Salon Littéraire | Leopold Federmair : Tokyo Fragmente 4

Literatur @ in|ad|ae|qu|at : Der SALON LITTÉRAIRE als www- Galerie für Bild und Text

J-Sounds 日本 |

 

Salon Littéraire | Leopold Federmair :

Tokyo Fragmente 4

 

Raucherecke auf einem Tempelgelände: Reservat hinter verstellbarem Lattenzaun, an Orgelpfeifen erinnernd. Während die salarymen in ihren dunklen Anzügen rauchen und plaudern und Dosenkaffee trinken, gehen Gläubige zur Stirnseite des Tempels, werfen eine Münze in die Holzkiste, falten die Hände, verneigen sich kurz. Spielplatz, Friedhof, Raucherecke. Der Tempel als Zufluchtsort für Kinder, Raucher und Tote.

Die Raucher sind inzwischen zu einer Sekte geworden, die man ein- und ausgrenzt. Ist dadurch ihr Zusammenhalt stärker geworden? Früher waren sie zerstreut, hier und dort, man rauchte bei seinen Gängen auf den Straßen und über die Plätze, aber jetzt nur noch in der Gemeinschaft, in kleinen Gruppen, stehend. Man kommt sich näher, redet, hat ein Thema. Reden Raucher über eine Belanglosigkeit wie das Rauchen? Die Zigarettensorten sind weniger geworden, ein Blick auf die Zigarettenautomaten zeigt ein Einheitsbild, anders als die Getränkeautomaten. Anscheinend gibt es diese Sorten noch: Peace und Hope. Sarkastische Namen. Filterlos. Die Zwangsmitteilung lautet, daß man daran stirbt. Wo kann man Peace und Hope kaufen? Ich wage mich nicht ins Reservat. Eher schon auf den Friedhof.

11

Raucherecke in Toranomon

*

Seiji ist im Krankenhaus, Krebs, gutartig, das hört man gern, gibt Hoffnung. Die niederen Decken in den Krankenhäusern machen die Orte düster wie Tiefgaragen. Die Leute, die einem über den Weg laufen, sehen alt aus in diesem Licht. Klar, die Jungen sind gesund, die Alten krank, schließlich sterben sie bald; aber auch die Besucher, die Ärzte, sogar die Krankenschwestern sehen grau und verfallen aus. Ich warte in einem Vorraum, Seiji ist beim Abendessen, das heute später gekommen ist als üblich. So fällt mein Blick unweigerlich auf eine Ölbild-Kopie, Jungfrau mit Kind, ist das Krankenhaus etwa christlich?

Hat man dann mit den Leuten zu tun, verschwindet der düstere Eindruck bis zu einem gewissen Grad. Seiji jedenfalls sieht aus wie immer, etwas abgemagert, nicht zu sehr. Wir reden über dies und das; Literatur, was sonst. Seijis Strenge, mit der er jeden Gesprächspartner zu überrumpeln versucht, als wäre er ein potentieller Gegner, irritiert mich nicht mehr, ich warte, bis sich das Brausen gelegt hat. Eine Berufskrankheit, medizinisch nicht heilbar. Machtkrankheit.

12

Gespenster

Ich erwähne die Hügel von Tokyo, ich weiß nicht, warum, und Seiji nickt. Rom hat sieben Hügel, Lissabon auch… Tokyo besteht aus einer Unendlichkeit von Steigungen und Senkungen, dann wieder Flächen, Ebenen, plötzlich ein Berg, immer wieder überraschend, nie hat man einen Überblick, von den Hochhäusern aus sieht alles flach aus, aber das täuscht. Seiji sagt, er habe ein Phantomgefühl für die verschwundene Stadt. Für die Gegenden Wiesen Gassen Häuser Bäche, die den Modernisierungswellen zum Opfer gefallen sind, und davor dem Krieg und davor dem Erdbeben. Seiji spürt selbst das, was er selbst nie gesehen, nie gespürt hat, außer durch die Erzählungen seiner Eltern und Großeltern, und so ist sie immer noch da, die alte Stadt.

“Phantomschmerz?”
“Nicht Schmerz; ein Gefühl. Wut manchmal, weil Stadtverwalter Gassen zerstört haben für eine Handvoll Ministerien, hier in der Nähe. Andererseits ist alles noch da, hinter dem Mori-Biru spüre ich das alte Holzhaus, in dem ich als junger Mann gearbeitet habe.”

Mori biru heißt eigentlich “Waldgebäude”, aber es ist aus Beton, Glas und diversen Kunststoffen, wie alle “modernen” Gebäude. Früher war ganz Tokyo aus Holz, nicht nur die Tempel und Schreine, die Stadt wurde immer wieder durch Feuersbrünste zerstört, nicht nur in Kriegszeiten und bei Erdbeben. Seit jeher ist man daran gewöhnt, wieder von vorne anzufangen und alles neu aufzubauen.

*

Roppongi, nachts, das Lieblingsviertel der Ausländer, Intellektuelle inklusive, weil da was los ist, alle paar Schritte ein schwarzes Mannstrumm, das dem weißen Ausländer auf die Nerven fällt, Keiler von irgendwelchen Bars, die einzige Tätigkeit, für die Schwarze in Japan willkommen sind. Ein österreichischer Autor hat sich nicht entschlagen, ein Buch, das wie üblich von seinem Dorf und seinem Vater handelt, “Roppongi” zu nennen. Wie üblich stehen an der Hauptkreuzung aufgedonnerte Mädchen auf hochhackigen Schuhen herum, Hostessen oder einfach nur Roppongi-Girls, über ihren Köpfen die Stadtautobahn, alle Winkel vollgestopft mit Verkehr und Vergnügen, unten in der U-Bahn eine Schar ausländischer Jungs, Weiße, laut, auf dem Boden sitzend, Bierdosen wie Andachtsgegenstände vor sich, westliches Flair, westliche Rüpel. Man rottet sich zusammen.

