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Salon Littéraire | Gundi Feyrer :
DIE WOLLDECKE | “WUT” ( Auszug )
Die Gräser zerrissen die Haut der Finger des Kindes wie Papier. Wütende Lust zu Hagebutten ausgetreten: Krachen, Platzen und Zerstörung. Liegen die zu Fetzen geplatzten Hagebuttenblüten auf der Straße, tritt ein Kind darauf herum, damit es noch und noch mehr krache. Aber nur manchmal, manchmal, nur wenige Male hatte es wirklich gekracht: das Krachen, das das Kind hat hören wollen. Weil, ist ja alles gelogen, lügen die Kinder und lügen die Alten, aber fast ganz selten, ach nein, nie und gar nie hat es wirklich gekracht, wenn ich auf eine Hagebutte getreten bin, sagt das Kind wütend und tritt die ganze Straße zu seiner ganzen Wut aus. Oder hatte es doch einmal gekracht? fragt sich das Kind und steht einen Moment lang still.
Alles Lüge! “Blaue Augen sind ehrlich, grüne sind treu und schwarze lügen”, ruft ein anderes Kind, reißen die Hagebuttensträucher an den Haaren eines anderen Kindes, während ausgerissene Haare das Segel des Windes flattern lassen. Im Reich der reichen Weite der Hagebuttensträucher, vorbei und weit entfernt von den niedrigen Häusern, gegenüber der Wirtschaft. Gibt sich ein Kind dem Reißen von Hagebuttensträuchern hin, gibt ein Kind sein Haar
den Hagebuttensträuchern hin, damit sie an ihm reißen und alles flattert. Hin, hin, bist auch du dumm, sagt ein Kind, reiße ich dich weg und aus den Hagebuttensträuchern, reißt dir die Hagebutte alle Haare vom Kopf! “Ja! Blaue Augen: dumm, schwarze Augen: klug!”
Wirft ein Kind die Luft in die Luft und von einer Seite auf die andere, wippen Gewichte und Schwung ein anderes Kind über einen Balken hinweg, sodaß es fliegt, sodaß die Wippe kracht, sodaß es – auf den Boden – klatscht. Steht der biertrinkende Whiskytrinker an der Böschung, weht sein Mantel ein großes und helles Lachen einem Kind entgegen. Wirft der Wind ihm Hagebutten ins Gesicht, hängen Haare in den Sträuchern, wischt sich der Whiskytrinker den Mantel damit ab, um dann in die Mitte des Strauchs zu zielen. Fährt er dahin, auf einer Fontäne aus gelbem Wasser, die die Höhe der Luft mit ihrem Segel aus Kinderhaar anspritzt. Beugt sich ein Rücken mit einem Schrei und der Sanftheit eines Fingers um einen Baumstamm. Haar aus Geschrei und Gebrüll umrundet Kälte, die sich langsam auf rote Hände setzt.
“Ach der Gustav! Steht und stöhnt, hinkt und keucht! Was?” der Whiskytrinker prostet ihm zu: “Du wärst genauso wie die hier, hättest du keinen Buckel, stimmts?” Und wirft sich über den Tisch, und wirft ein Glas um. “Paß’ doch auf, Idiot!” Der Kopf des Dünnen fällt auf den Tisch und der Kopf des Kindes hüpft einen steinernen Flur entlang: auf und ab, zählt das Kind die Steine im Fußboden. Grüne Kacheln. Ein gehüpftes Bein und dann ein
zweites Bein und dann ein drittes Bein. “Wie?” Die Schürze klemmt den Bauch der alten und häßlichen Wirtin ab wie der Schweinedarm die Wurst, übergossen mit bunten Blümchen. Sie beugt sich über die Tiefkühltruhe im Laden, vorne: “Geld?” Sie schreit laut und nach hinten, zur Wirtstube hin: “Die sind doch immer alle besoffen, wo die bloß das Geld herhaben?” “Hauptsache, er zahlt” schallt es zu ihr zurück und Gustav streckt die Hand aus, öffnet sie mit schwerem Atem und zerknülltes, dampfendes Papier fällt auf den Boden. “Bück dich Gustav,”‘ sagt einer am Tisch, richtet den Oberkörper auf und lacht in die Gesichter der anderen, ohne auch nur irgendetwas zu sehen: “Komm’ schon, bück dich Gustav, heb’ es auf, komm’, komm’, putt, putt, puuut.”
