Leopold Federmair : Tokyo Fragmente 6
| salon littéraire |
Heute war mein Kinotag. Zwei Filme im Eurospace, der erste um zwölf Uhr mittags, der zweite um sieben Uhr abends. Das Eurospace ist ein fünfgeschoßiger Betonbau von der Art, wie sie der Architekt Tadao Andō in die Landschaft zu stellen pflegt, die Wände auch innen unverputzt, naturgemäß aber mit Filmplakaten dekoriert. Im Erdgeschoß befindet sich eine Filmschule, darüber Vorführungsräume, ein Auditorium. Kein Zufall, daß mich mein Weg hierher geführt. Trotz allem mag ich das europäische Kino, das bis heute der industriellen Arbeitsteilung und dem Kommerz zu widerstehen versucht. Der Mittagsfilm gehört zu dieser Sorte, die meisten Szenen sind mit der Hand gefilmt, sie drücken den Blick eines Einzelnen aus, den Blick des Regisseurs, Nobuteru Uchida in diesem Fall, und seine Haltung, seine persönliche Auseinandersetzung mit dem Stoff: Erdbeben, nukleare Bedrohung, soziale Zwänge im Alltagsleben, in der Arbeit, im Kindergarten… Der Film spielt in der grauen Vorstadtzone, aber das Land, der Ort, die Geräusche, die Luft, die Wolken sind da, hier und jetzt, sie bleiben und wirken. Solche Filme lassen dich du selbst sein, sie vereinnahmen dich nicht, nehmen dich nicht gefangen wie die Megaformatfilme mit ihren brutalen Nahaufnahmen und Nahgeräuschen, der rhythmischen Raserei, der unerbittlichen Logik perfekt ausgedachten Geschichten, die dir die Tränen herauspressen. Obwohl, nichts gegen die Perfektion eines Films wie Gran Torino, made in Hollywood, der auch nichts anderes zeigt als die schwierige Nachbarschaft einiger Menschen, ihre Gemeinheiten und Tapferkeiten. Obwohl, auch in Odayaka no nichijō habe ich geweint, schon am Anfang, nicht wie sonst erst am Ende. Denn es ist ein ungeheuer trauriger Film, erschütternd wie eine griechische Tragöde, aber mit Happy End – sagen wir’s besser: mit dem nötigen Hoffnungsschimmer am Ende. Genau wie in Le Havre, dem Abendfilm heute. Wie lange haben wir geglaubt, daß wir auf die Hoffnung verzichten können!
Viertel vor zwölf, über die Sitzreihen verstreut warten Zuseher auf den Film, die meisten lesend: Bücher, Zeitschriften, Programmhefte. Leiser Gesang aus den Lautsprechern, von einer Gitarre begleitet, nur Bruchstücke verstehbar von dem, was eine männliche Stimme auf spanisch erzählt: El diablo salió bailando, glaube ich zu hören, tanzend ist der Teufel hinausgegangen. Ein Hort der Kultur, hier im verrückten, shopping- und vergnügungssüchtigen Shibuya (“we need tanoshii!”), ein Ort für alte Leute, die verschrienen Bildungsbürger, eine aussterbende Rasse? Nein, auch junge sind in der kleinen Mittagsschar, gemischtes Publikum, gerade kommt eine dicke Frau herein, läßt sich nieder, den Blick aufs Smartphone geheftet, packt ein Konbini-Sandwich aus der Plastikfolie. Con las piedritas del dios? O del día? Die Steinchen des Tages, oder Gottes?