13

Am Fuß der Roppongi-Hügel. Auch schön

Hierher komme ich nur wegen dem Zero Hour, von der U-Bahn-Station ist es ein Fußweg von zehn, fünfzehn Minuten, bergab, die Roppongi-Straße entlange, Autobahn überm Kopf, bis zur Talsohle, wo nur noch eine Tankstelle und ein Konbini ist, sonst Dunkel, die Hochhausschatten am Gegenhang. Zwei ansprechende Orte habe ich in Roppongi dennoch gefunden, obwohl es, um die ganze Wahrheit zu sagen, genügt, ein paar Häuserblocks von den Hauptstraßen wegzugehen, schon ist man wieder im Tokyo der Hütten und Schreine und unermüdlichen Gewächse, Blumenstöcke, Bäumchen auf Geh- und Fahrsteigen.

Eine alte, aufgeschwemmte, krank aussehende Frau mit gepudertem Gesicht und Dauerwelle hat hier zwischen all den Bars und Restaurants ein winziges Sockengeschäft, da verweile ich und plaudere, weil ohnehin keine Kunden kommen, über meine und ihre Familie, Töchter (zwei auf ihrer, eine auf meiner Seite), Nichten, Neffen, Enkel (ihre), bevor ich ein Paar Kindersocken mit Erdbeer-Muster und eines aus Hanf für mich selbst kaufe und dann in das Café gehe, von dem ein Stockwerk halb unter der Erde, das andere zwei Meter über dem Gehsteigniveau liegt.

Zugang über die nach unten führende Treppe, dann wieder rauf, wenn man will. Ein Kutschenrad an einer Wand, ein antikes Halbrelief (römischer Männerkopf) an der Wand gegenüber, eine schwerfällige Vase mit ausladendem Ährenbündel. Ein distinguierter Herr, die Zeitung säuberlich zusammengefaltet vor sich, tut so, als würde ich ihn beobachten: als sei er in seinem Leben, in dem so gut wie gar nichts geschieht, dadurch gestört, daß er von mir beobachtet wird. Am Tisch in der hinteren Ecke, einander gegenüber, ein ältliches Liebespaar, das mich an ein anderes erinnert, gesehen vor einem Jahr in Paris bei der Gare de Bercy, aber die küßten sich unentwegt und wuchsen im Zeitraffer zusammen, während sich hier kaum die Fingerspitzen berühren, außerdem war es in Paris früh am Morgen, die beiden Alten wahrscheinlich übriggebliebene Nachtschwärmer, während hier gerade die Dämmerung einbricht, eine dezente Tageszeit.

Im Zero Hour lerne ich Ron kennen, einen Amerikaner mit mexikanischen Gesichtszügen, in Los Angeles geboren, seine Eltern waren, sagt er mir später, aus Mexiko zugezogen. Sechzig Jahre alt, sieht aus wie fünfzig – bei ihm funktioniert der Trick noch. Schwarzes Haar: Gefärbt? Auch der Schnurrbart gefärbt? Arbeitet als Übersetzer, nur Technisches, für Autofirmen und dergleichen. Lebt seit fünfundzwanzig Jahren in Tokyo, spricht und versteht nicht besonders gut Japanisch (behauptet er), kann aber gut lesen, schließlich hat er jahrelang chinesischen Zeichen gebüffelt. Spricht ein bißchen Spanisch, aber die Aussprache… Als er den Besitzer des Tanzlokals erwähnt, höre ich dreimal “Won” und denke: Auch der Tango schon in chinesischen Händen? Bis ich endlich verstehe: Juan. Argentinier. Klar. Rons Tango-Freund hier ist dreiunddreißig, war früher bei der japanischen Marine, so hat er Buenos Aires kennengelernt, auch Hamburg, spricht mehrere Sprachen, passables Deutsch, jetzt im Immobiliengeschäft tätig.

Und so weiter… Getanzt mit… Personeninformationen, wozu, das hier ist keine Polizeikartei. Mirta sitzt an der Kassa, eine wirklich distinguierte Dame, kommt von nirgendwo, schwebt über allem, wird wohl in Polen geboren sein, aber dann… Wir reden über Mirta Legrand, die argentinische Fernsehdame vom Mittagsprogramm, wo Silberbesteck und Porzellantassen klirren, dicke Ringe an den manikürten Fingern. Wer? Die Fernsehdame oder die Polin? Beide. Jetzt, wo ich schreibe, wird mir klar, daß ich die Frau als Wiedergängerin abgestempelt habe. Deshalb ist sie pikiert. Zurecht.

Die Milonga ist schön, gutes Licht, der Raum nicht zu groß, nicht zu klein, nicht zu hell, nicht zu dunkel. Juan kümmert sich persönlich um die Scheinwerfer, kommt mit einem Stuhl an, steigt hinauf, tauscht eine Lampe aus, vor ein paar Minuten hat er noch Tango-Schritte vorgemacht. Langes Haar, hinten zusammengebunden, Pluderhose, selbstsicheres Gehabe, einer von den Jungs aus La Estrella, hat sich selbständig gemacht. In seinem Lokal herrscht die rechte Mischung von Geselligkeit und Konzentration auf den Tanz. Gute Musik, Tandas, fast kein Techno.

Im Hintergrund die Theke, an der Einzelgänger lehnen und das Geschehen beobachten. Die Frauen tanzen, ohne an die korrekten Schritte zu denken, se entregan, haben nicht diese Berührungsscheu. Ein paar jedenfalls. Früher, in Osaka, habe ich manchmal das Spiel gespielt, das darin besteht, das Ausweichen nicht hinzunehmen. Der Tanz beginnt mit dem abrazo, der Umarmung, aber wenn ich auf eine Frau zuging und vor ihr zu stehen kam, drehte sie sich leicht zur Seite, sie wandte sich ab. Diesen kleinen Ruck machte ich nach, so daß ich der Tänzerin wieder gegenüberstand. Und sie gab sich neuerlich einen Ruck, fünf Grad von den 360 des Kreises, weil sie die frontale Nähe nicht ertrug. Dieses Spiel könnte man endlos fortsetzen, Ruck um Ruck, langsam einen Kreis beschreibend, viele Kreise, bis die Musik aufhört. Ausweichtanz: Man befindet sich nie gegenüber, in jede Zuwendung ist ein Gran Abwendung gemischt.