Gustav versucht, sich zu bücken, aber wegen des großen Buckels schafft er nur ein paar Zentimeter. Er gibt es auf und geht hinaus. Der Mann am Tisch nimmt einen großen Schluck, spuckt eine Menge Schaum auf die Fußbodenkacheln, hebt das Geld auf und folgt Gustav nach vorne: “Wir brauchen mehr Bier” ruft er der Wirtin zu, wirft Gustavs Geld auf einen Tisch und geht wieder nach hinten. Die Wirtin packt zehn oder fünfzehn große Bierflaschen in Gustavs Plastiktasche, hängt sie ihm über den Arm und schiebt ihn hinaus, indem sie ihm die Tür öffnet.
“Ich ist der Himmel und ist mein Kopf” singt das Kind und versucht, sich die Finger an den Hagebuttensträuchern blutig zu reißen. Oben, an den niedrigen Häusern, gegenüber der Kneipe und an der Hagebutte vorbei, geht Susanne. Die rechte Hälfte des Gesichts ist von tiefem Rot, auch der Hals: “Als sie ein Kind war, hat jemand kochendes Wasser verschüttet und da kam das Kind darunter, das, das die Susanne war”, sagt jemand. Und jetzt ist sie Nur-Susanne, sagt das Kind, bleibt neben der Hagebutte stehen und schaut nach oben. Ist das Kind ein ,Guck’ in die Luft’, weil es den roten Hals der Nur-Susanne von unten aus betrachtet und dabei den Kopf schieflegt. Sehr merkwürdig, sagt das Kind. Fließen mit dem roten Hals des Kindes Susanne die Wolken im roten Gesicht der Nur-Susanne zusammen. Dämmerung, ja: Abenddämmerung, weil es auch Morgendämmerung gibt. Dämmert der Abend im Tag herum und herbei, und zum Abend hin. Bis es Nur-Abend ist. Oder: es dämmert der Morgen in der Nacht herum, immer mehr herbei und zum Nur-Morgen hin, dämmert der Morgen herbei, in seinen eigenen Nur-Morgen. Tragen die roten Wolken der ja, Abenddämmerung das Kind nach vorn, zur großen Turnhalle, in der die Lust und die Wut weiter und höher das Kind durch die Luft fliegen lassen und auch vorbei am roten Gesicht und Hals der Susanne, die es beide noch schneller weitertragen. In den Abend hinein. Das Kind. Am hellen Whiskytrinker vorbei. Der steht im sich nähernden Abend, in der Dämmerung, in der Straße und fuchtelt mit den Armen in der Luft herum, damit der Nur-Abend schneller und heller herbeikomme und dann weiterfliege. In die Nacht hinein. Gleich neben dem Frisiersalon der Frau Müller, der gar kein richtiger Frisiersalon ist, sondern nur ein Zimmer ihrer Wohnung. Ein Nur-Wohnungszimmer-Frisiersalon. Da sitzt das Kind in der Wohnung der Frau Müller, weil die ihren Mann verloren hat, hat sie extra ein Zimmer ihrer Wohnung zum Frisiersalon gemacht. Weil, jetzt braucht sie ja auch ein Zimmer weniger, weil sie ja ihren Mann irgendwo verloren hat. Der Tod hat ihren Mann mitgenommen und dafür sitzt das Kind jetzt im Frisiersalon, der das Zimmer ihrer Wohnung ist, im sich nähernden Abend, weil sie tagsüber in einem richtigen Frisiersalon, der keine Wohnung ist, arbeitet. So hält sich die arme Frau über Wasser, so schwimmt die Frau Müller die ganzen Tage und Nächte entlang, als seien sie ein großes Meer und da muß man doch helfen, damit sie weiterschwimmen kann. Die Frau Müller. Sagt die Mutter. Da muß einer doch helfen, wenn sich der Mann schon umgebracht hat, sich in den sich nähernden Tod hineingedämmert hat und da muß man sich doch in dieses Zimmer setzen, weil die Frau Müller, die KANN ja frisieren. Sogar eine Friseurhaube hat sie. Die surrt und macht warme Geräusche. Kommen über das Kind warme Geräusche, nein, das Kind kommt nicht unter die Haube, außerdem ist Sommer und Locken hat sie mehr als genug. Nein, das Kind braucht keine Locken, sind doch Locken drin, viel zuviele Locken. Abschneiden. Die Locken und die Haare abschneiden. Stinkt ein sich nähernder Zorn aus dem Turnsaal herüber, getarnt als Gesundheit, stinken die Turnmatten, stinken die grünen Matten der Berge aus Gummi: blau und irgendwie Gelb ist darin. Dumpfes Stampfen der Halle, die zum Herumturnen dient. Das Kind dient mit, springt durch die Luft, mit abgeschnitten Kopf, nein Haar. Wie ein Junge sieht es aus und ist gar keiner, sagt jemand.
