Salon Littéraire | Marjana Gaponenko : Annuschka – Piotr 2 / 3

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Salon Littéraire | Marjana Gaponenko :

Annuschka – Piotr 2 / 3

Annuschka VI

Siehe, Mädchen, es erfüllt sich der Traum.
Man hörte dich sprechen: Vater im Himmel,
schaffe mir einen Bruder,
ein Tier das mir gleich sei,
das mich zerreiße im Kampf,
belebt von deinem Hauch,
so wie alles von meinem
jeder Zweig den ich breche,
jeder Stein …

Abends schaust du hinunter aufs Land,
und du schwimmst in seinem Blick,
in seinen untergehenden Augen.
Wo warst du, Mädchen,
woran hast du gedacht,
als du sangst “Bin ich allein?”
in den Brunnen, als sein Herz brach,
in jedem Riss dein Lied:

“Ich träume, doch ich liege wach.
Es umkreist mich mein Spiegel,
um den Apfel dreht sich ein Biss,
Traumbilder schaue ich,
treues Getier, alles meins …”

Und ja, du erhebst dich (nicht)
und du siehst: es erfüllt sich der Traum.
Ein Bruder eilt zärtlich zu dir,
dich im Kampf zu zerreißen.

Annuschka VII

Man sieht dich, es bebt dein Leib auf der Brücke.
Man sagt: da ist sie, und schon stürzt du herab.
Ob als Träne du fielst, ob als Schatten,
ob du wirklich warst? Oh, du tanzt,
tanzt langsam im Wasser, Mädchen.
Silbe um Silbe wächst dein Tanz.
Er mundet dem Himmel.
Er mundet den Sternen.
Sie schneien und schneien
auf den Platz, wo du standst.
Dein klirrender Leib, war er weiß,
war er klar, war er da? Oh, Anna,
es wurde gerufen
ins Auge des Wassers hinein:
Schicke uns einen Traum!
Und du kamst übers Wasser
als Hauch.

Piotr I

(Der Teich)

Du betrittst dieses Zimmer, du verlässt es,
du wanderst hindurch, fällst in die Tiefe,
rast in die Höhe, während du sprichst
Unaussprechliches; lautlos bewegst du den Mund,
als würdest du beten um Regen.

Und schon schielt er tausendäugig auf dich
und steigt die Stiegen hinab. Fuß um Fuß, Ton um Ton,
immer höher, um auf dem eigenen Blick auszurutschen,
dem zu Boden geworfenen. “Vater, wir bitten …” sagst du.

Kind, dich sah ich in der letzten Reihe sitzen,
frisch und süß, die Kirchenbank, dein Hemd, dein Haar …
Ob es schon morgen war? Ob es noch gestern wird?
Es blätterte dein Buch in sich, strich übers Fell sich selbst
von A bis Z, von E bis X; ein Nesselfalter saß auf Seite 4.
Den Kopf an einen Baum gelehnt – du selbst.

Dein Traum sprach auf der Schulter sitzend dir ins Ohr:
“Mein Kind, steh auf, lauf in den Wald -
da wächst ein Wunderkraut – lauf ins Feld!”
Dich sah ich im Gestrüpp am Teich;

Auf warmer Erde lagst du lang und sangst:
“Steh auf, mein Kind, lauf in den Wald, ins Feld ..”
Der Regen kroch aus Löchern hervor.
Er starrte wie erstarrt zu dir hinab,
er schaute aus dir selbst zu sich empor .

Dich sah ich stehen vor dem Haus.
Ein Blitz tanzte einbeinig darin.
Dein Auge, so hell in der Nacht,
dein Mund, gebissen vom Mond,
sang “Steh auf, mein Kind”.

Piotr II

(essentia)

In Erwartung verbringst du dein Leben,
Tage, mit denen du es misst, doch bedenke:
so wie die Liebe kein Ende kennt und keinen Anfang,
beständig gleich , so wahr es keine erste Liebe gibt und keine letzte,
so wahr sie uns niemals verlässt, so ist der Tod ein Scherz.

Du siehst dich um die Bäume schleichen,
sie wie starre Badende umfassen. Du siehst sie glühen,
zu Asche niederbrennen und dir entgegen wachsen,
damit du auf sie warten kannst.

Ein Bäumchen die Mutter, ein Bäumchen der Vater.
Durch sie kamst du zu dir, wer auch immer du bist.
Doch bedenke: du kannst es nicht sein,
denn dein Herr ist mit dir. Wer er ist, willst du wissen.
Es lässt sich nicht merken – so gut weißt du es.

Piotr III

(Brief)

Ein roter Zar ritt durchs Fenster hinein -
in der Dämmerung welkt süß ihr Lächeln,
sie schreibt gebeugt an den Sohn einen Brief:
Sei gegrüßt, Petja,

Uns geht’s gut, Schnaps ist gebrannt
und das Feld abgemäht, der Hund
fraß dem Popen sein Buch aus der Hand,
als er Psalmen las überm Vater.

Nun warten sie alle auf dich:
Vaters Gürtel und Stock und die Uhr,
die er schonend nie trug. Komm,
wann du kannst, lieber Petja.

Ein Eichhörnchen, flammender Ast,
verband mit dem Himmel die Erde -
er stand am Fenster, war wirklich da
und hieß Petja …

Piotr IV

(Der Hut)

Es fängt damit an: du hörst auf die Tage zu zählen.
Ob es schneit oder nicht, ist dir gleich, denn du wanderst umher,
die Augen geöffnet geschlossen, und nach nichts ist dir weh
und nach allem. Leichtfüßig betrittst du den Baum, seine Brust
und fällst seufzend heraus aus den Schränken der Leute
die du nicht kennst, lüftest höflich den Hut, einen fremden;
nur dass er lebte, so wie sein Herr, rührt dich. Du sagst:
er ging in den Gärten, fuhr über Blumen
rollte über Alleen, flog mal hoch und mal tief
unter dem kühlen Gewölbe,
über den Kuppeln der Welt.

Ja, er ritt auf rotem Geläut über allen, auch über dir,
als Tränen dich schnitten in Scheiben, so fein,
dass du nicht mehr wusstest, ob es schneite
oder ob du bloß traurig warst.

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Marjana Gaponenko

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Hinweis

Marjana Gaponenkos Roman “Annuschka Blume” erscheint September 2010 im Residenz Verlag .

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3 Responses to Salon Littéraire | Marjana Gaponenko : Annuschka – Piotr 2 / 3
  1. Melusine Barby
    September 5, 2010 | 07h06

    Gerade ab ich das Buch vorbestellt. Schon der letzte Auszug hat mir so gut gefallen. Die Texte bringen was zum Klingen – und sind auf ganz zarte Weise wirklich ungewöhnlich.

  2. czz
    September 5, 2010 | 09h49

    @ Melusine Barby : Das Buch ist allerdings in Romanform gehalten ; die hier vorgestellten Gedichte sind – so die Autorin – “materia prima” der in Prosa verfassten Version . Ich hoffe , wir werden auch daraus einen kurzen Auszug präsentieren dürfen -

  3. otto brandenberg
    September 5, 2010 | 17h35

    ebenso berührt von grafik&schrift&worten: danke der autorin für diese wundervolle gabe.

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