*

14

Das Glück beim Essen einst

Sonntagmorgen, der Frühstücksraum gesteckt voll, Familien mit Kleinkindern, auch Großväter, Großmütter. Sind zu einer Hochzeit gekommen oder für ein Totengedenken, sieben oder vierzehn Jahre nach dem Tod des Angehörigen. Oder sie machen einen Ausflug, in den Ueno-Park oder in ein Museum, nach Asakusa oder auf den neuen Sky Tree, der doppelt so hoch ist wie der alte Tokyo Tower, super!

Auf dem Flachbildschirm über den Tee- und Kaffeebehältern sind wasserbedeckte Reisfelder zu sehen, ein knallroter Kleintraktor, von dem ausgesät wird, in seinem Gefolge eine Schar Reiher, die Samenkörner picken: Der Bauer auf dem Traktor, den Kopf rückwärts gewandt, schaut ihnen gelassen zu. Nahaufnahme: Die Reiher kleiner als die übliche Spezies, der Wind spielt im hellbraunen Flaum, der Kopf und Hals ziert.

Gegrillter Lachs, weißer Reis, Misosuppe, Tsukemono, getrocknete Fischchen mit Sojasoße. Obst als Nachtisch. Durchschnittsfrühstück für Durchschnittsbeamte. Es wird mein Tagesessen sein.

15

Schwefelmorgen…

Draußen ein seltsames Licht, Straßenlampen brennen noch, die Uhr in dem kleinen Park gelblich, Graugelb der Himmel, ein Schwefeltag. Erst als ich Leute bemerke, die sich schwarze Plättchen vor die Augen halten und zum Himmel starren, erinnere ich mich: Heute ist Sonnenfinsternis. 8 Uhr 31, die Sonne ist ein äußerst feiner, scharf leuchtender, Kreis; die Mitte der Scheibe, die die Erde nicht wie gewohnt erhellt, wird von etwas verdeckt, das wohl der Mond sein wird.

Man bewegt sich anders durch die Straßen, ich bewege mich anders, gehoben, ich weiß nicht, aus der Normalität gehoben, nicht so durchschaubar wie sonst, aber auch nicht versteckt, sondern leicht verschleiert wie alles übrige. Gegensatz zum gestrigen Lichtmorgen in der oberirdischen Untergrundbahn. Heute will ich den ganzen Tag zu Fuß gehen. Auf einer der Brücken über dem Meguro-Flüßchen sitzen ein paar müde Kellner aus der Großkneipe an der Ecke, Bierdosen in der Hand, ab und zu ein flüchtiges Blinzeln zur Sonne, die nicht da ist.

16

…mit Bierfrühstück

Der Abschnitt hier am Fluß, der tief unten zwischen düsteren Schutzwänden rinnt und von Kirschbäumen gesäumt wird, die in der Blütezeit tausende Spaziergänger und hunderte Picknicker anziehen, jetzt aber eher eine Atmosphäre der Einsamkeit verströmen, dieser Abschnitt ist, wahrscheinlich in wenigen Jahren, zu einem dezent – das Wort läßt sich nicht abdrängen – dezent schicken Viertel geworden, mit “organischen” Cafés und Kleidergeschäften von avantgardistischen Designern in den Erdgeschoßen der Wohnhäuser. 21.000 Yen für ein T-Shirt, alles kostet 21.000 in diesem Geschäft, und auch im nächsten. Einheitspreis, der Krieg der Preismacher aufgehoben.

*

Ich beschließe, dem Lauf des Flusses zu folgen, der zeitweise unter der Erde verschwindet und jetzt von hochhausgespickten Hängen flankiert wird. Ein neuer Verkehrsknoten ist im Entstehen, ein großer Kreisverkehr, der Betonsockel dafür sieht aus wie ein altrömisches Mausoleum, oben ist Erde aufgeschüttet, vielleicht soll da auch etwas Organisches wachsen.

Nach einer Weile taucht der Meguro-Fluß als Bach auf, die Straße wird zum Weg, den Fußgeher, Läufer, Radfahrer, Kinderwagen schiebende Mütter – und Väter: es ist Sonntag – benutzen. Die Strecke, bis der Bach wieder verschwindet, ist fünf, sechs Kilometer lang, irgendwo gabelt er sich, der Arm, dem ich folge, heißt jetzt Kitazawagawa. Die Ufer sind mit allen denkbaren Sorten von Blumen, Gräsern, Schilf und Büschen bepflanzt, kleine Schilder verraten die Namen, ohne daß das Ganze zum Lehrpfad würde – es herrscht ein schönes pflanzliches Durcheinander, und wir, die Flaneure, saugen die Düfte ein, damit uns bei keinem Atemzug etwas davon entgeht.

Gesäumt wird die Promenade von Privathäusern, Wohnblöcken, kleinen Lagerhäusern, Schulen. Alles wächst üppig, es wird ständig gepflegt, von Gärtnern, d. h. Pensionisten, die sich ein kleines Zubrot verdienen und von Freiwilligen und Anrainern unterstützt werden. Die Fußgeher bleiben stehen, plaudern mit den Gärtnern, bedanken sich. Es ist die Rückseite der Stadt, denke ich, und dann: Daß wir immer die Geschäfte und den Fahrzeugverkehr als Vorder- und Hauptseite betrachten müssen… Kann das Konzept – ein neues Urbanisierungskonzept – nicht darin bestehen, diese dörfliche, pseudo-dörfliche, mag sein, Rückseite der Stadt zur Hauptseite zu machen?

17

Die Rückseite der Stadt

Ja, darin besteht das Konzept, aber ich fürchte, daß es nur in japanischen Städten umgesetzt werden kann, weil die Voraussetzungen dafür nur hier gegeben sind: ein Achtung vor der Umwelt, vor den anderen und dem andere, als allgemein verbindliche Haltung. In jeder anderen Stadt wäre längst alles zerstört, zertrampelt, zerrissen, beschmiert. Der Vandalismus in den Städten und Vorstädten, wie er sich in den letzten Jahren in London und Paris gezeigt hat, aber sich eigentlich tagtäglich überall zeigt, ist nicht nur ein Haß auf die Reichen, also ein Aspekt jenes Neids, den der Neokapitalismus des 21. Jahrhunderts fördert, sondern ein Haß auf Schönheit und Unversehrtheit. Wenn ich kaputt bin, soll alles andere auch kaputt sein: so funktionieren die Akteure/Destrukteure. Über die betulichen Omas und die kinderwagenschiebenden Eltern würden sie nur lachen.

