Mark Twains Wiener MacGuffins

echt | welt | texte

Mark Twain: The Man that corrupted Hadleyburg. In: Literatur um 1900. Zentrale Texte neu gelesen, hg, v. Cornelia Niedermeier u. Karl Wagner. Köln: Böhlau 2001, S.141-147

Die Textsammlung The Man that corrupted Hadleyburg (1900) und das Fanal des österreichischen Parlamentarismus, oder Wie dem amerikanischen Humoristen Samuel Langhorne Clemens (1835-1910) das Lachen verging.
Von Christiane Zintzen

Als hätte er darauf gebrannt, die neue Zeitschrift als Ventil für aufgestaute Ranküne zu nützen, entlädt Karl Kraus in den ersten Nummern der Fackel nicht gerade feinziselierte Häme auf Mark Twain, der im Herbst 1897 mit Gattin und Tochter in Wien Quartier genommen hatte. Über zwanzig Monate hindurch intonierten die Gesellschaftsnachrichten einen rituellen Refrain, in dessen nicht sehr originelle Melodie auch der Fackel drittes Heft Ende April 1899 einstimmte: “Ich habe”, so Kraus, “in Erfahrung gebracht, dass einige Wiener Blätter diese gefällige Randbemerkung Anwesend war u. a. Mark Twain der Bequemlichkeit halber gleich stereotypieren ließen und dass andere wieder beschlossen haben, fortan nur mehr das immerhin mögliche Fernbleiben des amerikanischen Humoristen von irgendeiner Veranstaltung zu konstatieren.”

Hätte sich die rhetorische Potenz des amerikanischen Meistererzählers zweifellos mit derjenigen des Fackel-Trägers messen können, so unterblieb – zu unserem Bedauern! – offenbar jede Replik. Wohl war es die geplante Weiterreise nach London, die Twains Aufmerksamkeit den giftigen Wiener Quisquilien entzog. Das feierliche österreichische Hochamte freilich – eine Privataudienz beim Kaiser – stand noch bevor: Angeblich auf Allerhöchsten Wunsch ließ sich der Republikaner von Seiner Majestät “warm die Hand” drücken und zu der Beteuerung hinreißen, “dass ich mich auf allen meinen Reisen nirgends so wohl gefühlt habe, wie in dem wundervollen, gemütlichen Wien”. Erst von jenseits des Ärmelkanals verlautete er, die Wienerstadt sei “das korrupteste Nest auf dem weiten Erdenrund”.

Hätte sich Twain im Frühling 1899 noch für die Wiener Diatribe interessiert, hätten ihn Kraus’ kritische Kratzversuche vermutlich weniger getroffen als die geifernde Nachhut der stramm aufrechten Reichspost, die sich wieder einmal am Thema des angeblich “jüdisch-amerikanischen Humoristen Mark Twain” festbiss. In der ‘national’ gereizten Stimmung des Lueger-Wien genügte die Usurpation des gastierenden Erfolgsschriftstellers durch liberale Kreise und Blätter, um den Amerikaner zum Judenknecht zu stempeln – sein Outing als Dreyfusard und Friedensfreund Bertha von Suttners leistete dazu ein Übriges. Das deklariert “Antisemitische Humorblatt” Kikeriki! übertrug Twains Stehsatz, er sei nach Wien gekommen, um literarische Anregungen und Stoffe zu suchen, in eine Szene im jüdischen Textil- Viertel: Das Ballett semitischer Schneider vermisst den Assoziationsraum zwischen Erzähl- und Bekleidungs-Meterware und warnt mit fiesem Grinsen vor “Pofel” jeder Art. So mag sich Wien rühmen, Mark Twains Essay Concerning the Jews inspiriert zu haben: Als Grundlage für Sigmund Freuds 1938 publizierte Note Ein Wort zum Antisemitismus sollten Text und Thema später wundersam an ihren Ursprungsort zurückkehren. Mark Twains Bemerkungen Über die Juden jedenfalls erschienen in der Prosasammlung The Man that corrupted Hadleyburg and Other Stories and Essays bei Harper’s in London und New York.

Trägt diese sonderbare Sammlung die zukunftsweisende Jahreszahl “1900″, so trägt sie diese mit Fug und zu recht: Verdanken sich doch die sehr diversen Texte mehr den Aporien der Moderne als die Werke des früheren, des “klassischen” Twain. Dass sich Phänomene der urbanen condition moderne um 1900 anders erzählen müssen als die Provinzialismen der 1860er Jahre (als Samuel Langhorne Clemens unter dem bekannten Pseudonym für Zeitschriften zu publizieren begann), entgeht Jenen, die das Spätwerk des einst so flotten Erzählers als verquält, sperrig und disparat bezeichnen. Mit Romanen wie The Adventures of Tom Sawyer, Life on the Mississippi und Adventures of Huckleberry Finn hatte sich Twain während der 1870er und 1880er Jahre einen profitablen Ruf erschrieben: Der ausdauernde Rhapsode uramerikanischer Open-Air-Szenarien gab den symmetrischen Counterpart ab zu des Zeitgenossen Henry James’ sensiblen und irritablen Interieurs.

