Clemens Berger: Rothblog 10 | Chicago, 13. Februar 2010

| mitSprache unterwegs |

Chicago, 13. Februar 2010

Als ich freitags kurz nach sieben Uhr abends in Chicago O’Hare lande, ist es mit Sonne, Strand und Hitze vorbei – und eine Stunde früher als in San Juan. Schnee überall, eisiges Wetter, ein kalter Wind. Ich steige in ein Taxi, der Fahrer ist Albaner, also Nachbarn, beschließen wir, aber von dem Ort, an den ich muss, um den fasching dance der Jolly Burgenlaender zu besuchen, hat er noch nie gehört: Gaelic Park. Alles, was ich habe, steht auf einem Zettel: West 147th Street, vier Meilen westlich von der Kreuzung Interstate 90/94.

Man, that’s far, sagt der Lenker, der mich nicht an den Ort bringen will, ohne eine genaue Adresse herauszufinden. Es werde teuer, dafür könne er nichts, gerade deshalb sollte ich nicht an den falschen Ort gelangen. Den Gaelic Park können wir in seinem GPS-System, in dem so gut wie jeder Kanaldeckel eingezeichnet ist, nicht finden. Er telefoniert mit einem Freund und seiner Freundin, einer Guatemaltekin, sie findet die exakte Adresse heraus.

Wir haben viel Zeit, um uns zu unterhalten; so viel Zeit, dass er sich einmal, gerade als wir an der gefährlichen Seite der South Side vorbeifahren, verfährt. Wir haben uns auf einen Fixpreis geeinigt, ich solle mich nicht sorgen, sein Fehler. Wir sprechen über die Ungerechtigkeiten der Welt, er mietet das Auto monatlich, muss tanken, Maut bezahlen, behält die Einkünfte. Er könne es sich nicht leisten, einen Tag frei zu nehmen; wenn er aufstehe und den Schlüssel ins Zündschloss stecke, wisse er schon, dass er so und soviel Dollar im Minus sei. Die Taxigesellschaft zahle allerdings die Versicherung. Er bittet mich, die Plakette anzusehen – versichert sind nur Fahrgäste.

Wir sind längst an der beleuchteten Skyline Downtown Chicagos vorbei, als die bislang unsichere Gegend weitläufiger wird. Da seien Parks, meint er, wir sehen uns die dunkle Gegend auf GPS an: ein kleiner Fluss, eine Brücke, Einkaufszentren, Reihenhäuser. Bald müssen wir da sein, es sieht nach Ende der Zivilisation aus, der Lenker fährt seit fünf Jahren Taxi, weswegen er auch zugenommen habe (und dann noch zu rauchen aufgehört!), aber an diesem Ort war er noch nie. Nice, sagt er, look, how quiet. Und da ist der Gaelic Park.

Ich komme mit Koffer und Tasche, blonde Buben stehen vor dem Eingang, ein Mann und eine Frau sitzen an einem Tisch vor dem großen Saal und kassieren Eintritt. Ich frage nach Tom Glatz, die Frau an der Kasse ist Anita Walthier, Jolly Burgenländer, mit der ich gemailt hatte. Du bist aus Ouwawoad? fragt der Mann neben ihr, er sei aus Oberdorf. (Später, als wir eine Zigarette im Freien rauchen, erzählt er mir, er sei vor einer Woche in Puerto Rico gewesen (vielleicht war ich tatsächlich der einzige Burgenländer!), wunderschön sei es dort (was ich bestätigen kann), was ihm von Zuhause fehle, sei lediglich Grammelschmalz. Beim letzten Besuch habe er herrlichen Schinken aus Pinkafeld mitgenommen, nur leider: die US-Zollbeamten hätten $50 dafür verlangt.) Tom Glatz kommt mir entgegen, bezahlt meinen Eintritt, ich stelle Koffer und Tasche ab.