18

Walderdbeeren in Setagaya

Meinetwegen kann das hier auch die Rückseite bleiben. Ist vielleicht besser so: geschützt, nicht zu auffällig. Man muß auch sagen, daß der Bach stinkt. Nicht zu sehr, nicht so entsetzlich schmierig faulig wie, sagen wir, der Riachuelo in La Boca, aber doch, es geht ein Geruch von dem Rinnsal aus, und an einigen Stellen bildet sich ein wenig Schaum. Kein Vergleich zu dem dreckigen Fluß zu Hause in Saijo, wo die Sanierer alles noch schlimmer machen: Zuletzt haben sie die plastiksäckchenbestückten Bambushaine an der Böschung geschlägert und die Inselchen planiert und damit die Reiher vertrieben.

Die Kläranlage ist in Saijo der größte Umweltverschmutzer von allen, die Reisbauern mit ihren Chemikalien sind die kleinen. Am Ende wird es nur noch in Tokyo so etwas wie unberührte Natur geben. Die natürlich nicht unberührt ist, sondern von zahllosen Händen begrapscht: deshalb wächst auch alles so schön. Weiter oben, beim Kitazawagawa, wächst weniger weniger prächtig, da sind mehr apere Stellen, Leere, Pfützen, Sand; dafür mehr Schildkröten, die sich ins Wasser ducken, wenn ich sie photographieren will. In zwei, drei Jahren wird der Kitsch von unten bis hierher vorgedrungen sein, dank den fleißigen Gärtnern, die alle noch -zig Lebensjahre vor sich haben dank der regelmäßigen Bewegung unter freiem Himmel, die sie ihren Körpern gönnen.

Schildkröten alle paar Schritte, die ich bachaufwärts tue. Oder mein Blick hat sich in der letzten Stunde geschärft; hat sich, genauer gesagt, von der Beton- und Glaswelt auf die Tier- und Pflanzenwelt umgestellt. Im Dunkel unter einer Holzbrücke bemerke ich eine Bisamratte, einen Biber, nein, eine Bisamratte, egal, die ein paar Schritte trippelt, bevor sie sich hinhockt und an etwas nagt oder so tut, als würde sie nagen.

Zwei Männer mittleren Alters, beide in längsgestreiften Hemden, ohne Sakko, bleiben stehen, der eine deutet hinüber zum anderen Ufer, zu den Steinen am Wasserrand, wo die Bisamratte verschwindet, wieder auftaucht, verschwindet. Dobutsu ha dame dayou, sagt er, oder so ähnlich: Tiere können wir nicht brauchen, weg mit ihnen. Sind das Stadtplaner? Anrainer? Jedenfalls die Sorte von Männern, die glauben, alles beherrschen zu müssen.

Noch ein Detail: die Hummel. Trunken, bekleckert. Ein dralles, wohlgenährtes Exemplar mit schwarz glänzendem Körper, wo er durchscheint, denn das meiste davon ist bestäubt, weiß und gelb, als trüge sie ein Hochzeitskleid. Trunken von Nektar, zur Feier bereit, so torkelt sie durch die Luft, zur nächsten Blume, hat immer noch nicht genug.

19

Glücksfisch in Shibuya

*

Meguro heißt eigentlich “Schwarzauge”. Oder “Augenschwarz”. Das fällt mir ein, als mir ein Mann seinen Namen sagt: Kurogo .

“Seltener Name”, sage ich.
“Ja”, sagt er.
“Wie schreibt man das?”

Er gibt mir seine Visitenkarte. Die Bedeutung des Namens ist “Schwarzkind”.
Schwarzkind, Augenschwarz.
Trunken, bekleckert.
Das hallt nach. Und tönt zusammen. Symphonie der Wörter, der Dinge. Sympathie der Wörter der Wörter für die Dinge, mit denen sie sich verbinden, transmorph.

20

Parken in Nakameguro

*

Von einer Bahnstation mitten in den Hügeln von Setagaya bin ich nach Shinjuku gefahren, einem der Hauptverkehrsknotenpunkte Tokyos. Zwei Stationen, mehr nicht. Will von hier zum Meiji-Schrein gehen, eigentlich nur, um noch ein paar Fotos zu machen. Zweifelnd, ob ich mich in die richtige Richtung bewege, frage ich bei einer Polizeihütte. Die Polizistin davor hat keine Ahnung, ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie weiß, was der Meiji-Schrein, einer der bedeutendsten des Landes, überhaupt ist. Sie schlägt mir vor, in die Hütte zu kommen und die Stadtteilkarte zu studieren. Ein Mann in Zivil, mit Schleife um den Oberarm, scheint mehr zu wissen: Der Schrein sei weit weg.

“Wie weit?”
“Zu Fuß zwanzig Minuten.”
“Aber in den Bahnhöfen muß man erst recht herumlaufen, das dauert mehr als zwanzig Minuten.”
“Aber es ist heiß heute.” Gemeinsam sorgen sich die beiden um mein Wohlergehen.

21

Zicklein in Shinjuku

Danke, danke. Ich beschließe, noch eine Station zu fahren. Komme, wieder in Bahnhofsnähe, an einem Café vorbei, an dessen Außenseite eifrig geputzt wird. Davor stehen zwei mit Stricken festgebundene Zicklein und schauen dem molligen Mädchen zu, das einen Putzlappen über die Scheibe zieht. Ein paar Schritte weiter eine Pizzeria mit dem Namenszug Salvatore Cuomo über dem Eingang, ein Bataillon Mopeds mit Pizza-Kästen hinten auf dem Gepäckträger. Drinnen wird gerade für das Mittagsgeschäft gedrillt: Antreten in zwei Reihen, Verneigung, einstimmiges Gebrüll. Ich sehe, wie die jungen Männer ihre Helme aufsetzen, ins Freie stürzen, sich auf die Fahrzeuge schwingen und losbrausen, hinein in die Schlacht.