Obgleich sich Twains Bücher erfolgreich als “Romane” verkauften, verdankt sich sein Erzählen grundsätzlich der Episode. Als in Prosa gesetzte Dia-Schauen inszenieren die akklamierten Reiseschriften wie The Innocents Abroad (1869) Serien von episodischen Kleinbildern, die sich, ohne ein substanzielles Zentrum, ins Unendliche fortsetzen ließen. Wer Twains späten Texten – etwa dem in Wien entstandenen Mysterious Stranger – den Verlust der Unschuld romensken Plauderns vorwirft, übersieht die Sollbruchstellen der meisten Twainiaden. Auch die im Mysterious Stranger und in dem Dialog What is Man? angesprochenen metaphysisch-philosophischen Unwägbarkeiten zwischen nihilistischem Determinismus, christlichem Heilsgedanken und wissenschaftlichem Fortschrittsglauben verdanken sich nicht einem etwaigen Alters- oder Fin-de-siècle-Moralismus, sondern reichen als Haarwurzeln weit in die früheren Texte hinab: Erinnert sei nur an die techno-futuristischen Vernichtungskrieg-Phantasien in dem (zu Unrecht in die Kinderbuchecke gestellten) A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court.

Dass sich Karl Kraus über den “schadhaft gewordenen” Ruhm und das “längst bankerotte” Können des Amerikaners mokierte, erzählt weniger über Twains erzählerische Fähigkeiten als über die stabile Trademark “Twain”: Die Charaktermaske des jokosen Humoristen war Propaganda und Prospekt für die finanziell attraktiven (und der Familie Clemens bitter nötigen) Lesereisen. Obwohl Twain für sich und die Seinen im fashionablen Hotel Métropole nicht weniger als sieben Zimmer mietete, war das Wiener Leben allemal wohlfeiler als der aufwendige Haushalt back home in Hartfort, Connecticut. Also fügte sich Twain mit Anstand in den Tanz, den Presse und Gesellschaft um den “berühmten Gast” veranstalteten: Bald mit Tout Vienne bekannt, spendete der kluge Selbstpromotor den Feuilletonisten und Gesellschaftskolumnisten jederzeit – hier ehrerbietige, dort launige – “Sager” zur pfleglichen Verbreitung.

War Twain an die Donau gekommen, um erzählbare Stoffe zu finden, so zeitigte das sonst so phlegmatische Wien eine plötzliche Stoffexplosion. Twain kam, hörte und schrieb. Beschrieb nichts Geringeres als die gefährlichste innenpolitische Turbulenz seit 1848: Die in der sogenannten Badeni-Krise 1897 kumulierenden österreichischen Nationalitätenkonflikte geistern durch etliche Prosastücke des späten Twain, als deren furioseste die Reportage Stirring Times in Austria und die Erzählung The Man that corrupted Hadleyburg zu empfehlen sind. Es war die “Sprachverordnung” des Ministerpräsidenten Kasimir Graf Badeni, die den Stein ins Rollen brachte mit der Anmutung, im Amtsverkehr der Länder Böhmen und Mähren fortan die tschechische Sprache der deutschen gleichzustellen. Wenn Badeni solcherart den ‘deutschen’ Beamten tschechischen Nachhilfeunterricht oktroyierte, geschah dies nicht aus föderalistischer Philanthropie, sondern im Tausch gegen tschechische Rückendeckung bei den anstehenden österreichisch-ungarischen Ausgleichsverhandlungen. Wo – wie im Wien der späten 1890er Jahre – sich alle Konflikte zu nationalen Spitzen verengten und jedes Politikum über die Klinge der “Muttersprache” zu springen hatte, blieb wenig Spielraum für vaterländischen Konsens, respektive: für parlamentarische Würde.

So ward der Tourist Twain zum Zeitzeugen. Zeuge des Skandals um das peinliche Duell zwischen Ministerpräsident Badeni und dem Deutschradikalen Wolf, welches das galoppierende Scheitern verbaler Verständigung im Parlament emblematisch verdichtete. So ward der Tourist Twain Zeuge, wie das elegante Gebäude am Ring zur Bühne für atavistische Aktionismen verkam. Es ward der Tourist Twain Zeuge der berüchtigten Zwölfstundenrede, mit welcher der Abgeordnete Lecher im Oktober 1897 das Plenum erfolgreich hinhielt. Zeuge war Twain auch der polizeilichen Räumung des Parlaments am 26. November 1897. Wahrhaftig – Stirring Times in Austria: “one’s blood gets no chance to stagnate”.