*
In Odayaka no nichijō sieht man nicht nur die Ängste, die die mögliche atomare Verseuchung erzeugt, sondern auch die Unsicherheit der Arbeitsplätze, den Druck, den die Chefs und die anonymen Strukturen auf den einzelnen tagtäglich ausüben, die Unmenschlichkeit, die in einer Gesellschaft immer wieder auftritt, die die Gruppe rigoros über das Individuum stellt und direkte Worte vermeidet, so daß Unterstellungen und üble Nachrede blühen. Auch die Unverantwortlichkeit der Männer im familiären Bereich, ihre Abwesenheit (der Arbeitsplatz oder das Izakaya oder die Pachinkohalle braucht sie), ihre Interesselosigkeit für alles, was der Gefühlswelt zugeordnet wird. Die jungen Dummköpfe, würde Shimakura-san sagen. Die Gesichter der Schauspielerinnen und Schauspieler zeigen das alles, die Kamera nähert sich ihnen behutsam und bleibt bei ihnen, der Blick des Regisseurs (und des Zusehers) sorgt sich um sie, denn diese Figuren sind zerbrechlich. Schauspieler, die ein bißchen improvisieren, so sieht es zumindest aus, so hört es sich an; Szenen, in denen plötzlich die Kamera wackelt, die Erde bebt, dokumentarisch oder fingiert, ich weiß es nicht, bewußt an der Grenze, im Zwischenbereich. Jedenfalls erinnert dieser Film an die Art und Weise, wie Eric Rohmer seine Schauspieler agieren läßt: zwischen der Interpretation einer vorgeschriebenen Rolle und freiem Selbstausdruck. Angst haben bzw. zeigen vor allem die Frauen – nicht alle, manche unterwerfen sich dem sozialen Gefüge, seinem unhinterfragbaren Regelwerk. Möglich, daß sie zu Übertreibungen neigen, zur Dramatisierung; während die erste Reaktion der Männer, auch der sensibleren, darin besteht, die Gefahr herunterzuspielen und sich und den anderen einzureden, daß alles nicht so schlimm sei und man weitermachen könne wie bisher. Ich selbst neigte in der Zeit der Fukushima-Krise zu dieser Haltung, während meine Frau mich beschwor, ein Stellenangebot in Tōkyō keinesfalls anzunehmen: Ich solle an unsere Tochter denken… Das tat ich am Ende auch, ich dachte an sie, an uns drei.
Vorstadt im Westen von Tōkyō. Hier könnte Odayaka no nichijō spielen.
Odayaka no nichijō ist nicht parteilich, und das ist gut so. Ob die junge Mutter, die durchzusetzen versucht, daß die Kindergartenkinder nicht im Freien spielen, weil die Verseuchungsgefahr zu groß sei – ob sie recht hat oder nicht, wird hier nicht entschieden. In einer Situation, in der niemand die realen Gefahren mit Sicherheit einzuschätzen weiß und die Informationen taktisch gehandhabt werden und widersprüchlich sind, in einer solchen Situation ist der Übergang zwischen sinnvoller Angst und Paranoia, zwischen Vorsorgemaßnahmen und Panikmache fließend. Angst ist sinnvoll, wenn sie zu Handlungen führt, die sich als notwendig erweisen könnten. Das haben die Beschwichtiger im Film und im Leben nicht begriffen. Aber es stimmt auch, und der Film weiß um diese Gewißheit, daß hektisches Reagieren keine oder, wie man so sagt, kontraproduktive Wirkungen zeitigt. Das alles sagt sich leicht, es ist schwer zu leben. In jenen Tagen hatten wir das Gefühl, daß wir uns zwischen Skylla und Charybdis durchschlängeln müßten. Die gefahrbewußten Frauen im Film schaffen das nicht so richtig – wer schafft das schon? Sie nehmen bei ihren Warnversuchen Schaden an Leib und Seele. Sie schaffen es auch deshalb nicht, weil sie wenig Verständnis und Unterstützung erhalten. Sie sind die Kassandras unserer Tage, darum werden sie von der Mehrheit stigmatisiert.