(Meine Phantasie. Natürlich kommen die Bestellungen zuerst tröpfchenweise, dann geballt, bis das Geschäft wieder abflaut…)

*

Irgendwo in der U-Bahn ein Schwächeanfall, ich erinnere mich jetzt, eineinhalb Stunden danach, im 45. Stock des Tochou, der Präfekturverwaltung, teils wie durch einen Schleier, teils mit großer Bildschärfe an den halbleeren Waggon, die aufgehende Tür, den steilen grünen Abhang gegenüber der Bahntrasse, den Sportplatz darunter. Es war ein beliebiger Ort, ich kam vom Toranomon-Krankenhaus, und einen Momentlang dachte ich sogar: Wäre ich doch im Krankenhaus geblieben… Aber Ärzte helfen auch nicht gegen Lebensschwäche, sie helfen nicht, wenn es darum geht, den Gegenausschlag der Intensität unter, wie soll ich sagen, Kontrolle zu halten, also abzudämpfen.

Vielleicht habe ich mich einfach überanstrengt, den Lebensrhythmus zu rasch umgedreht wie einen Handschuh: Was außen war, ist jetzt innen, und umgekehrt.

Genau. Soll ich durch die immer noch offenstehende Waggontür gehen? Auf dem Bahnsteig verweilen? Nein. Ich mache ein paar Schritte auf dem Boden des Waggons, der hellgrün ist wie der Linoleumboden meiner Volksschule, Bewegung ist besser als Stillstand. Als der Zug anfährt, lehne ich mich an die jetzt geschlossene Tür, schließe die Augen und spüre, wie es nach innen geht: Was für ein Abgrund, steil wie die Böschung über dem Sportplatz, aber viel tiefer; was für ein ungeheurer Raum, was für ein Fall! Ich öffne die Augen: Wie viele Menschen, vier, fünf sind es allein auf der Sitzbank dort, und die Unmenge, wenn ich nur wenige Minuten zurück oder voraus denke! Was für eine Unablässigkeit, Sekunde für Sekunde! Wie kann man das alles aushalten?

*

Das geht vorbei. Man muß es durchstehen. Ich denke an die Desillusionierungskunst Dazais, die alles so erscheinen läßt, wie es ist: dem Verfall geweiht, heuchlerisch, angeberisch, unzählige Fassaden, die den dahinfaulenden Kern umgeben. Er selbst, schreibt Dazai, war in seiner Kindheit ein notorischer Schauspieler, Spaßmacher, Lügner. Genau wie die anderen, nur daß die anderen darüber kein schlechtes Gewissen hatten oder gar nicht merkten, was sie taten.

Indem er darüber schreibt, produziert Dazai ein schönes Kunstwerk. Schöner als die Romane Emmanuel Boves, die düsterer sind: Das Licht ist düster, die Ausweglosigkeit lastet auf den Figuren und bald auch auf dem Leser, während Dazai (nicht die von ihm geschaffene Figur), auf alles herabblicken kann, immer noch lächelnd, immer noch Kind. Vielleicht war er doch ein wenig buddhistisch. Nicht Hoffnung, sondern fröhliche Hoffnungslosigkeit, falls es einer Maxime bedarf. Es ist alles egal, also tun wir was, zumindest Bücher schreiben, Bilder malen, Karikaturen zeichnen. Take pictures .

22

Picture: peinliche Ordnung

Kann es sein, daß der Schwächeanfall vorhin von meiner Dazai-Lektüre rührt? Wie die Magenreizung damals, vor fünfzehn Jahren, in Paris, als ich diesen Selbstmörderroman von Bove nachlas, bearbeitete, korrigierte. Eine Übersetzung korrigieren: schreckliche Arbeit, doppelte Ohnmacht, weil man auf das Werk so gut wie keinen Einfluß mehr hat, auf das Original nicht, auf das zweite Original auch nicht. Man muß sich dauernd zusammennehmen. Zurückhaltung und Kritik. Irgendwann, nach zweihundert Seiten, wurde mir schlecht, ich war allein in der Wohnung von Freunden, die aufs Land gefahren waren. Zur Sicherheit ging ich hinunter auf die Straße, ich sah nur noch verschleiert. Ein Sonntagvormittag, ich wankte auf dem Gehsteig, hielt ein Taxi an, der Fahrer verweigerte die Fahrt ins Krankenhaus. Dann krümmte ich mich in irgendeine Ecke, und jemand rief die Rettung an, die mich in die Salpetrière brachte. Vielleicht hatte ich ja nur den Schimmelkäse nicht vertragen. Was, Schimmelkäse gefrühstückt? Nein, ich bin sicher, daß Bove schuld war. Und jetzt Dazai? Weniger sicher.

Jede kleinste Tatsache ist bekanntlich multikausal, hat ein chaotisches Gewirr von Gründen. Wer will die Fäden auseinanderklauben? Dieser Gedanke macht einen auch wieder schwindeln. Soll ich hinauffahren in den 45. Stock, habe ich mich vorhin gefragt, und wieder die Antwort: Bleib auf deiner Bahn. Die diesmal senkrecht ist…

Ohrensausen im Non-Stop-Aufzug, ich stehe allein in der nicht sehr großen Kabine. Oben dann, auf der Aussichtsetage, ein leichtes Schwindelgefühl; vorsichtig nähere ich mich dem Fensterglas. Ich weiß, daß dieser Turm beständiger ist als all die kleinen und mittleren Häuser da unten. Trotzdem spüre ich ein Schwanken. Oder schwankt es in mir? Die Luft ist schwer zu atmen. Hier kann man bestimmt kein Fenster öffnen.

