||| TOLSTOIS “ANNA KARENINA” : KEIN WEG INS FREIE | PETER WEISS “ABSCHIED VON DEN ELTERN” | INNENWELT DER AUSSENWELT : PETER HANDKE UND SIEGFRIED UNSELD
TOLSTOIS “ANNA KARENINA” : KEIN WEG INS FREIE
czz – Wie Gustave Flauberts Emma Bovary und Theodor Fontanes Effi Briest zählt Anna Karenina zu den grossen ordnungswidrigen Liebenden des 19. Jahrhunderts. Wo – wohlgemerkt: die Frau – eine Objektwahl ausserhalb des sakrosankten Ehebetts vollzieht, führt dies mittelbar in einen viel zu frühen, jähen und drastischen Tod. Gemäss der herrschenden Doppelmoral gilt bei Herren als Zeichen eines potenten “élan vital”, was bei der Dame als Unreinheit und sittliche Devianz gebrandmarkt wird.
Der frühe Tod durch eigene Hand konnte von Zeitgenossen als Sühne interpretiert werden oder als finales Aufbegehren einer Frau gegen unentrinnbare Bindungsfallen. Wie auf Millimeterpapier zeichnet Leo Tolstoi die Fieberkurve der Liaison zwischen Anna und Wronski: von der klandestinen Liaison zur offen gelebten Verbindung und einem schier endlosen Hin und Her mit dem schmallippigen Bürokraten Karenin im Hinblick auf eine Scheidung.
So bleibt die Liebe unruhig und unbehaust, da ihr Begehren ständig das Sosein übersteigt. In atemberaubender Dynamik zeigt der Roman, wie das Leben im gesellschaftlichen Vakuum das Paar in eine fatale Ausschliesslichkeit drängt.
Ulrich Noethen, der dieses breit angelegte – in der schlackenlosen Übertragung Rosemarie Tietzes erschreckend jetzige – Gesellschaftstheater souverän in verschiedensten Stimmregistern gibt, legt mit seiner Lesung des integralen Romans eine kolossale Sololeistung vor. Das Melodramatische und Tragische, das Kritische und Analytische sind bei diesem Sprecher ebenso sicher aufgehoben wie so manche satirische Spitze, die ganz im Sinne Tolstois erklingt.
- Leo Tolstoi: Anna Karenina, Lesung mit Ulrich Noethen, 29 CD + 1 mp3-CD (ca. 2160 Min.), NDR | Der Audio Verlag 2013 ( page )
- Tolstoi als Romancier und Diarist ( 2010 )
ED NZZ , 4. 10. 2013
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PETER WEISS “ABSCHIED VON DEN ELTERN”
czz – Zehn lange Jahre lag das Projekt einer autobiografischen Erzählung auf der Werkbank, bis schliesslich die kurz aufeinander folgenden Todesfälle der Eltern Anlass gaben, das Vorhaben zu Ende zu bringen. Der titelgebende “Abschied“ wird dadurch doppeldeutig: Scheint sich der Begriff zunächst auf den Moment zu beziehen, da der junge Mann das elterliche Haus verlässt “auf der Suche nach einem eigenen Leben”, sind es gleichzeitig die Eltern, deren Ableben einen unwiderruflichen Abschied darstellt.
Wenn der Erzähler die verschiedenen Phasen kindlicher, pubertärer, jugendlicher Isolation rekapituliert, liegt der Fokus auf der Innenperspektive persönlicher und künstlerischer Entwicklung bzw. auf deren phasenweise morastiger Stagnation. Karl Bruckmaier, der 2007 eine grossartige Radio- Inszenierung von Weiss’ “Ästhetik des Widerstands” vorgelegt hat, zieht als Sprecher für den “Abschied” erneut die jugendliche Stimme Robert Stadlobers (Jahrgang 1982) heran.
Äusserst erhellend stellt das Booklet die acht Collagen vor, die Peter Weiss im Stile Max Ernsts zur Erzählung gestaltet hat und die figurenreich das Labile gegen das Stabile setzen. Es waren nicht zuletzt diese Collagen, welche die deutsche Kultband “The Notwist” als Grundlage für einen gefinkelten Soundtrack heranzogen hat. Zwischen seriellen Themen und abstrakten elektronischen Sounds sind die instrumentalen Kompositionen dazu angetan, die dicht gefügte Sprachtextur ein wenig zu Atem kommen zu lassen: Ein Hörbuch als Gesamtkunstwerk.
- Peter Weiss : Abschied von den Eltern, Lesung Robert Stadlober, Regie Karl Bruckmaier, Musik The Notwist, 6 CD (ca. 290 Min), BR | Der Hörverlag 2013 ( page )
- Peter Weiss’ Rhythmus des Widerstandes ( 2007 )
- Peter Weiss : Die Ermittlung ( 2007 )
ED NZZ , 4. 10. 2013
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INNENWELT DER AUSSENWELT : PETER HANDKE UND SIEGFRIED UNSELD
czz – Konsequenz, Sorgfalt und geistesgegenwärtige Inszenierung: Die Korrespondenzen, welche der Berliner speak low-Verlag seit Jahren einspielt und ediert, setzen unüberhörbar neue Standards für die akustische Aufführung von Briefwechseln. Seien es die Briefe zwischen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, Ingeborg Bachmann und Paul Celan oder Thomas Bernhard und Siegfried Unseld: Schwierige Verhältnisse sind es allemal, welche sich in diesen brieflichen Zwiesprachen formulieren.
Die diskret aufgefalteten Auseinandersetzungen ziehen umso mehr in ihren Bann, als wichtige Kontexte von Kennern erläutert werden. Bei der jüngsten Edition – Peter Handke in Korrespondenz mit seinem Verleger Siegfried Unseld – ist es Raimund Fellinger, der als Cheflektor des Suhrkamp-Verlags mancherlei Hintergründiges erhellt. Der Terror, den etwa Thomas Bernhard seinem Verleger gegenüber zuweilen an den Tag legte, blieb zwar dem Gebaren Peter Handkes gänzlich fern. Gleichwohl registriert der Feinfühlige im Laufe des 37 Jahre umfassenden Austauschs manche Kränkung, seien dies nun Druckfehler oder missliebige Klappentexte.
Jens Harzer als Peter Handke kann sich ansatzweise ziemlich giftig gerieren, während Ulrich Noethen den knapp 18 Jahre älteren Siegfried Unseld zwischen zuvorkommend-sonorem Wohlwollen und energischer Resolutheit tariert. Wo hier auf Seiten von Autor und Verleger beider literarisches Lebenswerk im Zentrum steht, kommen und gehen in kurzen privaten Notizen Frauen, werden Kinder geboren, stehen Ortswechsel an: Spuren einer Zivilexistenz, die angesichts des Rauschens und im Rausch der Texte verblasst.
- Peter Handke / Siegfried Unseld: Der Briefwechsel, 4 CD ( ca. 300 Min.), speak low 2013 (page)
ED NZZ , 4. 10. 2013
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