Rezensionen 2006

Helmuth Schönauer, Afterschock.
Schwere HTML-Gedichte.
Klagenfurt: Sisyphus, 2006.



Schockweise Gedichte

Gedichte schreibt man schockweise. Der Rahmen für Schönauers Gedichte-Schock hat mit Demokratie zu tun. Von 7 bis 108 erhält jede Seite ein Gedicht, Das sind 102 Gedankenblitze, fast zwei Schock, aufs Jahr umgerechnet alle drei Tage ein Gedicht mit zwei Monaten Urlaub. Es kann aber auch sein, es ist bei Schönauer eher so, dass das ganze Buch in einigen Wintertagen aus der Druckerpatrone geronnen ist, bis sie leer war und aus. Und dann raus auf den Gedichte-Markt.

Am Markt geht es in der Regel fein zu, da schwirren meist innovativ die Gedichtlein harmonisch in der Optik verteilt
in
jeder
zeile
ein
wort
oder zwei
alles klein
Und da patzt der Helmuth Schönauer hinein. Seine Gedichte-Seiten gleichen einem Autobus, in dem beispielsweise 20 Wortpassagiere völlig uninnsbruckerisch die Plätze 1 bis 14 einnehmen, höchstens durch Schrägstriche getrennt, während der restliche Bus leer bleibt. Aus ihrer Ecke beißen die Insassen dann heraus. Meistens fährt der Bus durch Innsbruck, es kann aber auch sein, dass man sich plötzlich in Garmisch-Partenkirchen oder Vöckla wieder findet, jedenfalls wieder in der Provinz.


Immer, wenn ein Maler malt, ein Filmer filmt, ein Komponist komponiert, ein Dichter dichtet, hat er keine Ahnung, welche Eindrücke das Werk bei manchen Rezipienten zu anderen Zeiten an anderen Orten hinterlässt. Wenn ein lyrisches Ich im Sonnenschein auf der Höttinger Alm auf seinem Papier die Zweige im Wind bewegen und die Vöglein pfeifen lässt, kann es sein, dass ein Leser dieses Gedichts in seinem Winter einen Wutanfall bekommt. Und damit sind wir bei der Sprache. Im Afterschock spürt der Rezipient der Gedichte bei all ihrer Ironie wieder einmal den Wutanfall des Schreibers. Bei ihm pfeifen nicht die Vögel am Baum, sondern vögeln die Pfeifen im Altersheim. Natürlich ist Schönauers Sprache fäkal. Das ist sie ja schon lange. Und höchstens oberflächliche TT-Kritiker nennen sie Plagiat. Schönauer hat mehr Bücher und Wörter gelesen als ein gleichaltriger ÖBB-Schaffner an Fahrten und Kilometern heruntergespult hat. Er ist in seinen Live-Auftritten derart wortgewandt, dass es für ihn ein Leichtes wäre, irgendeinen Stil so zu kopieren, dass es kein TT-Kritiker merkt. Aber er will offenbar seine detaillierten Beobachtungen derart derb und immer von unten nach oben preisgeben, sodass er sein Vorhaben, selbst preisfrei zu bleiben, wahrscheinlich umsetzen wird, weil die Polit- und Intellekt-Kritisierten oben auf ihren Podesten so etwas nicht vertragen.

Dem Schreiber dieser Zeilen passiert es gerade, dass in seiner Bekanntschaft zwei alte Menschen, Verzeihung Senioren, in ein Altersheim eingeliefert werden, weil sie sich nicht mehr selbst versorgen können, zum Teil Alzheimer-, zum Teil Katheter-bedingt. Der Nicht-Alzheimer-Teil des Paares spürt in der neuen Umgebung, ohne etwas verbrochen zu haben, den Hauch von Ziegelstadel und verzweifelt. Mitten hinein in diese Empfindungen drischt Schönauer mit einigen Hammergedichten, sexual in ihrer Art. Und in diesen Empfindungen spürt man wieder die wohltuende Nähe des Autors zum Leben. Er trifft ihn wieder, den Nagel, und nicht nur diesen auf den Kopf. Sollen sie nur wieder blöd reden. „Der Schönauer hat halt wida oan außalassn“ oder so.

Ein anderes Ziel der Schönauerschen Pfeilspitzen sind die Germanisten. Sie werden nicht menschlich aufs Korn genommen, auch die Romanisten oder Anglisten wären dran, würde Schönauer auf Italienisch oder Englisch schreiben. Er kritisiert vielmehr die Humorlosigkeit und die Wichtigtuerei seines Arbeitgebers Universität. Wenn Mathematiker in der Mensa beim Essen ausschließlich über die Stetigkeit von Funktionen debattieren, so riecht das ebenso nach Sterilität und Quarantäne, wie wenn sich Linguisten nicht über Empfindungen und deren Niederschrift durch Nichtgschtudierte den Kopf zerbrechen, sondern darüber, warum ein etablierter Dichter in irgendeinem Gedicht Nerf mit „f“ schreibt, während jene Zeit, die noch übrig ist, bis wir Würmerfutter sind, unberührt bleibt. Er schreit vielmehr in seinem Buch die Ansicht hinaus, dass es auch in der Lyrik ums Leben gehen muss, und zwar um jenes, das uns mit all seinen Fäkalien nicht nur berührt, sondern zudeckt.

Otto Licha