“Scheißbier! ” Schreit der biertrinkende Whiskytrinker im Sommer aus dem Fenster der Kneipe heraus, als das Kind vorübergeht, mit blauen Turnschuhen auf dem Rücken, zusammengebunden. Er steht auf und umarmt einige der Männer am Tisch.
“Ist ja gut” ruft ein anderer heraus, aus dem Fenster, das Kind dreht sich um und tanzt mit schlenkernden Schuhen einen Kreis.
“Die Nacht kommt”, ruft die Mutter von weitem und das Kind beginnt zu laufen, während der biertrinkende Whiskytrinker aus dem Fenster, in die Straße ruft:
“Gut?”
“Gut!” ruft das Kind, läuft immer schneller und: die Nacht kommt wirklich. Sie senkt sich langsam herab, ganz weich legt sich ein Mantel aus schwarzer Wolle um das Kind herum, sodaß es zu laufen aufhört und stehenbleibt. Von irgendwoher hört es eine Stimme, die ihm zuflüstert:
“Wir fuhren über die Berge. Sie waren hoch, der Himmel war aus schrillem Blau, sodaß mir die Ohren wehtaten. Unten lag das Meer, wild, krachend und brausend. Die Wege des Windes wurden eingefangen, von den Windmaschinen, die höher waren als ein hohes Haus. Oben drehten sich weiße Segel, die die Wege des Windes zu Kreisen verrenkten. Weiß, die Wege des Windes, weiß, unten, das Meer mit seiner Gischt. Mittendrin fuhren wir und über die Berge, die noch höher waren als die Windmaschinen und ganz hohe Häuser und kein Baum stand darauf. Fuhren wir dazwischen herum, sprangen wir auf der Gischt und den Kurven, die die Wellen machten, herum. Unten. Und oben. Und dann immer noch höher hinauf. Und immer noch höher die Arme der Windmaschinen und immer noch höher die Wellen, unten. Brach eine Welle unten, über deinem Kopf oben. Zusammen. Bist du ganz durchnäßt und stehst im Wirbel der Schläge der Wellen. Zieht das Glück aus, heraus, zieht dann dich das Glück aus, glänzte deine Haut, als klebe sie an deinem Körper wie das Glück und kalt, wie das Glück, wurde dir die Haut abgezogen und fortgetrocknet: am Leuchtturm, der wie die Straßenlaternen schimmerte, vorbei und immer geradeaus. Auch vorbei an den Palmen, die es plötzlich dort gibt. Die stehen in einer hellen Mitte aus Sand und Grün. Weite Landschaft, so schwarz und weich wie der Mantel der Nacht, der dich jetzt wärmt. Ganz weit und ohne Ende. Von oben gesehen, aber wie ein Loch”.
“Kommst du endlich, oder muß ich dich holen?” ruft die Mutter, übertönt eine Stimme aus Finsternis die kalte Nacht, die ein wärmender Mantel ist, schiebt Gustav leise eine Palme mit Wind vorbei und schiebt er leise einen Tag mit Finsternis an dem Kind vorbei. Die Straßenlaternen beginnen zu leuchten, blau und blau fällt ihr Licht auf die Zähne von Gustav, der den Mund zu einem Lächeln ein wenig geöffnet hat. Und das blaue Licht verfärbt sich langsam und immer mehr und, zusammen mit den Zähnen von Gustav, wird es immer weißer und immer härter und immer noch heller, färbt es sich in einen weißen und hellen und weitentfernten Tag hinein, begleitet von schwerem Gewicht: “Guuud Naaachd”. Und von einer Palme, die den weißen Rand des Meeres blitzen läßt, auf Gustavs immer weißer werdenden Zähnen: die blitzen. Das Rauschen einer jetzt auch ganz weißen Gischt, die blitzen das Klingeln zehn oder fünfzehn leerer Bierflaschen, das die Nacht mit dem Meer und einem weitentfernten Tag vermischt. Dreht sich Gustav mühsam und noch einmal um und über seinen Buckel hinweg, zeigt er mit einem Finger auf das Haus, aus dem die Stimme kommt, tippt er sich an die Seemannskappe und schlenkert ein Bein nach vorn, in die Nacht hinein.