Wir kommen in den riesigen Tanzsaal, überall runde Tische, an denen betagte Herren und Damen sitzen – ich bin bei weitem der Jüngste, abgesehen von ein paar Kindern, die mit ihren Mamas auf der Tanzfläche hüpfen. (Frank Paukowits’ Wer weiß? ausgeschlossen.) Eine Volksmusikkapelle, links von der Bühne eine US-amerikanische, rechts eine burgenländische Fahne. Die betagten Damen und Herren drehen sich zur Musik, tanze mit mir in den Morgen, tanze mit mir in das Glück. Ich frage Tom Glatz nach Emmerich Koller, in dessen mitreißenden Erinnerungen Good Dogs Do Stray ich von San Juan nach Chicago ununterbrochen gelesen hatte.

Auf dem Weg zu ihm kommt uns Karl Billetits entgegen, der Präsident der Burgenländischen Gemeinschaft in Chicago, den ich von Sandra Crawfords Fotos kenne. Ich lasse ihn von ihr grüßen, er meint, dann wisse ich ohnehin alles über ihn, er habe sehr viel zu tun, sehr sehr viel. Ich muss mir ein Bier holen, der Kontrast zu den letzten Tagen ist gewaltig (to say the least), ich stelle mich Emmerich Koller vor. Dass ich ihn eben erst gelesen hätte, dass mir seine Erinnerungen viele eigene Erinnerungen zurückbrachten, an Speisen, Worten, Gewohnheiten, die ich von meinen Großeltern kenne. Grenadiermarsch etwa oder das merkwürdige Phänomen, dass bestimmte Worte dem Französischen entlehnt sind: Gendarm, Lavoir (Lawua), Plafond (Blafo), Rollo, und wenn man von irgendwo zurückkommt, kommt man retour (rätua). Schon kommt eine ältere Dame auf mich zu, sie habe gehört, ich sei aus Oberwart, sie aus Großpetersdorf, in Oberwart habe sie eine Freundin, ob ich die kenne (ich kenne sie nicht), gearbeitet habe sie in der Konditorei Schindler, ob es die noch gebe (gibt es nicht mehr). Ich frage sie, ob sie vielleicht meine Großmutter kenne, die sei auch aus Großpetersdorf (sie kennt sie nicht).

Als ich mit Emmerich Koller an der Bar stehe und über sein Buch spreche, kommt ein älterer Herr und erzählt von seinem Aufwachsen in Ostungarn, Elek, deutsche Minderheit, eine vergessene Geschichte (ich erkläre, dass sie von der Rechten beschlagnahmt sei) – so wie Koller selbst, der in Pernau oder Pornóapáti, gleich an der heutigen burgenländischen Grenze, aufgewachsen ist. Ein zweiter Mann kommt hinzu, die beiden Deutschungarn oder Ungarndeutschen erzählen, wie lange sie einander schon kennen, und was sie alles gemeinsam in Chicago erlebt hätten. Ich sehe den Mann an uns vorbeigehen, den man mir als Friseur aus Oberdorf gezeigt hat, es ist alles sehr viel auf einmal – und ich bin noch immer anderswo.

Noch immer wird getanzt, noch immer wird angestoßen, als die Musik kurz unterbrochen wird, kommt es zur Tombolaziehung. Schön langsam beginnt sich der Saal zu leeren. Bis es Zeit zum Aufbrechen ist, habe ich viele Geschichten im Schnelldurchlauf gehört. Die Menschen springen von einer Sprache in die andere, vom Hianzischen ins Amerikanische, zurück in ein klareres Deutsch mit amerikanischem Akzent, zwischendurch immer ein you know? Ich höre Namen von Ortschaften und Menschen, die ich alle vielleicht kennen sollte, aber nicht kenne.

Sie wirken alle sehr agil, auch wenn sie gebrechlich sind, sehen sie jünger und lebhafter aus als Menschen ihres Alters im Burgenland oder in Österreich generell. Frischer irgendwie, freier. Ein Fünfundsiebzigjähriger erzählt mir, er lese keine Zeitungen mehr, nur noch im Internet, was aber leider sehr viel Zeit in Anspruch nehme, man komme vom Hundertsten ins Tausendste. Ein anderer spricht über Obama, und dass der ein schlechtes Herz habe, nicht weil er schwarz sei; aber er und seine jüdischen Berater hätten erst die Wirtschaft ruiniert, damit sie später alles Bush in die Schuhe schieben und die Macht übernehmen könnten. Und jetzt solle ich mich einmal fragen, warum Obama der erste Präsident der Vereinigten Staaten sei, der Buchenwald besucht habe? Vor so viel Logik kann ich nur kapitulieren, in den Saal zurückgehen, mir noch ein Bier bestellen und mich mit Emmerich Koller unterhalten.