Was man im Film sieht – die Dinge und die Verhältnisse, wie sie von den Bildern bestimmt werden: eine graue Vorstadtgegend; ein grauer Himmel; Strommasten und Hochspannungsleitungen, die sich bis zum Horizont übers Häusermeer hinziehen; häßliche Wohnblocks, in denen die ärmeren Leute, Kleinstfamilien und Singles, nebeneinander leben, ohne sich umeinander zu kümmern; Gesichter, die die Gesichter unserer Nachbarn sein könnten (keine “Schauspielergesichter”); die starre Ordnung von Arbeitsplätzen, das starre Sitzen dort; Fahrräder auf Vorstadtstraßen; das Schweigen, wenn etwas nicht gesagt werden kann oder darf. Was hier herrscht, ist eine bleierne Zeit. Die Farbe des Films ist bleifarben.
Gotanda. Könnte Odayaka hier spielen?
Einige Szenen in Odayaka kippen ins Satirische, und eine einzige ist von vornherein nur satirisch. Ein Franzose hastet zusammen mit einem Reisekoffer und seiner japanischen Frau durch das Bild und stammelt in einem fort: “Nous sommes en danger! Nous sommes en danger!” Die Panikmache der Ausländer, der ausländischen Medien, der Botschaften in Tōkyō … Aber auch das Verhalten des Kindergartenleiters – schleimig, verlogen, stets auf oberflächliche Harmonie bedacht – ist ins Satirische gezogen. Trotz der Satire (oder durch sie?) erkenne ich in ihren Verhaltensweisen Gesten aus meiner realen Umgebung wieder.
Oder hier? (Nishiogikubo)
Und die Hoffnung? Daß gute Nachbarschaft trotzdem möglich werden könnte. Nicht nur passive, sondern aktive Sorge um den Mitmenschen. Daß Freundschaft möglich ist, nicht nur pro forma, nicht nur die von der Obrigkeit gewünschte “Freundschaft” zwischen Firmenangestellten, die sich gewöhnlich auf Floskeln und Besäufnisse beschränkt, sondern als Austausch zwischen wirklichen Menschen in ihrer Verschiedenheit. Daß es möglich sein könnte, in diesem Land wieder mit Freude Kinder in die Welt zu setzen und das Leben zu erneuern, auch wenn auf dem Planeten angeblich ein Überschuß an Menschen, jungen wie alten, herrscht. Daß Japan, das in der Geschichte am härtesten von atomarer Verseuchung betroffene Land, zur atomfreien Zone werden könnte? Nein, die zuletzt genannte Hoffnung spricht der Film in seinen Bildern nicht aus. Und die politische Wirklichkeit im Jahr 2013 gibt ihr auch keine Nahrung.
*
Geht man vom Eurospace die Maruyama-cho hinunter – zuerst ein paar Schritte hügelaufwärts, dann hinunter in Richtung Dogenzaka-dori -, kommt man an einer Menge Clubs und Veranstaltungshallen vorbei, vor denen sich am frühen Abend Grüppchen junger Leute sammeln (viele acts beginnen pünktlich um 18 Uhr 30). House-Musik höre ich aus einem der Schuppen, aber am auffälligsten sind die aufgedonnerten Mädchen, die in den Ecken hocken, plaudern, sich schminken, den Handspiegel vor der Nase. Auch Gruppen von Jungen, aber vor allem Mädchen, die Jungs verstreuen sich leichter, vielleicht haben sie auch weniger Lust, zu plaudern. An einigen dieser locations treten Boy-Groups auf, standardisierte Produkte der J-Pop-Industrie mit dem Zweck, von weiblichen Fans angehimmelt zu werden. Don’t touch! Nicht berühren, sondern anhimmeln, darum geht es. Die Gefühle an sich und in sich ausleben, um den Sachverhalt hegelianisch zu formulieren. Die Geschlechter bleiben getrennt, der Blick von Hunderten oder Tausenden auf ein paar gut frisierte Idole geheftet, die Berührung Phantasie: so soll es sein, andernfalls würde die komplizierte Kleidung verrutschen, das dicke Make-up zerrinnen. Dringt man ins Gewirr der Seitengäßchen ein, so streift man die bunkerartigen, dabei dünnwandigen Love-Hotels, die mit ein bißchen Glanz & Glitzer für den Luxus im Inneren werben. Es wird also auch Liebe gemacht, Berührung gestattet… Gegen Bezahlung? Ich weiß es nicht, aber die eine oder andere zielsicher durch die Gassen staksende Frau läßt es mich vermuten. Der Volksmund nennt die Gegend hier Love Hotels Hill. Venushügel: schöneres Wort.