Erst als ich im Café sitze, vergehen die Nachwirkungen des Anfalls, meine inneren Beben. Auch die Luft läßt sich wieder atmen. Das Café ist leicht erhöht, auf einer unmerklichen, halbkreisförmigen Tribüne, von weißen dorischen Säulen umgeben, einige davon zerbrochen unter dem Zahn der Zeit, dessen Metaphorik hier imitiert ist, denn diese Säulen haben ein kurzes Leben hinter sich und waren schon immer zerstört. Postmodern hat man das im 20. Jahrhundert genannt. Theater, Zitat, Amphitheater. Ein schwarzes Klavier zwischen Gummibäumen. Ich schreibe, stehe auf, schaue auf die Stadt, photographiere. Schreiben, lesen, aufstehen, take. Der lesende Mann am Nebentisch fühlt sich nicht gestört. Ich bin dezent. Die digicam ist dezent. Ein Sportflugzeug fliegt vorbei, es schwänzelt fröhlich wie ein Fisch, zeigt bei kleinen Richtungswechseln die Oberfläche der Flügel, eine Grußbotschaft an uns, die einsamen Gäste.

23

Kreuzigung

Gefühl der Reinheit jetzt, großartige Reinheit, vielleicht wegen dem vielen Himmel ringsum. Auch wegen der Reinheit und Ordentlichkeit des Lokals mit den millimetergenau aufgereihten Flaschen und Gläsern und Kannen, den exakt plazierten Servietten, Gabeln, Eiswürfeln, der fleckenlosen schwarzen Thekenfläche, die den Himmelsglanz zurückwirft und so einen zweiten Himmelsstreifen bildet. Und während ich schreibe, werde ich selbst von der Höhe infiziert, inspiriert.

Noch eine Seite Dazai? Morphinphantasien, vielleicht. “In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, angegriffen zu werden. Ich war nicht zornig, haßte niemanden, hatte auch keinen Kummer; trotzdem packte mich eine entsetzliche Angst. Es war nicht die Art von Schrecken, die man auf einem Friedhof hat, wenn man einem Gespenst begegnet. Sondern eher das Entsetzen im Zedernwald bei einem Shinto-Schrein, wenn dir eine Gottheit in weißem Gewand erscheint: das vernunftlose, abgrundtiefe Entsetzen der prähistorischen Menschen.”

Was mich betrifft, so bin ich noch einmal davon gekommen. Es war, jetzt gerade, eine von vielen Auferstehungen, die das Leben bietet, begleitet – oder besser: bezeichnet – oder besser: verwirklicht von diesem Gefühl, das sich nur mit schlichten Worten sagen läßt, wenn überhaupt: Ich tauche auf, schwebe empor aus dem Totenreich, bin wieder da.

Hinuntergefahren (auf die Erde geschwebt) neben einer Mutter mit ihrem etwa achtjährigen Sohn. Ich lächele, sie lächeln. Ohrensausen. Die Kabine zittert ein wenig. Alles normal.

*

Zwischen den Bäumen des kleinen Parks zu Füßen des Tochou hat sich eine erkleckliche Zahl von Obdachlosen in blauen Zelten angesiedelt, wenige Meter vom Sockel des zweitürmigen Riesengebäudes entfernt. Primitive Zelte als Verhöhnung der modernen babelischen Bauten? Wer denkt denn an sowas. Wirklich primitiv ist die Siedlung nicht, man sieht Fahrräder, Besen und Schaufeln, Wäschespinnen, Wasserkanister, Styroporkisten (wahrscheinlich zu Kühlzwecken), Schuhpaare vor den Eingängen, auch Schmuck, Porzellanhunde, mit Wasser gefüllte Plastikflachen, die angeblich die Katzen fernhalten. Weiter unten, zwischen Schrein und Polizeihütte, die die Form eines griechischen Rundtempelchens hat, ist eine öffentliche Toilette.

24

Koban

Ich gehe an einem Bärtigen vorbei, der mit einem Heft auf einer Steinbank sitzt. Oft habe ich in Japan erlebt, daß sich Obdachlose mit Lektüre die Zeit vertreiben. Was der Mann liest? Er schaut sich Bilder von Frauen an, Zeichnungen, eher Schemata – ein Katalog von nackten Kleiderpuppen.

25

Da oben bin ich kurz vorher gesessen und habe hinunter geschaut

Nishishinjuku. Das Vergnügungsviertel des Viertels kommt in dem Buch vor, das ich gerade übersetze. Die Heldin läuft ihrem Liebhaber in spe durch eine schmale Gasse zwischen Huren und Strichern davon. Nein, ich suche nicht nach solchen Schauplätzen. Besuche auch keine Geburts- und Todesstätten von Dichtern. (Dazai ist irgendwo hier in einen Hochwasser führenden Fluß gesprungen, gefunden hat ihn viele Kilometer entfernt. Der Fluß wird heute ohnehin verschwunden sein, wie die Kaschemmen, die er besuchte. Es sind nur noch Phantomorte, die ich hinter den jetzigen ahnen kann.)

Vergnügungsviertel am hellichten Tag, noch dazu wenn es heiß ist: Nein, danke. Habe ich einmal gemacht auf Empfehlung eines deutschen “Ethnologen”, zehn Jahre ist das her, Ginza im August, hirnverbrannt. Stattdessen mache ich mich auf die Suche nach den Sozialbauten, die ich, ebenfalls vor vielen Jahren, hier in der Nähe bewundert habe. Sie waren tatsächlich den Plattenbauten ähnlich, die ich in Ungarn kennengelernt habe, indem ich dort wohnte, umgeben vom Gezwitscher der Vögel, die den nahen Auwald bewohnten. Die Plattenbauten in Nishishinjuku, ebenfalls schmuddelig, klar, gelblich, abblätternde Wände, Risse von einstigen Erdbeben, mit sorgfältig gepflegten Blumen- und Gemüsegärten vor den Eingangstüren.