Der fährt mich in seinem Wagen nach Near North, an die Grenze zum Loop, Downtown Chicago, wo ich auf der East Ohio Street wohne. Ein sehr artikulierter Intellektueller, der mir in kurzer Zeit viel erklärt. Wir beschließen, einander in ein paar Tagen zu treffen, wenn ich sein Buch zu Ende gelesen habe.

Im Hotel freue ich mich, im vierzehnten Stockwerk zu sein. Unten die Straße, Autos über Autos, die Lichter der Lokale und Geschäfte. Geradeaus das Glas der Hochhäuser, beleuchtete Zimmer, beleuchtete Fassaden. Ich schließe meine Kamera an den Laptop und sehe die Fotos aus Puerto Rico an, auch wenn ich todmüde bin: von Río Piedras, dem Studentenviertel, in dem ich zuerst wohnte, über einen Strand auf der Isla Verde, die Altstadt von San Juan, den (oder die oder das) Mofongo, einen Kochbananenkloß, in dem sich so wunderbare Dinge wie camerones (Shrimps) verstecken, über das ruhige Ressort in La Parguera, im Südwesten der Insel, wo ich in einer mondlosen Nacht in phosphoreszierendem Wasser schwamm, jede Hand- und Beinbewegung irgendwelche Mikroorganismen aufstöberte (in Chemie war ich bemitleidenswert schlecht), ein grünes Glitzern, kleine Kristalle um Finger und Zehen, eine leuchtende Spur hinter mir herziehend, bis zum Boquerón Beach, einem der schönsten Strände, den ich je gesehen habe (secret beaches, nennt sie der Reisebegleiter Frommer’s), und durch die Berge zurück nach San Juan. Da hatte ich mich schon über die Wolken gefreut und geseufzt, ein wenig Regen täte gut. Denkst schon wie ein Einheimischer, hatte ich zur Antwort bekommen. Ich habe noch immer Sand in den Hosentaschen. Ich kann es kaum glauben, morgens am Meer erwacht zu sein. Und auch nicht, dass Rocío und ich zum zweiten Mal in unseren Leben Goodbye sagen mussten. Oder aber: Auf Wiedersehen.

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4 Responses to Clemens Berger: Rothblog 10 | Chicago, 13. Februar 2010
  1. Helga Köcher
    February 24, 2010 | 10h39

    Danke für dieses Stück reales Leben!

  2. Emmerich Koller
    February 25, 2010 | 16h57

    Clemens,
    A huge compliment for your extraordinary powers of observation and your incredible memory. Not once did I see you use a notebook. You also forgot to tell your readers that you didn’t miss a beat when switching from German to English. My wish for you is ein Wiedersehen with Rocío.
    Thanks for sharing your trip.
    Emmerich

  3. Clemens Berger
    February 25, 2010 | 17h16

    Thank you, Emmerich. Maybe it’s only because I’m too lazy to carry around a notebook and scribble all the time. It’s spring in Vienna, no jetlag until now. All the best, Clemens

  4. Hubert Hanzl
    April 21, 2010 | 17h29

    Der Artikel erinnert mich an meine Begegnungen im leider nicht mehr existierenden “Castle Harbour Casino” in der Bronx, NY vor 22 Jahren. Dane für die Adressse, sollte ich einmal nach Chicago kommen, werde ich auch versuchen, Landsleute zu treffen. Wir haben in Güssing ein kleines “Auswanderermuseum” und an solchen Geschichten sehr interessiert. Den link habe ich von Emmerich Koller, dessen Buch mich auch sehr begeistert hat.
    mfg
    Hubert Hanzl

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