Salon Littéraire | Florian Neuner : Ruhrtext – Auffahren , Aufschließen . Einfahrt

Literatur @ in|ad|ae|qu|at : Der SALON LITTÉRAIRE als www- Galerie für Bild und Text

Salon Littéraire | Florian Neuner :

Ruhrtext – Auffahren , Aufschließen . Einfahrt
Mit einer Photoserie von Jörg Gruneberg

Es kann ja nicht immer so bleiben. Zwischen Emscher & Ruhr. Es ist eine umstrittene Landschaft, von der hier berichtet werden soll. Landschaft oder das, was von ihr geblieben ist. Fetzen, Reste, die die Industrie zurückgelassen hat. Eine eigenwillige Natur & eine neuartige Landschaft. Manchmal hält der Nebel Wochen an. In dieser schweren, kalten Landschaft. Die Stadt ist wie ein Gerüst oder wie ein Netzwerk, in dessen Felder jedermann die Dinge einordnen kann, an die er sich erinnern mag. Die Gegenwart bestimmt das Gesicht dieser Landschaft. Gewaltige Industriewerke, Schlackenhalden, vom Ruß geschwärzte Häuser unter rostbraunen oder düsteren Rauchwolken. Kohlenbergbau, Eisen- & chemische Industrie (Kohleveredlung). Gleisanlagen, Kühltürme, Winderhitzer, Hallen & Halden. Die Namen der Städte gleiten vorüber: Oberhausen, Gelsenkirchen, Herne, Gladbeck, Bochum, Witten. Erschrecken vor der Fremdheit der Industrielandschaft. Zerschnitten von Eisenbahnen, Autobahnen & Rohrleitungen. Schlacken, Mauerreste, Bahndämme, Stahlträger, Absetzbecken. Formen, die die Stadt hätte annehmen können, wäre sie nicht aus diesem oder jenem Grunde so geworden, wie wir sie heute sehen. Massive Schönheit & abrupte Häßlichkeit. Einfamilienhäuser, Gewerbegebiete in der erstaunlichsten Mischung aus Werkstätten, Villen, aufgegebenen Hallen & Schuppen, wilde Kleingärten & Brachflächen, Discotheken & Billigmärkte. Krankenhäuser, Reiterhöfe, Reste von Landwirtschaft. Der Nebel wird sich ein paar Tage halten. Westfalen ist ein Land, in dem nicht nur viel Bier getrunken wird, sondern in dem auch die Sonne weniger hell scheint.

01 Ruhr Copyright -Joerg-Gruneberg ( click to XL )

Das Ruhrgebiet ist ein urbanes Planetensystem ohne Zentralgestirn. Eine polyzentrische Stadtlandschaft mit fünf Millionen Einwohnern. Eine chaotische Landschaft, in der sich Mietskasernen, Schornsteine, Sportplätze, Zechentürme, Parkanlagen, Aschenhalden, Villen in Barockmanufaktur, Gartenlokale, Hochöfen, burgenhafte Fabrikfassaden & Kolonien im Schwarzwälder Puppenstil unaufhörlich durcheinanderschieben. Stadt reiht sich an Großstadt, keine zusammenhängende Feldmark ist mehr vorhanden. Das ursprüngliche Grün der Natur, die Wälder, sind im wesentlichen vernichtet. Das Ruhrgebiet hat keine Grenzen. Der Zuständigkeitsbereich des Regionalverbands Ruhr ist größer als der tatsächlich als Ruhrgebiet wahrgenommene Raum. Die Stadt ist übervoll. Sie wiederholt sich, damit irgend etwas im Gedächtnis haften bleibt. Eine Sammlung von sauberen & vernachlässigten Ortsteilen, von planlos gewachsenen Gewerbegebieten, grünen Abstandflächen & wenig aufregenden Stadtzentren. Ein Auseinanderfallen ohne Ende & Form. Fährt man von Duisburg über Oberhausen nach Gelsenkirchen: Wie eine Kriegslandschaft sieht es aus. Die Industrie erzeugt die industrielle Gemenge-Stadt. Die Konturen von Stadt & Land lösen sich. Die Orientierung fällt schwer angesichts der ständigen Wiederholung von belanglosen Siedlungen. Nie weiß man, wo man ist. Die Siedlungen des Industriezeitalters sind wild gewachsen. Die ehemals zusammenhängende Landschaft wurde planlos zerschnitten. Was einem fremden Reisenden auf der Bahnfahrt etwa von der Ruhrmündung über Essen bis ins Westfälische hinein als ein sinnverwirrendes Chaos erscheinen mag, ist ja in Wahrheit ein echter Organismus von einmaliger Großartigkeit. Der Eindruck des Chaotischen, Ungeplanten ist einer Perspektive geschuldet, der der Überblick fehlt & die deshalb Zusammenhänge nicht erkennen kann. Die so heftig & gründlich veränderte Landschaft des 19. Jahrhunderts ist bis heute sichtbar geblieben. Geformt durch die Eisenbahn. Die Zeichen bilden eine Sprache. Doch nicht die, die du zu kennen glaubst.

