JÜRGEN FUCHS : PSYCHOLOGIE DER DIKTATUR | SOPHIE SCHOLL : WIDERSTAND , EN FAMILLE
Neue Hörbücher
JÜRGEN FUCHS : PSYCHOLOGIE DER DIKTATUR
NZZ , 3. 5. 2013
czz – Er spricht langsam, bedenkt seine Antworten, platziert seine Argumente: Die Gespräche, die der Schriftsteller Jürgen Fuchs – ein eminenter Systemgegner der DDR – in den Jahren 1990 bis 1999 in den Studios von RIAS und Deutschlandfunk mit Radiojournalisten führte bestechen durch einen Zug, welcher in Duktus wie Aussage am ehesten mit dem Begriff der “Genauigkeit” zu fassen ist.
Die eben als Hörbuch erschienenen Radio-Dokumente evozieren eine (Geistes-)Gegenwart, welche den visuellen Medien mit deren augenfälligen historischen Markern verwehrt ist. Die Audiofiles bekräftigen die für Fuchs’ politisch-essayistische Publikationen ebenso wie für seine dokumentarische Literatur massgebliche Fähigkeit, hinzuhorchen, Situationen zu erfassen und analytische Befunde in erzählten Szenen kenntlich werden zu lassen.
Wenn er in einem der letzten Interviews vor seinem frühen Tod im Alter von nur 48 Jahren davon spricht, angesichts der jeweiligen Schikanen seitens der Stasi keine Wahl in Leben und Werk gehabt zu haben, mag dies makaber anmuten: der Verdacht, dass Fuchs’ Leukämie eine Folge von gezielter radioaktiver Bestrahlung seitens der Stasi gewesen war, konnte selbst durch die von Joachim Gauck lancierte wissenschaftliche Enquête weder bewiesen noch entkräftet werden.
Im Zuge seiner neunmonatigen Inhaftierung im Zentralen Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit Berlin-Hohenschönhausen 1976/77 musste der Sozialpsychologe Fuchs am eigenen Leib erfahren, wie gründlich die Stasi ihre psychologischen Hausaufgaben gemacht hatte: Die psychischen und physischen Schikanen waren – wie in den 1978 bei Rowohlt erschienenen “Vernehmungsprotokollen” dokumentiert – ebenso darauf angelegt, die verhörte Person zu “brechen” wie das giftig verklausulierte System der Stasi-Sprache .
All dies sind freilich Zusammenhänge, die in den Interviews berührt, doch oft nicht ausgeführt werden, weshalb man schmerzlich ein informatives Booklet vermisst. Gleichwohl ist dem Verlag nicht genug zu danken, mit der Ausgabe dieser denkwürdigen Dokumente die fundamentale Infamie der DDR-Diktatur in unsere vielleicht stumpf gewordene Erinnerung zu rufen. ( > page )
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Doris Liebermann (Hg.): Landschaften der Lüge. Gespräche mit Jürgen Fuchs . Mit einem Vorwort von Roland Jahn. 2 CD (149 Min.), HörbucHHamburg 2013
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SOPHIE SCHOLL : WIDERSTAND , EN FAMILLE
NZZ , 3. 5. 2013
czz – Sie gilt als Heroine des tätigen Widerstandes und als Beispiel für Zivilcourage noch im Angesicht des Todes: Im Februar waren es 70 Jahre, da Sophie Scholl und ihr älterer Bruder Hans beim Verbreiten von Flugblättern der “Weissen Rose ” an der Münchener Universität festgenommen wurden. Die Geschwister wurden von der Gestapo verhört, abgeurteilt und wenige Stunden später im Strafgefängnis München-Stadelheim mit dem Fallbeil hingerichtet. Sophie war zum diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt.
In dem O-Ton-Feature, das der als Scholl-Biograph und Brief-Herausgeber bestens ausgewiesene Hermann Vinke aus Gesprächen und Klangzeugnissen komponiert, treten prägende Kontexte hervor. So bot die liberale Familie Scholl in Ulm auch für die Freunde ihrer fünf Kinder stets ein offenes Haus. Hier wurde diskutiert, debattiert, auch wenn dabei längst nicht alle Konflikte beigelegt werden konnten. Etwa das zeitweilige Engagement von Sophie und Hans für die Hitlerjugend.
Oder Sophies ständige Auseinandersetzung mit ihrem Freund, dem um vier Jahre älteren Fritz Hartnagel : Kreist der Briefwechsel des jungen Paars in den ersten Jahren um private Fragen, rückt mit Fritz’ Einsatz an der Ostfront (bis hin zur Schlacht von Stalingrad) das Ungeheuerliche des Krieges in den Mittelpunkt der Korrespondenz. Hartnagels Appell, den sträflich vernachlässigten Frontsoldaten über das Winterhilfswerk wärmende Textilien zukommen zu lassen, prallt eiskalt an Sophie ab: Deutschland müsse, so ihr Credo, diesen Krieg verlieren, um ein neues Europa zu ermöglichen.
Wie sehr die zunächst in Sippenhaft gehaltene Familie auch nach dem jähen Verlust von Sophie und Hans weiterhin Freunde und Weggefährten willkommen hiess, mag Fritz Hartnagels Ehe mit Sophies älterer Schwester Elisabeth Scholl ebenso erweisen wie die Verbindung zwischen dem später weltberühmten Designer Otl Aicher mit der ältesten Schwester Inge .
Ganz bewusst setzt Fritz Hartnagel, der sich hier zum ersten Mal öffentlich über seine Jugendfreundin äussert, dem hehren Märtyrer-Image das Bild einer vielseitig begabten jungen Frau entgegen, die leidenschaftlich tanzte und die zeichnerisch eine eben so gute Hand offenbarte wie als Briefstellerin. Kurz: Indem Hermann Vinke familiäre und private Kontexte fern jeder Schlüsselloch-Perspektive erschliesst, erscheint Sophie Scholls widersetzlicher Wagemut nicht nur weniger abstrakt, sondern auch als Konsequenz, welche sie bewusst aus den Wahrnehmungen und Debatten ihres unmittelbaren Umfelds zog. ( > page )
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Herman Vinke: Das kurze Leben der Sophie Scholl , Feature, 1 CD (72 Min. ), Silberfisch 2013 (ab 12 Jahren)
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