“Die wird es schwer haben, mit dem roten Gesicht einen Mann zu finden”, “der Hals ist auch verbrannt, und …” sagen mehrere Männer am Tisch in der Wirtschaft und die alte Wirtin lacht häßlich. “Ach was, die Hübschen sind schnell verbraucht und dann werden sie dick und bösartig und bei der weiß man gleich, was man hat.” Sagt ein anderer. “Und außerdem: mir gefällt sie.” – “Nein, im Gegenteil, die wird einen guten Kerl kriegen, weil der, der sie nimmt, der nimmt sie nicht, weil sie hübsch ist, sondern weil er sie wirklich mag. Geld hat sie ja auch nicht.” – “Nein, aber arbeiten kann sie, ein guter Packesel ist sie und die werden sie nehmen, weil sie ein guter Packesel ist.” Sagt noch ein anderer.
Die häßliche alte Wirtin stößt Gustav aus der Tür, wischt sich die Hände an den auf ihrem Bauch verstreuten Blümchen ab, während ein Kopf wie ein Ball immer wieder vom Fußboden zur Decke hüpft. Auf und ab, kugelt ein Ball den Gang entlang. Und hinunter, fast bis zur Tür. Draußen wo die Weiden stehn. Schuh. Die Wirtschaft heißt: ,Schuh’. Guten Tag, Frau Schuh. Heute ist der Tag der Ruh’. Und immer wieder summt die Tiefkühltruhe und nicht nur im Sommer: “aber der Gustav will kein EISkaltes Bier” ruft der dünne Whiskytrinker in den Flur. “Kalt?” schreit die Wirtin in den Flur zurück. “Gib ihm doch das Bier wie immer, Herrgottnochmal!” “Halt doch die Klappe; letztes Mal kam die Alte selber und verlangte EISkaltes Bier.” “Ja, das war im August, jetzt haben wir Dezember! Außerdem ist sie längst durch die Wand gegangen!” schreit der dünne und biertrinkende Whiskytrinker in den Flur. “Letztes mal, letztes mal. Letztes mal war auch Dezember, und zwar letzte Woche, du bist ja stockblau!”
Gustav kann die Tür nicht öffnen und steht still lange Zeit vor der Tür. Er versucht auch gar nicht, sie zu öffnen, sondern er steht nur still und lang in einem Flur vor einer Tür und betrachtet die Tür, als sei sie ein Bild. Liegt ein Kopf auf dem Fußboden, fliegt ein Ball vom Fußboden auf und zur Decke, prallt ab davon, schießt ein Rechen aus Licht einem Kopf ins Gesicht: “Was willst DU denn noch hier?” sagt die alte häßliche Wirtin zu einem Kind und öffnet ihm die Tür.
Dann stürzt sich das Kind in den Schnee, mit Handschuhen, die wollene Boxhandschuhe fühlen lassen und mit Geld in den Handschuhen: mit immer wärmer werdendem Geld, das auch Münzen heißt – solange kein Schnee hineinfällt. In die Boxhandschuhe, mit denen Löcher in den Schnee geboxt werden können. Bis sie kalt werden, bis die Wolle kalt wird, bis die heiBen Münzen, die auch kaltes Geld heißen, im braunen Tunnel des zur Faust geballten und hohen Berges kaltwerden. Aber noch sind sie warm und kleben am Handinnern, die Münzen und das Geld, kalt schon, aber das Handgelenk, weil der Schnee auf der Mauer des hohen Berges geboxte Löcher hat, kalt schon, aber, weil der Schnee vom Ärmel auf das Handgelenk in den Handschuh fällt wie der Himmel auf die Straße. Der graue Himmel fällt und fällt und macht die ganze Straße und den ganzen Berg kalt. Boxt der Himmel die Hand kalt, boxt der Himmel die Straße kalt, boxt der Himmel den roten Hals der Susanne auch immer wieder ROT. Und kalt. Wie hundert Gramm Lyoner. Susanne ist verrückt wie hundert Gramm Lyoner, sagt das Kind.