Ich habe sie nicht gefunden, habe mich bald woanders hintreiben lassen. Statt dessen gefunden: erschöpfte Arbeiter auf einem Spielplatz, Ellbogen auf die Knie gestützt, Kopf zwischen den Handflächen; einen dreieckigen Blumenplatz in der Mitte eines rechteckigen Platzes, der vorsichtig von dem einen oder anderen Auto umfahren wurde, gleichsam beschnuppert wie von riechlustigen Hunden; einen Mann in einem halbdunklen Schuppen, der Reis aus einem Behälter in große Säcke rieseln ließ; mich selbst (wiedergefunden) und diesen Gedanken hier:

26

Erschöpfter Arbeiter, nein: Sicherheitsmann (siehe Leuchtstock). Die Arbeit wird von Maschinen erledigt

*

Ich warte auf Megumi vor dem Ostausgang des Bahnhofs. Da ist wieder mal eine Polizeihütte, und ich kann nicht umhin, das Zufallspaar zu photographieren, das vor meinen und den Augen vieler anderer Wartender posiert, ohne zu posieren. Ein Mädchen in kurzen rosa Hosen, mit ausgewogenen Gesichtszügen, prallen Schenkeln, leichten Schuhen mit hohen, breiten Absätzen, strumpflos, ganz ihrem Handy hingegeben; und neben ihr ein untadeliger junger Polizist mit freundlichem Lächeln und zugeknöpfter Uniformjacke.

Was haben die beiden miteinander zu tun? Sie sind einander spürbar nahe, wechseln aber kein einziges Wort, schauen sich auch nicht an. Das Mädchen – vulgärer, offener, volkstümlicher als das Heer der schicken Einkäuferinnen hier in der Gegend, die ihre Beine ebenfalls gern herzeigen – wirkt überhaupt nicht beunruhigt. Welchen Grund könnte sie haben, zur Polizei zu gehen? Wenn sie bloß auf jemanden wartet, warum tut sie es dann nicht auf unserer Seite? Vielleicht spielt sie wirklich ein Schauspiel, unbewußt, ein Duett, über das ihr stummer Partner lächelt.

27

Hier wird nicht posiert!

Dann kommt Megumi, früher meine “Schülerin” (die Scham diktiert mir Anführungszeichen), wir gehen in ein Café, das sie ausgewählt hat. Die Menschenmenge von Shinjuku hat mich enthusiastisch gemacht, ich halte die Kamera hin, drücke öfters, ein Junge macht seinen Freund aufmerksam, daß er photographiert wird. Keine Angst, die mögen das, auch wenn der blonde von den beiden, etwas kleiner und jünger, aber mehr herausgeputzt als der andere, böse zu schauen versucht. Ich glaube, das ist sein Trick, sein Stil, ein hartes Gesicht zu machen, herausfordernd zu schauen.

Der Trick funktioniert nicht, jetzt nicht, nie. Er ist ein freundlicher Junge wie sein Bruder da, unbedarft wie die meisten – ich kenne sie doch, meine Schüler. Sie arbeiten für ein Izakaya, Keiler sind sie. Bestimmt fragen sie sich, wie Megumi und ich zusammengehören, ihr Vater kann ich nicht sein, das sieht man. Auf alle Fälle beschwören sie uns, ins Izakaya zu kommen, was anderes fällt ihnen nicht ein, oder anders gesagt: Auch sie machen nur ihre Arbeit, ernsthaft, majimeni . Spaßarbeit, so wie andere Büroarbeit machen, oder Sexarbeit, Verkäuferarbeit, egal.

28

Großer und kleiner Bruder

Das Café, in das wir dann hinabsteigen, heißt Ranburu, mit Hiragana-Zeichen geschrieben, nicht mit Katakana, wie man es für ein nicht-japanisches Wort erwarten müßte. Oder ist es doch japanisch? Nein, englisch: ramble, umherziehen, seltsamer Name für eine Bleibe. Oder französisch? Auf der Visitenkarte, die ich mitgenommen habe, ist das Foto des Schilds über dem Eingang zu sehen, und da steht unter ranburu deutlich l’ambre, was man in Hiragana genauso schreibt wie ramble . Also Bernstein? Oder “schweifender Bernstein”? Wieder einmal ein Wortspiel à la Showten? Oder doch nur ein Fehler?

Wir steigen hinunter, zwei Stockwerke tief, man hat das Gefühl: in die Unterwelt, zumal es hier eher dunkel ist, Backsteinwände und schwarze Leuchter mit wenigen Lampen an der Decke, rote Plüschbänke, schmale Bogenfenster in Zwischenwänden. Der Raum wirkt gotisch, soll gotisch wirken, wie ein britisches Spukschloß; wirkt aber auch wie eine deutsche Bierhalle, zumal es laut ist: an den Tischen sitzen größere Gruppe, es ist immer noch Wochenende. Unter der Woche fühlt man sich hier wahrscheinlich verloren. Gruppen von Freundinnen, Kaffeekränzchen, und wie so oft ist eine darunter, mit der sich ganz nebenbei ein Spiel von Hinschauen und Wegschauen entspinnt. Während sie mit ihren Freundinnen um die Wette plaudert und ich Megumi alles mögliche erzähle, erläutere, erzähle, deutsche Sätze, die versteht sie sehr gut. Bin aber ganz bei der Unbekannten, bin hier und dort, wie die Frau bei mir und bei ihren Freundinnen ist, die reden und reden.

Ich kenne wenige Menschen, die ein so gutes Gefühl für Literatur haben wie Megumi. Auch sonst hat sie ein gutes Gefühl: für Menschen, für Bilder, Landschaften, Eindrücke. Mit der Uni hat sie aufgehört, das ist nichts für sie, die Machtkämpfe in diesem Milieu hat sie durchschaut. Eine zerbrechliche junge Frau in der riesigen Stadt, winziges Zimmer mit Kochgelegenheit irgendwo in Shinjuku als Schlupfwinkel. Im Film von Wim Wenders sagt eine Tänzerin, Pina Bausch habe ihr einmal gesagt: “Deine Zerbrechlichkeit ist deine Stärke.” So ist das, nicht wegen unserer Zerbrechlichkeit sind wir stark, sondern durch sie. Wir dürfen nicht zerbrechen, wir Zerbrechlichen. Darin besteht unsere Aufgabe. Wenn wir das schaffen, bringen wir es zu etwas, wir bringen etwas zustande. Du wirst schon sehen… Als Vater oder Lehrer mache ich mir trotzdem Sorgen, ob sie es schafft. Dabei geht es nicht um Karriere, Position oder irgendwas, nicht um das, was Leute wie Seiji im Kopf haben, der verächtlich über Megumi, die er nie gesehen hat, sagte: “Ach, ein Literaturfan, du wirst dich doch nicht mit Literaturfans abgeben.”