02 Ruhr Copyright -Joerg-Gruneberg ( click to XL )

Hier fängt der Lichtwechsel an. Hier werden die Häuser dunkler. Im Ruhrland wurde eine bescheidene bauliche Tradition vor Jahrzehnten bereits radikal abgebrochen, in wilder Plötzlichkeit durch gigantische Industrieanlagen überwuchert. Von unzähligen Schienensträngen durchzogen, mit Schuttgebirgen bedeckt. Tümpel, schnurgerade Kanäle, Förderbahnen, Häuserhaufen, Schrottlagerplätze. Überraschende & unbekannte Reste von Naturlandschaft. Am Kanal, hinter der Autobahn, unter der Hochspannungsleitung, an der Kokerei. Die Wildheit dieses Landes mag einen ängstigen, so manche scheußliche Einzelheiten erschrecken, schwarzer Schmutz & grauer Dunst mögen abstoßen, trübe & trostlos stimmen. Unregelmäßige Straßenbilder, unübersichtliche Verkehrsführung. Willkürliche Durchmischung von Gewerbe- & Wohngebieten. Immer noch werden trübe Farben zu blassen Grundierungen verwässert. Mancher ist froh, wieder hinauszukommen. Der Künstler empfindet anders. Das sind Städte, die nur aus Ausnahmen, Ausschließungen, Gegensätzlichkeiten, Widersinnigkeiten bestehen. Reste eines Bahndamms, eine ungewöhnlich placierte Fußgängerbrücke, eine zugewachsene Schneise zwischen Häusern. Eine auf den ersten Blick ungeordnete Struktur ganz unterschiedlicher Stadtfelder mit einzelnen Inseln geometrisch-gestalthafter Muster. Netze & Knoten. Westfalen ist ein Land, in dem die Menschen härter sind, verschlossener, karger mit Worten. Das Ruhrgebiet ist eine Bierlandschaft. Nirgendwo ist die Kneipendichte größer. Industrie entstand & verging. Man orientiert sich natürlich nicht nach Kohlenzechen, Stahlwerken, öffentlichen Gebäuden, Plätzen oder Bahnhöfen, sondern nach Wirtschaften. Kneipen als Wegmarken & Orientierungspunkte. Die Menschen im Ruhrgebiet orientieren ihre Identitäten kleinräumig & begreifen sich zunächst als Stiepeler, Borbecker oder Kirchhellener. Die Herzstücke dieser Vororte sind die Kneipen. Hier versteht jeder Wirt zu zapfen.