“Steht doch die neben der Hagebutte einfach nur so da”, sagt einer am Tisch der Wirtsstube Schuh, einer, der einen dicken roten Schädel hat und fettiges schwarzes Haar, sagt der: “Steht die einfach nur so da, als gäbe es sonst niemanden, der sie sehen könnte, steht die da, mit weitaufgerissenem Mund, ohne auch nur irgendeinen Laut hervorzubringen, steht die da”,
hüpft das Kind im Metzgerladen: “Steht die da wie die Lyoner daliegt, einfach nur daliegt”,
sagt der mit dem roten Schädel: „zum Mitnehmen bereit, steht die lange Zeit nur so da. Ist denn das die Möglichkeit!“ sagt der mit dem roten Schädel und haut auf den Tisch. „Laß‘ die doch stehen!“ sagt der biertrinkende Whiskytrinker: „Du stehst ja auch oft nur so da“, sagt der mit dem roten Schädel: „Aber doch nicht auf der Straße, da kann man doch nicht einfach so stehenbleiben, als wenn man nichts zu tun hätte“, sagt der biertrinkende Whiskytrinker: „Die Straße ist auch zum Stehen da!“ und haut auf den Tisch, sagt der mit dem roten Schädel: „Nein, die Straße ist zum Gehen und nicht zum Stehen da!“ und haut auf den Tisch.
Steht das Kind im Metzgerladen und denkt über Susanne und das Stehen von Susanne und über das Kind Susanne mit dem kochenden Wasser nach und findet es komisch, daß es selbst keinen roten Hals hat. Wenn ich nur einen roten Hals hätte, ruft eine Stimme im Kopf des Kindes dem Kind zu und dann ruft die Stimme des Kindes, heraus und in den Metzgerladen hinein: “Hundert Gramm daliegende Lyoner zum Mitnehmen und dann noch dreihundert daliegenden gemischten Aufschnitt zum Mitnehmen normal.” Im Kopf innen spricht es weiter: “Ich willWurstverkäuferin werden. Die Wurstverkäuferin hat zwar keinen roten Hals, aber sie verkauft rote daliegende Wurst wie der rote dastehende Hals der Susanne und dann hat sie noch rote fleischige weiche Hände wie ein ganzes Sofakissen aus Lyoner. RIN, RIN, RIN, will ich werden, nicht Wurstverkäufer, sondern WurstverkäufeRIN. Weil die fleischigen und roten Hände der WurstverkäufeRIN, RIN selber eine ganze Lyoner sind. Dazu ein feiner dicker Bauch, ein bunt mit Blut bemalter Kittel, machen den Bauch der WurstverkäufeRIN, RIN, RIN noch runder und noch bunter. Und dahinter die Schneidemaschine: sie blitzt hell wie der Säbel feindlicher und bunter Kriegsherren! Fein geschnitten, ja, ganz fein geschnitten, die rote und blutige und daliegende Lyoner, FEIN, FEIN, geschnitten, mußt du sagen, sagt die Mutter: “Fein geschnitten” jubelt das Kind nach draußen, in den Metzgerladen hinein, Frau Zickler, will ich Zickler werden, nein Metzger, nein auch nicht, aber WurstverkäufeRIN, RIN!! Ja, der Metzger oder Zickler, ist ganz etwas anderes. Der weiße Kittel nicht so dreckig, schmutzig, blutig. Eher elegant, weniger Spritzer, ein helleres und fast weißes Bild ist der Herr und Krieger Metzger. Nicht sehr groß, aber ,groß’ lächelt das Lächeln des Besitzers und erhellt den ganzen Metzgerladen. Des Besitzermetzgers, der sich selber und seinen Laden und die daliegende Lyoner und das ganze viele rote Fleisch besitzt. Ja, er besitzt auch die WurstverkäufeRIN, RIN, RIN. Egal, denkt das Kind, mich wird er nicht besitzen, denn ich werde, wie ein feindlicher Kriegsherr, die Wurstschneidemaschine hell aufblitzen lassen, damit er von mir fernbleibt! Und er wird neben