Ob ich je in meinem Leben einen Karaoke-Laden betrete? Einmal war ich knapp dran, die Erinnerung ist bleibend.
Auf der Dogenzaka-dori biege ich in einen der Pachinko-Schlünde, lasse mich im Rolltreppenschlauch nach oben befördern, in jedem der sechs Stockwerke erwarten mich schon am Treppenabsatz Kunstplüsch und Gefunkel, We need tanoshii! steht auf jeder Etage an der Wand, der entspannte, weltumspannende Werbeslogan, Pachinko Slotmachines Pachinko, eins und dasselbe, wo ist der Unterschied, wieder einmal ärgere ich mich über den guten alten Roland Barthes, der in Pachinko weiß der Teufel was alles hineininterpretiert hat, die Leere des Zentrums aller Strukturen, statt der Wirklichkeit mit ihren realmenschlichen Komponenten ins Auge zu blicken. Ein Hänsel und eine Gretel laden mich ein, andere Etagen sind verwaist, der Betrieb läuft automatisch, aber nein, nein, nichts verwaist hier, der Diener lauert im Hintergrund. Was für ein Vergnügungsbunker, denke ich, aber im letzten Stock empfangen mich gewellte Thekeneinfassungen, Handläufe, blumige Automaten, Leder(imitat)sofas vor dem Fensterglas im gerankten Rahmen, wo man hinunterschauen kann auf das Gewimmel von Shibuya, das stille und spärliche Gefunkel draußen. Es ist alles eine Frage des Vergleichs. Ein kurzes Eintauchen genügt, mehr tanoshii brauche ich nicht, ich lasse mich abtransportieren in den ebenerdigen Raum, wo ein paar Automaten ausgestellt sind. Hier schreibe ich, in dieser Höhle in der Höhle, dem Rückzugsort vom Rückzugsort, der einfarbigen Blase im Bunt (sieht man von den Ausstellungsstücken ab). Ein Tisch an der Rückwand mit hohen Hockern, da sitzt schon einer und liest im Manga, das er aus einem Regal genommen hat. Zusammengestellte Tische in der Raummitte, da sitze jetzt ich und später kommt noch einer, drückt sich eine Dose Kaffee aus dem Kleinen Bruder, der hier nicht fehlen darf, und setzt sich, wendet mir die rechte Schulter zu, blickt zum Fensterrechteck und hinaus auf die Straße. Vier Pachinkoautomaten stehen an der einen Längswand, an der anderen, gegenüber, ebensoviele Schlitzmaschinen. Alles im Mangadesign, Sheriffsterne, Kulleraugen, gebauschtes Kopfhaar, chevelure (schöneres Wort), der beulenartige Knopf, auch Venushügel genannt, den die Spieler drücken, wenn sich das Glück entfesseln soll – nein, ich weiß gar nicht, wenn und wann, hab auch keine Lust, die kleinste Münze in so ein Ding zu stecken. Manga, denke ich, um mich abzulenken, jeder Japaner kann sowas zeichnen. Vielleicht, weil die Schriftkultur auf dem Zeichnen von Zeichen beruht und sich die Landesbewohner von klein auf diesem ernsten Spiel widmen. Was in der Welt vorkommt, wird typisiert, stereotypisiert – so funktioniert die Zeichen- und Zeichnungswelt.