03 Ruhr Copyright -Joerg-Gruneberg ( click to XL )

Westfalen ist ein Land, in dem der Wind kälter weht & die Erde zwar fruchtbarer, aber auch widerspenstiger ist. Die rote Erde. Bei Nebelwetter geht man durch die Stadt. Relikte der industriellen Produktion bleiben in dieser Landschaft einfach liegen. Vorbei an Tagesbrüchen. Einzelpingen & Pingenzügen auf den bewaldeten Höhen. Zungenhalden. Wenn es eine Konstante im Ruhrgebiet gibt, so ist es die permanente Veränderung & die mit ihr verbundene Gewißheit, in einer unfertigen, vorläufigen, jederzeit gemäß des wirtschaftlichen “Auf & Ab” widerrufbaren Situation zu leben. In einem mehr oder weniger unüberschaubaren Provisorium ohne Begriff von sich selbst, auf buchstäblich unsicherem Boden. Sättel, Mulden & Überschiebungen. Überschneidungen von Bierlandschaften & Industrielandschaften. Zusammenschnitte. Textlandschaften. Die Stadt als Text. Alles zusammengenommen ergibt einen insgesamt scheinbar planlosen Siedlungsteppich, der einem Palimpsest ähnlich ist, in dem alte, nicht mehr benötigte, ausgelöschte & ausgeschabte Schriftzüge & Bilder unter dem neuen Text durchschimmern. Alte Parzellengrenzen, alte Gewässer & Reste wiederverwendeter Bauwerke. Es hängt schließlich alles am Zusammenspiel von ganz außergewöhnlichen Hub-, Schub- & Zugkräften, die allesamt & gleichzeitig in unterschiedliche Richtungen weisen, mit je unterschiedlicher Intensität & Dauer. Lokale Verschiebungen im Kräfteverhältnis eines Textes, das Abändern, Wegnehmen oder Hinzufügen eines Wortes, eines Satzes, eines Satz-Clusters oder Satz-Blocks sind stets mit immensen Kettenreaktionen innerhalb des Gesamtgefüges verbunden. Hierbei werden die Gesteinsschichten Bei Nebelwetter geht man durch die Stadt. Um Welten zu erschließen. Unter Mühen & Beschwerden.

04 Ruhr Copyright -Joerg-Gruneberg ( click to XL )

Eine unsichtbare Landschaft bedingt die sichtbare. Wo der Bergbau umgegangen ist. Weitverzweigt, vielschichtig & dunkel ist die Welt unter Tage. Da ballen sich die Wetter dicht. Dort unten werden ganze Gebirge bewegt. Ein unendliches Netz von Straßenzügen, Bahnhöfen, Schienensträngen, Kraftwerken, Werkstätten. Das Netzwerk der Stollen, Flöze, Schächte & Streben. Bergbau ist auch Sprache. Ganze Wälder verschwanden als Stützmaterial in den Tiefen. Tief unten in den Schächten. In den Nächten. Da ballen sich wieder die Wetter. Eine übergangslose Plötzlichkeit ließ Mitte des 19. Jahrhunderts eine hindämmernde Landschaft zum Magnetfeld werden. An der Ruhr & in den Seitentälern wurde ein völlig ungeordneter, vom Zufall abhängiger Kohleabbau betrieben. Man grub kleinere, mehrere Meter tiefe Schächte. Als man vom Stollen- zum Tiefbau überging. In Staub & in Gerölle. Die kleinen Schächte waren bald durch Regen- oder Grundwasser abgesoffen. & dann mußte in Streichrichtung des Flözes wieder ein neuer Schacht gegraben werden. In brennstoffknappen Notzeiten nutzte die Bevölkerung die alten Stollen immer wieder zum “wilden” Kohleabbau. So oft im Traum in der Nacht. Im Kohlenschacht.