mir STEHEN und sich freuen, wie schnell ich die runden Würste in Scheiben schneiden kann. Mit der kriegerischen Wurstschneidemaschine! Der Herr Besitzer Metzger verkauft wie ein Metzger, Zickler, außerdem gar keine Wurst, sondern NUR das Fleisch. Rotes dickes fettes Fleisch. In ganzen Stücken, in weichen großen Stücken, rollt er es ab, beim Wieder-Hinlegen. Wie die zornigen Sprünge in der Turnhalle, die dann auf der blauen und mit etwas Gelb darin, Matte, weich auslaufen, Butter, wie Butter laufen sie in der ganzen Turnhalle aus und in die ganze Turnhalle hinein. Legt er das Fleisch wie einen Sprung vor das Kind hin, hinter das Glas, schön hingelegt. Das Schwein, das Beil, mit dem er auf die rosa Platte schlägt. Viele Ritzer, weiß, wieso tauchen da weiße Ritzer auf, wenn die Platte doch rosa ist? Außen, du dummes Kind, rosa und innen ist die Platte weiß. So, wenn er haut, sieht man dann das Weiß, das Innere. Wieso? Wieso, wieso, nicht? Wieso soll man das Weiße, das weiße Innere der rosa Platte NICHT sehen? Wozu ist sie außen rosa, wenn sie innen weiß, das heißt, man mit der Zeit immer mehr Weiß sieht, durch das Hauen, die Ritzer, warum nicht gleich weiß? Wie die Turnmatten blau und etwas Gelb ist darin und blitzt aber auch außen?
“So würde die Abnutzung nicht auffallen” sagt einer am Tisch in der Wirtsstube Schuh: “Die braucht schnell einen Mann, sonst wird sie zu schnell alt und noch ganz verrückt. Schließlich ist sie schon siebzehn, da kann man doch, muß man doch! Muß man doch verrückt werden, da, hier, in dieser Gegend”, sagt ein anderer am Tisch der Wirtsstube Schuh und nimmt einen großen Schluck. “Der Mensch muß was arbeiten, sonst wird er noch ganz verrückt”, sagt noch ein anderer am Tisch und sagt der biertrinkende Whiskytrinker: “Nur die, die mit sich nichts anfangen können, sollen arbeiten; die anderen hätten bei Gott besseres zu tun als tagtäglich die verdammten Bootszylinder einzupacken!” Er sieht aus dem Fenster und ruft: “So rede doch keinen Unsinn!” Dann bleibt sein Blick am Weiß des Schnees kleben.
“Wäre die ganze Platte weiß, würde man kaum sehen, daß die Platte schon oft gebraucht wurde, nicht?” Sagt das Kind in den weißen Schnee hinein, an der Hand der Mutter, im Vorbeigehen an der Wirtsstube Schuh, als der biertrinkende Whiskytrinker dem Kind zulächelt und ein Auge zudrückt. “Dein Unsinn bringt mich noch zur Weißglut!” sagt die Mutter, zieht das Kind an der Hand zu sich heran und schüttelt sie. “Die Glut ist rot und wann wird sie weiß?” fragt das Kind, als die Mutter seine Hand schüttelt, im Hinunterbeugen. “Wie kann Rotes WEISSglühen?” Das Kind stampft mit dem FuB auf und bohrt die Augen in das Weiß des Schnees: “Wieso heißt die rote Glut weiß?” ruft das Kind wütend und die Mutter zieht wütend das Kind hinter sich her und schüttelt den Kopf. Hier sind alle verrückt, aber ich will nicht, daß mein Kind auch verrückt wird: “Wo hier doch alle verrückt sind!” ruft die Mutter in den Himmel hinein und macht dabei ein komisches Gesicht, sodaß das Kind lacht und einen Arm in der Luft herumdreht: “Ahhh! Das Geräusch ist schön, wenn die WurstverkäufeRIN, RIN, die Lyoner FEIN schneidet! Liebe Mutter, ich will Wurst schneiden, mein Leben lang will ich Wurst FEIN feinschneiden! Ich will WurstverkäufeRIN, RIN werden!”