Wenn Wien Theaterstadt war, war auch das hohe Haus “a good place for theatrical effects” und Twain der rechte Wirkungsästhet, die geglückte Performance zu schätzen. Noch dem neu-österreichischen Leser von Twains englischen Übertragungen altwienerischer Verbalinjurien schlägt manch Vertrautes ans Ohr. Obgleich Twain seine akustischen Live-Eindrücke an den in der Tagespresse publizierten Berichten überprüfte, erfasse sein Sensorium fürs Mundartliche spontan die Stimmen und Stimmungen der parlamentarischen Sprechoper. Fasziniert von Lechers Marathonrede bettet er dessen monotone Solostimme in den “Orchesterklang” des kollektiven akustischen Aufruhrs ein und komponiert so eine kakanische Kakophonie: “Yells from the Left, counter-yells from the Right, explosions of yells from all sides at once, and all the air sawed and pawed and clawed and cloven by a writhing confusion of gesturing arms and hands.” Reportage, Rhetorik, poetische Persuasion, lautmalerisches Lexikon: Selten wurde akustische Barbarei so suggestiv verwortet. Dass auch das Was der Worte dem wüsten Wie wenig schuldigt bleibt, erweisen verbale Zartheiten (deren Poesie hier nicht durch Übersetzung beeinträchtigt sei): “cowardly blatherskite”, “You Jew, you!”, “contemtible cub”, “rapscallion”, “infamous louse-brat”, “shifty trickster” – © u. a. bei dem “Schönen Karl”, Bürgermeister Karl Lueger.

Absurdes Theater? Böse Farce? Mitnichten: Brüsk, ja fast Brechtisch verwirft Twain jene Theater- Metapher, die ihm die dramaturgische Zuspitzung der Ereignisse über weite Strecken der Reportage ermöglicht hatte: “What next?,” fragt sein Erzähler rhetorisch und er antwortet selbst: “But there can be no next; the play is over; the grand climax is reached; the possibilities are exhaused; ring down the curtrain.” Und siehe, das Undenkbare geschieht. Wo Sprache zum brachialen Schlachtwerkzeug wird, ist das “Theater” zu Ende, geht der Parlamentarismus bankrott. Der Einmarsch bewaffneter Miliz wird zum Fanal einer politischen Illusion: “a free parliament – profaned by an invasion of brute force!” Ein Schuft, so Twain, wer hier nicht künftige Katastrophen ahnt. Ein Schuft auch, der heute nicht an 1914, 1918, 1934, 1938 denkt.

Diese Jagdszenen parlamentarischer Niedertracht kehren wieder in der perfiden Posse The Man that corrupted Hadleyburg, wo sie als dramatische Klimax ein Dritteil des etwa 70 Seiten langen Textes beanspruchen. Abermals springt die korrumpierten Sprache hinter jeder Ecke der labyrinthischen Erzählung mit hässlicher Fratze hervor: Verkommt die Rede zur “gut”-bürgerlichen Heuchelei, schiebt sich Verdacht und Lüge zwischen Mein und Dein, wird Sprache Verführung, Verhängnis, Verbrechen. Die Intrige um eine für Gutmenschlichkeit ausgesetzte Geldprämie erweist sich als Gefangenendilemma der notorisch tugendhaften Hadleyburger Bürgerschaft und löst eine Kettenreaktion von Lug und Trug, Taktieren und Paktieren aus. Anders als in den Reisebüchern müssen sich hier nicht die Hinzukommenden, Durchreisenden der Macht der herrschenden Majoritäten und Verhältnisse beugen. Im Gegenteil: Wie in Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame ist es ein Zugereister, ein Fremder, ein alien, der mit diabolischem Vorbedacht die Zeitzünder von Neid und Verdacht in ein Kollektiv implantiert. Mag man wohlmeinend Rachegelüste des zeitweiligen Wahlwieners Twain ausschließen, mag man eventuelle Ähnlichkeiten mit Orten und Personen für rein zufällig und unbeabsichtigt halten: Der Grat zwischen Habs- und Hadleyburg dünkt um so schmäler, als Twain in Stirring Times über 19 Völker (“nineteen public opinions”) der Donaumonarchie berichtet, ehe er in The Man that corrupted Hadleyburg ausgerechnet 19 honorige Stadtbürger blamiert.

Der in Aussicht gestellte Gewinn – Reichtum, Macht und Ansehen – offenbart sich jedenfalls als veritabler MacGuffin – lange vor Hitchcock und Jacques Lacan. Das Slalom der Story, die Schiffschaukel perpetuierter Peripetie erhärten den Verdacht, dass auch die Moral von der Geschicht’ (à la Tugend gibt’s ohne Versuchung nicht) ein gewissermaßen leerer Signifikanten-Koffer sei: Twains Ausreizung der erzählerischen Mittel, sein Insistieren auf Wort-Laut und Rhythmus suggerieren vielmehr, es gehe dem Erzähler vornehmlich um ein Erzählen des Erzählens. Das Erzählen ist Motiv und Medium. Es ist plot und Protagonist zugleich. Wo, wie im österreichischen parlamentarischen Machtgeplänkel – notabene anno 1900 – kein Wortlaut mehr zum Ehrenwort gereicht, bleibt der Wahrhaftigkeit die schiere sprachliche Gestik, die Bewegung der Rede an sich.

    Die Sammlung “The Man that corrupted Hadleyburg and Other Stories and Essays” ist 1996 als kommentierter Reprintband bei der Oxford University Press erschienen. Die lesenswerte Dokumentation von Carl Dolmetsch: ‘Unser berühmter Gast’. Mark Twain in Wien” ist 1994 in der Übersetzung von Gunther Martin in der Wiener Edition Atelier erschienen.