*
Schon öfters habe ich in einem Excelsior-Café die Lutetia-Fassade in Wandgröße gesehen, die bei mir Nostalgiebilder wecken, denn im Café des historischen Pariser Lokals treffe ich hin und wieder den Dichter Michel Deguy. Hier und jetzt, vor einer dieser Fassadenkopien, mir jetzt ein österreichischer Kollege, ein selten neugieriger, aufnahmebereiter Mann, der stets davon ausgeht, daß er nichts weiß, und der weiß, daß er das, was er zu wissen glaubt, revidieren kann – dieser Kollege erzählt mir vom Maid-Café, das er besucht hat, in Akihabara, einem Viertel voller Computer-, Kamera-, TV- und was weiß ich für Geschäften. Für uns Japaner, so möchte ich einmal (ein einziges Mal) schreiben, ist Akihabara der Ort, an dem so ein Typ, ein frustrierter, wahrscheinlich vom Alltag überforderter junger Mann mit seinem Lieferwagen in die Menge gefahren ist und mehrere Menschen getötet hat – eine Amoktat, für die er keine geeignete Waffe hatte, denn in Japan ist es fast unmöglich, an Schußwaffen heranzukommen. Wären die Waffengesetze hier ähnlich wie in den USA, es käme sicher ebenso häufig zu Amokläufen wie drüben, auf der anderen Seite des Pazifiks. Bleiben wir in Akihabara: Es ist ein normales Einkaufsviertel, und die sich dort herumtreiben, sind vor allem Computer- und Technikfreaks, also eine riesige Menschenmenge.
“Solche Leute sind schüchtern”, sagt der Kollege, “sie verbringen ihre ganze Freizeit zu Hause vor dem Bildschirm. Da ist es nur logisch, daß in ihrem Einkaufsviertel solche Cafés sprießen.” Ich verstehe nicht, das muß er mir näher erklären.
Mein Kollege hat kürzlich mit einem seiner Kollegen – Japaner, Familienvater und schüchtern – ein Maid-Café in Akihabara besucht. Andere Leute gehen dort kaum hin, es sind Männer in fortgeschrittenem Alter, aber auch jüngere, die nicht zu Prostituierten gehen, sondern sich nur ein wenig verwöhnen lassen wollen. Die Kellnerinnen tragen Dienstmädchenuniformen, weiße Spitzenhäubchen, sie bedienen die Gäste ausgesucht höflich, plaudern ein wenig mit ihnen, spielen Vier in einer Reihe. O hanashi shite ageru, ich denke den Satz auf japanisch: das “geben” oder “schenken” (ageru), das man nicht übersetzen kann, ist hier vollends am Platz, es macht die Sätze freundlich und weich. Plaudern schenken, spielen schenken…
Vier in einer Reihe?
“Das kennst du nicht? Eine Bildungslücke…”
Ein Kinderspiel? Ich google die Bilder zum Wort: Ja, Kinderspiel, so sieht es aus. Im Maid-Café spielen erwachsene Frauen mit erwachsenen Männern ein Kinderspiel. Am Ende geben sie ihnen die Brust und wiegen sie in den Schlaf?
“Nein, es gibt ein paar Regeln, groß und deutlich stehen sie neben dem Eingang auf einer Tafel geschrieben.” Berühren verboten, kein Körperkontakt zwischen Mägden und Gästen (Regel Nr. 1). Nicht nach der Telephonnummer fragen (Nr. 2). Und so weiter, insgesamt zehn, wie in der Bibel. Erinnerungsphotos ok. Sperrstunde 21 Uhr. So früh? Man will keine Betrunkenen, die die Frauen belästigen könnten. Und die Schüchternen müssen sowieso nach Hause, zu ihrer Familie, ob Mama & Papa oder Frau & Kind.
“Vielleicht fünfzig”, sagt der Kollege auf meine Frage, wie viele Maid-Cafés es in Akihabara gibt.