Doch, werde ich. Was du “Literaturfan” nennst, ist mir hundertmal lieber als deine Literaturkritiker, die alles anblättern und nichts lesen und spekulieren wie auf der Börse. Machtmacher, ehrenwerte Herren, ihr könnt uns mal!

*

Station hopping , warum nicht? Man taucht ab, taucht auf, schnuppert Luft und Licht, ist wieder weg. Wie ein Maulwurf.

Ich habe noch ein paar Stunden, bevor ich zum Flughafen fahre. Megumi schickt mich nach Jimbocho, da gibt es zahllose Buchläden, viele Antiquariate. Aber was soll ich da, ich kann sie ja doch nicht lesen, die japanischen Bücher. Mitten in so einem Stapel ein französisches, von einem Autor, den ich nicht kenne, in einem mir unbekannten Verlag in Québéc. La différence dans la différence. Essais ur l’univers des amours masculines. Übersetzen? Die Differenz in der Differenz. Versuch über die Welt der Männerliebe. Vielleicht gibt es nur ein einziges Exemplar von diesem Buch, nur hier, an einem Ort fern von Québéc und der Männerliebe, wo für es kein Leser existiert. Außer mir, dem Phantomleser.

*

Mita. Endlich das Meer. Man spürt es schon, sieht es, riecht es. Man sieht es an der umfassenderen Helligkeit, die die zahllosen Wohntürme umgibt. Mehr Licht, mehr Luft. Land’s end, und doch kein Ende, immer noch nicht. Die Stadt geht weiter. Das Land schiebt sich hinaus. Brücken, künstliche Inseln. Becken, Kanäle statt Meer. Sehnsucht nach dem Meer haben vor allem Leute aus meerlosen Gegenden, wie Freddy Quinn.

Die Bewohner von Inseln und Halbinseln wenden sich vom Meer ab, schützen sich davor, ziehen Wälle auf, die dann manchmal doch nicht genügen, wie beim Tsunami in Tohoku. Trotzdem begebe ich mich auf die Suche nach dem Ende. Das Ende hinter dem vermeintlichen Ende. Jogger, Hundeausführer, Lagerarbeiter. Hartnäckige Pflanzen, Büsche. Autoreifen an den Flanken der Schiffe. Nicht einmal Teergeruch.

29

Wohin jetzt?

Ich gebe auf, gehe zurück – nun ja, ehrlich gesagt ist es mir ohnehin nicht so ernst mit dem Ende. Nehme den Zug zum Flughafen. Wieder ein Schwächeanfall. Auslöser kann alles und jedes sein, die kleinste Kleinigkeit. Hypersensibilität. Mikrosensibilität. Alles geht mir zu Herzen. Jetzt ist es der Wahnsinnige auf der Sitzbank mir gegenüber, ein vielleicht vierzigjähriger Mann (ohne Begleitung), der schrille Gesänge singt, zischelt, seine Fröhlichkeit auf mich losläßt, warum gerade auf mich? Er lacht in einem fort, stoßweise, dann wieder langgezogen, es ist ein eigener Rhythmus, chaotisch, aber doch ein Rhytmhus, den er mit einer Art von Bewußtsein produziert. Krähenfüße um die Augen- und Mundwinkel, Fältelungen einer scheinbar friedlichen Landschaft, der Mann jeiert, heult und schlürft, zieht Speichel ein, hüpft im Sitzen, hat ein Englisch-Vokabellernbuch auf den Schenkeln, in das er von Zeit zu Zeit einen seligen Blick wirft.

Es stärkt mich, daß ich mitschreibe, während ich ihn ansehe (wegschauen, weghören kann ich nicht), und es hilft mir, daß die Sonne durch die Lücken zwischen den Hochhäusern immer wieder für einen Sekundenbruchteil in mein Gesicht scheint. Wenn alles notiert ist und die Sonne untergegangen, werde ich etwas anderes ins Auge fassen und mich am Anblick festhalten müssen, an irgendeinem Detail: der junge Mann mit dem i-pod, das schöne rosa Hemd, das dunkelblaue Plastik-Armband mit den silbernen Perlen. Nur Gegenbilder können die beunruhigenden Bilder auf Distanz halten.

30

Ende? Kein Ende

An einer Haltestelle ist der Wahnsinnige plötzlich aufgestanden, etwas spät, aber entschlossen, wie jemand, der auch im Schlaf merkt, daß er angekommen ist. Er hat einen, dann noch einen Schritt auf mich zu gemacht, sein Knie hat meines berührt, aber zum Glück war die Tür noch offen, er ist durchgeschlüpft, jetzt geht er nach Hause.

Gibt es das: Lachwahn? Ich habe geschrieben, daß der Mann vierzig ist, aber vielleicht hat ihn das Lachen rascher altern lassen, wie Dazai der Sake alt gemacht hat. Vielleicht ist er erst siebenundzwanzig.

*

“Vielleicht könnte ich doch nach und nach ein Mensch wie die anderen werden?” Dazai hatte dieselbe Obsession wie Kafka (und einige andere Schreiber): ein normales Leben führen, heiraten, ausgeglichen sein. Sensibel sein, aufmerksam, aber nicht zu sehr. Ausflüge von der Normalität, jede Nacht, am Schreibtisch, aber eben nur Ausflüge. Der Wahrheit die Ehre geben, aber nur in dem Maß, wie sie ihnen und ihren Angehörigen nicht das Leben vergällt. Genau das, was jeder kann, eben weil es normal ist, konnten sie nicht.

|||

Leopold Federmair ( Bio – Bibliographie )

Bisher auf in|ad|ae|qu|at :

|||

 

There are no comments yet. Be the first and leave a response!

Leave a Reply

Wanting to leave an <em>phasis on your comment?

Trackback URL http://www.zintzen.org/wp-trackback.php?p=27155