesen schlechte Sog geraten, wollten immer woanders hin, fort. Wollten Romanen sein mit römischen Vorfahren, wollten zur romanischen Sprachfamilie gehören, eine lateinische Insel im slawischen Ozean, gut französisch sprechend, das Belgien des Orients, die Hauptstadt Bukarest das Paris des Ostens, sie waren und sind Europäer, bloß am falschen Ort.

Der Literaturwissenschaftler Tomislav Z. Longinovic bringt die Furcht des Vampirs vor Licht in Zusammenhang mit dem Mythos des unaufgeklärten Landes, dort wo man das Licht der Vernunft scheut und bezeichnet den transsylvanischen Schauplatz des Bram-Stoker-Romans als Grenz- und Übergangsgebiet: Hier an der Peripherie des modernen Europas treffen die Konflikte zwischen Christentum und Islam aufeinander, ein Stellvertreterkrieg. Denn Vlad Dracul, das historische Vorbild für Stokers Romanfigur, wurde in türkischer Gefangenschaft mit den grausamen Foltermethoden vertraut gemacht, die er als befreiter Herrscher dann selbst gerne anzuwenden pflegte. In Dracula werden die verdrängten grausamen Praktiken der Kolonisierung und Modernisierung konzentriert, praktischerweise in ein fernes Land transponiert. Nur dort können sie ihr Unwesen treiben. Und wer hingeht, ist selbst schuld.

Wiedererweckt wurden diese Geister nach 1989 mit dem Ausbruch des Jugoslawien-Kriegs; nun waren die Serben zu blutrünstigen Mordgesellen geworden, die auf Praktiken zurückgriffen, welche man längst ausgerottet glaubte. The heart of darkness, wie Bill Clinton damals in Anspielung auf den Joseph Conrad-Roman warnte, sollte sich auf dem Balkan nicht wiederholen. Schlimmer als Afrika, schlimmer als Vietnam, aber was heißt das für den Vampir? Beißt er noch? Und wo? Vielleicht in Kolumbien, in Mexiko, in Texas, in den borderlands, dort wütet der chupacabra und tötet junge Frauen, weil sie unschuldig sind.

Lektüre:  Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation. Edited by Dušan I. Bjelic and Obrad Savic , MIT Press 2002/2005.

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