05 Ruhr Copyright -Joerg-Gruneberg ( click to XL )

Das Ruhrgebiet ist eine Landschaft, geformt aus großen graphischen Zeichen. Das ganz mit Spuren & gewaltsam durchgeführten Lektüreversuchen überladene Territorium ähnelt einem Palimpsest. Wir müssen ein neues Verständnis des Begriffs ›Stadt‹ als Ort des Unzusammenhängenden, des Heterogenen, des Bruchstückhaften & der ununterbrochenen Umgestaltung erarbeiten. Wir müssen quasi bei Null beginnen. Als ginge es um die Deutung von Tintenklecksen. Strukturen hineininterpretieren oder herauslesen. Im Grunde steht man der diffusen Stadt ähnlich hilflos gegenüber wie der erste Mensch dem Sternenhimmel, den er durch die Projektion mythischer Figuren & Tiersymbole zu strukturieren beginnt. Als größte künstliche Landschaft Europas hat das Ruhrrevier die Chance zum größten Kunstwerk der Welt zu werden. Einer Komposition aus Städten, Straßen, Verkehrswegen, Seen, Wäldern. Der Mensch ist im Begriff, Gestalten zu sehen: ein Segelschiff, eine Hand, einen Elephanten. Die Megalopolis ist nicht schwieriger zu verstehen als ein Bild des analytischen Kubismus. Sie gleicht einem abstrakten Aquarell von Kandinsky, einem Bündel gegensätzlicher Kräfte, sie läßt uns an die All-Over-Technik eines Pollock denken, an die Dekonstruktionen eines Gehry oder die von Coop Himmeln(l)bau. Sie ist nicht chaotischer als eine Beuys-Installation, als ein Jim-Dine-Happening, als eine Fluxus-Performance, als die Musik von John Cage oder Mauricio Kagel. Fremdes, Anderes, Unverfügbares. Die abrupten Schnitte experimenteller Filme, die Abwesenheit eines roten Erzählfadens liefern Interpretationsmuster. Analogien zur Lektüre von Texten moderner Literatur führen vielleicht weiter als der vergebliche Versuch, mit Architektur Ordnung zu schaffen.

06 Ruhr Copyright -Joerg-Gruneberg ( click to XL )

Mancher Blick & manches Bild eröffnen sich erst mit ein wenig Abstand. Viele Jahre achtsam & respektvoll durch den Siedlungsbrei gelaufen zu sein ist die Voraussetzung für eine Lektüre. Wer sich mit der Epoche der Industrialisierung auseinandersetzen will, findet nirgendwo ein besseres Feld als im Ruhrgebiet. Alles ist lesbar. Mit Städten ist es wie mit Träumen. Alles Vorstellbare kann geträumt werden. Städte wie Träume sind aus Wünschen & Ängsten gebaut, auch wenn der Faden ihrer Rede geheim ist, ihre Regeln absurd, ihre Perspektiven trügerisch & ein jedes Ding ein anderes verbirgt. Der Boden ist vermint. Das Gedächtnis ist übervoll. Es wiederholt die Zeichen, damit die Stadt zu existieren beginnt. Beschreibt ein Schriftsteller eine Stadt, verwandelt er eine reale Stadt in eine fiktive. Der Schriftsteller kann dies bewußt oder unbewußt tun. Er kann die Stadt bewußt verändern wollen oder kann sie ungewollt bis zur Unkenntlichkeit verändern. Auch könnte man sich vorstellen, daß eine der zahlreichen utopischen Städte, die in der Literatur beschrieben werden, gebaut wird. Die Stadt kann als ein literarisches Werk betrachtet werden, das natürlich auch non-verbale Teile enthält. Mit eigenen Regeln & Kompositionsverfahren. Ein Werk einer außerordentlich weit ausgreifenden Gattung, da durch die Vermittlung der Bibliotheken & Buchhandlungen die gesamte Literatur zumindest einer Sprache als eines seiner Kapitel erscheinen kann. Alles ist lesbar. Der städtische Raum gibt vor, transparent zu sein. Alles hat Symbolwert, auch wenn Symbole zuweilen fließen. Die Stadt, das Urbane, ist auch Mysterium, ist okkult. & der Nebel wird sich ein paar Tage halten.

|||

Florian Neuner

|||

Hinweise :

|||

There are no comments yet. Be the first and leave a response!

Leave a Reply

Wanting to leave an <em>phasis on your comment?

Trackback URL http://www.zintzen.org/wp-trackback.php?p=14013