So viele? Nicht so viel in einer so großen Stadt, und derzeit in Mode. Muß ich mir eins ansehen? Ich glaube nicht. Ich betreibe keine Feldforschung… Oder ja, eigentlich doch, nur ohne Anspruch auf Systematik, ich erforsche, was mir so unterkommt, ich lasse mich treiben. Die Absonderlichkeiten, die die Medienkonsumenten in Europa bestaunen und für “typisch” oder sonstwas halten, meide ich eher. Die Maid-Cafés gehören dazu. Ich gehe lieber ins Mermaid-Café, das ist normal, mich interessieren die Freuden und Blüten, die Schlupfwinkel und Lücken der Normalität. Wenn ihr was über Maid-Cafés wissen wollt, könnt ihr ja googeln. Wissen? Gucken. Vergafft euch nicht!
Amae? Aimer?
Trotzdem frage ich mich, ob es in Japan überhaupt jemals Dienstmädchen gegeben hat, historisch, meine ich. Als sich das Land öffnete, zu Beginn der Meiji-Zeit, waren die süßen Mädels in Europa gang und gäbe, in Japan ahmte man damals das viktorianische England und Deutschland nach, einschließlich der herrschenden Bigotterie. Aber Dienstmädchen in solchen Uniformen? Hauspersonal ist heutzutage in Japan selten, Schwarzarbeit kennt man nicht, es gibt kaum Immigranten. Die Maids in den Cafés sind späte Ausgeburten europäisierender Phantasie.
Und Ausdruck des verbreiteten Harmoniebedürfnisses, das der Bigotterie und dem amae Vorschub leistet. Amaeko: “verwöhntes Kind”. Ein ganzes Land ist verzogen! Versteh das ruhig im doppelten Wortsinn…
*
to be continued
|||
Leopold Federmair @ in|ad|ae|qu|at zu Japan , dessen Kunst und Kultur :
J-Sounds 日本 ( programmatisch )
- Eine Reise nach Matsuyama | J-Sounds 日本 | salon littéraire |
- Der Schatten über Yukikos Auge ( Junichiro Tanizaki : Sasameyuki ) | J-Sounds 日本 | espace d’essays |
- Die Traumbrücke | J-Sounds 日本 | salon littéraire |
- Ōgai Mori, Arzt, Soldat und Schriftsteller | J-Sounds 日本 | espace d’essays |
- Tokyo Fragmente 1 | J-Sounds 日本 | salon littéraire |
- Tokyo Fragmente 2 | J-Sounds 日本 | salon littéraire |
- Tokyo Fragmente 3 | J-Sounds 日本 | salon littéraire |
- Tokyo Fragmente 4 | J-Sounds 日本 | salon littéraire |
- Tokyo Fragmente 5 | J-Sounds 日本 | salon littéraire |
|||
Längst ist diese Reihe eine epische Anti-”Lost-in-translation”-Erzählung geworden. Erstaunlich, wie dabei in den besten Momenten das scheinbar so Fremde, das “Japanische” sozusagen, vollkommen real und logisch erscheint freilich auch nur für einen Moment, aber wer kann das schon von sich behaupten, zu schaffen?).
Der Autor stimmt Ihrer Kategorie der “anti-Lost-in-translation”- Literatur mit Freuden zu . ( Auch wenn er’s selbst nicht in der Kommentarzonee parkieren möchte . )
In einem meiner Texte hatte ich mich ein wenig über “Lost in Translation” ausgelassen. In der Tat, dieser Film ist ein einziger Hohn auf alle Verstehensversuche. Und die Tokyo Fragmente sind für mich ein einziger, vielfältiger, unermüdlicher Versuch, zu verstehen. Getragen von der Überzeugung, daß wir verstehen KÖNNEN. Aber auch von der Erfahrung, daß dies einer Anstrengung bedarf. Und von der zweiten Erfahrung, daß die Anstrengung letztlich einen Lustgewinn bringt.