Sie gehen in das Haus hinein. Unten an der Tür, drinnen, liegt immer Schnee, wenn es Schnee gibt. Dann fällt er ins Haus hinein und in die Tür, wenn man hineingeht, beim Hineingehen. Beim Auf- und Zumachen. Die Stufen, die ins Haus hineinführen sind dann auch: verschneit. Ausrutschen, “rutsch’ nicht aus!” ruft die Mutter, ist da schon mal jemand ausgerutscht. “Aufpassen!” ruft die Mutter und schliddert zur Tür hinein. “Du sollst nicht schliddern”, sagt die Mutter, “nicht schliddern, sondern die Füße abputzen, beim Hereintreten. Schnee vorher abschütteln” sagt die Mutter, vom Mantel abschütteln, denkt das Kind, dazu den ganzen Mantel draußen auf der dritten Stufe, dort, wo schon einmal jemand ausgerutscht ist, den ganzen Mantel selber am eigenen Hals packen und vom Körper wegziehen und kräftig schütteln, daß es nur so staubt, schneit und rüttelt. Den ganzen Körper mit, sodaß das Kind beinahe ausrutscht. Fällt der Schnee ins Haus hinein, kommt mit, in den Hausflur, aus dem brennend roten Himmel heraus, fällt der Schnee direkt ins Haus. Draußen vor der braunen Haustür sind die Stufen, auf denen schon einmal jemand ausgerutscht ist, der drückt sich in den Flur. Damit alle auf den Resten der anderen Schneeschüttler schliddern: “Und man sich im Hausflur fast den Hals bricht!” ruft die Mutter und das Kind schüttelt sich den Schnee vom Mantel ab. “Herrgott, warum schüttelst du dir den Schnee auch erst im Flur vom Leib?” schimpft die Mutter und schliddert weiter, bis zur Wohnungstür, auf den Schneeabtreter. Da ist man in Sicherheit. Weil der Leib dann später auf der trockenen und warmen Bank sitzen wird und mit gekrümmtem Rücken Marmeladenbrot essen wird. Das zwängt sich den Rücken hinab und gar nicht vorne, in den Bauch und herunter die Speiseröhre, sondern das Marmeladenbrot bleibt im Rücken stecken und schmeckt nicht einmal. Quittenmarmelade, Ekel, von den Nachbarn, “wo sie doch so nett sind und uns die Quittenmarmelade geschenkt haben”, sagt die Mutter, sagt das Kind: “damit ich sie essen muß, sie mir im Rücken stecken bleibt?” Hilde darf auch am Tisch sitzen, weil jetzt haben die uns die Marmelade geschenkt, da muß ich sie doch einladen, das Öffnen des Marmeladenglases mit ihnen teilen und unser Brot dazugeben, nicht? Aber Hilde spuckt das Öffnen des Marmeladenglases auf den Tisch und dann verdreht sie die Augen, sodaß es röchelt. Nein, nicht ES röchelt, sondern Hilde röchelt, weil sie nicht anders kann. Da heißt atmen eben röcheln. Wie alt? Das ist doch egal, wie alt sie ist. Vielleicht so alt wie ein alter Mensch, vielleicht so alt wie ein junger Mensch, das kann niemand wissen.. Es gibt kein Alter und keine Zeit gibt es auch nicht.” Sagt der Vater. “Die hat es gut: die kennt keine Zeit und damit gibt es für sie keine. Zeit.”, sagt der Vater und macht ein komisches Gesicht und weil er nicht mit komischem Gesicht dastehen will, schaut er die Mutter an und die sagt: “Sie kann weder richtig sprechen, noch richtig atmen, noch versteht sie nichts. Spuckt die auf den Tisch! Ist denn das die Möglichkeit?” “Ich habe alle Zeit und doch keine.” sagt der Vater und: “sie riecht nicht gut.” “Da kann sie doch nichts dafür.” ” Die Eltern könnten sie doch waschen.” “Ja, was weiß ich denn?” – “Und überhaupt hat sie das ganze Brot gegessen. Ja, auf den Tisch gespuckt hat sie es, weil sie von nichts weiß.” – “Alles hat seine Zeit.” Sagt der Vater. Sagt die Mutter: ” Zum Glück auf den Holztisch”. Hat sie ein rundes Gesicht und ganz weiche Haut. Denkt das Kind und mag keine Quittenmarmelade. Und der Schaum im Gesicht, in den Augen, die das Brot nicht zählen, denkt das Kind und freundet sich mit dem Geschmack von Quittenmarmelade an.
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Aus : Gundi Feyrer : Die Wolldecke . 3 Geschichten – Wien , Passagen 2008
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AUF- UND VERZEICHNUNGEN – Tagebuch Madrid / Córdoba 2004 – 2006 ( Auszüge )
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