||| ALDOUS HUXLEY , THEORIE UND PRAXIS | FINN- OLE HEINRICH . FREUNDSCHAFT AUF GEWÄHR
| echt welt texte |
ED NZZ , 3. 1. 2014
ALDOUS HUXLEY , THEORIE UND PRAXIS
Wir befinden uns im Jahr 632 Anno Ford – jener Zeitrechung, die mit der Lancierung von Henry Fords am Fliessband gefertigten “Modell T” 1908 beginnt und dem Jahr 2540 des Gregorianischen Kalenders entspricht. Es herrscht eine Weltregierung, deren Politik keine Vergnügung ohne wirtschaftsrelevantem Konsum gewährt, es sei denn promisken Sex und die Allrounddroge Soma.
Spezielles Augenmerk gilt allerdings der Reproduktion, indem Zeugung und Aufzucht neuen Lebens nicht mehr den Laien überlassen bleiben, sondern staatlicherseits übernommen und je nach Bedarf an Fach- und Arbeitskräften geregelt werden. Indem uns Aldous Huxley in seinem 1932 erstmals erschienenen Roman “Schöne Neue Welt” gleich zu Beginn einer Führung durch das “City Brüter- und Konditionierungsscenter” beigesellt, erfahren wir in wenigen Kapiteln von der Bevölkerungspolitik des Weltstaats.
Wo die künftigen Bürger entlang riesiger Fertilisationsstrassen in Gebärmutterflaschen gezeugt und mittels Temperaturwahl in ihrer Entwicklung gefördert werden (Kasten Alpha und Beta), sind die für niederen Dienste vorgesehenen Kasten Gamma, Delta und Epsilon eingeschlechtlich und in beliebiger Anzahl ident herstellbar.
Huxley – selbst aus einer Biologenfamilie stammend – zeichnet mit synkretistischer Verve das System einer nach eugenischen Prämissen organisierten und konditionierten Gesellschaft. Als aus einem Reservat eine Mutter mit ihrem “natürlich” gezeugten und geborenen Sohn in die “Zivilisation” eingeflogen wird, erhebt sich ein hysterisches Spektakel, welches erst mit dem Tod dieser “Wilden” zur Ruhe kommt. Was für viele Science-Fiction-Werke gilt, trifft ist auch auf Huxleys “Roman der Zukunft” zu: Die Darlegung von Konstrukt und System, auf welcher die Neuen Welten beruhen, sind oft packender als die daran entlangmodellierten Handlungsbögen. Indem Matthias Brandts Lesung der Neuübersetzung auch den komischen Momenten des anspielungsreichen Romans Raum und Stimme gibt, wirkt er nach Kräften einer zu einseitigen Lektüre entgegen.
- Aldous Huxley: Schöne Neue Welt. Ein Roman der Zukunft, Deutsch von Uda Strätling, gelesen von Matthias Brandt, 6 CD (482 Min.), Der Hörverlag 2013
- In der Kategorie “Das besondere Hörbuch / Beste Science-Fiction” wurde “Schöne Neue Welt” mit einem der Deutschen Hörbuchpreise 2014 ausgezeichnet
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ED NZZ , 3. 1. 2014
FINN- OLE HEINRICH . FREUNDSCHAFT AUF GEWÄHR
Seit langem sind sie Freunde – mit ihren 18 Jahren fast schon ein halbes Leben lang. In der Tat aber leben Janik und Samuel wie Brüder, da Janiks liberale Eltern Samuel, der aus weniger bequemen Verhältnissen stammt, eingeladen haben, Tisch und Zimmer mit Janik zu teilen. Janik, der als Chronist einer im Lauf der Erzählung immer prekärer werdenden Freundschaft auftritt, sieht schon mit Wehmut auf die Phasen der Unzertrennlichkeit zurück.
Womit die – wie die Eltern sagen – “asozialen” Umstände der Herkunft Samuels in den Blick geraten. Mutter Irene, Alleinerzieherin, ist bei den “Pennern” gelandet und trinkt mit Ihresgleichen Wein aus dem Tetrapack vor dem Supermarkt. Seit sie ihrem Sohn gegenüber einmal andeutete, sein Vater sei Türke, überkompensiert der Junge auch hier, lernt Türkisch und bewegt Janik dazu, nach dem Abitur das Glück in Istanbul zu suchen, mit einem kleinen Imbisslokal ein Auskommen zu finden und – so Samuels Plan – dabei gleichzeitig die Witterung des verschollenen Vaters aufzunehmen.
Dem bisherigen Koordinatensystem entrissen, erweist sich, wie sehr die Freundschaft auf Messers Schneide steht: Unmerklich hat sich die Kohäsion dieser Beziehung gelockert. Finn-Ole Heinrich (Jahrgang 1982) erzählt diese 2007 als Buch erschienene Geschichte nicht ohne Anklänge an das Verhältnis Tom Sawyers und Huckleberry Finns.
Gleichzeitig – und dies zeichnet das Hörbuch vor der Druckfassung aus – kommt in der auditiven Version Heinrichs hochmusikalische Sprache zur Geltung, allenfalls unterstützt von den Celesta-artigen Akkorden des Bandkollegen vom Oldenburger “Unsortierten Orchester“, Jannis Wichmann. Eine kluge, diskrete und poetische Reflexion über die Freundschaft, Momente der Nähe und die Drift der Entfremdung: Wunderbar.
- Finn-Ole Heinrich: Räuberhände. Autorenlesung, 1 mp3- CD (325 Min.), mairisch-Verlag 2013
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