Kurzes Asyl
von Nora Bossong

Spät kam sie an, die kleine Herde, verschreckte Zicklein
auf der schmalen Serpentine, fehlgelieferte Passanten,
niemand hatte sie bestellt. Die Gruppe grauer Rücken
rückte in den Garten ein, müßig rupften sie die Halme,
Halm um Halm, dann noch ein Halm, wir ahnten schon,
bald fräßen sie auch Hecken, Vorhänge und Aktenberge.
Bis ins Haus drang drög ihr Blöcken. Wir vergruben uns
unter den Kissen, zornig, panisch, um den Schlaf gebracht.
Am Morgen endlich rumpelte ein neuer Lieferwagen an,
sie zockelten von dannen, unsre ungebetenen Bekannten,
man würde sie nun ihrem wahren Adressaten übergeben.
Doch Wochen später überraschte uns die Meldung:
Europa verzogen. Ziegen eingestellt.


Der diskrete Charme der Ziegen
von Nora Bossong

Schräg am Hang die kahle Wiese, ausgedroschen
von den Schritten der graziöse Herdendamen.
Ihr gelber, irrer Ziegenblick fraß das Gras und
fraß die Aussicht mit. Unten floss die Elbe.

Die ganze Nacht am Futterhäuschen, dessen Schloss
geborsten war. Weich schwang Emmas Ziegenkiefer
auf und nieder, auf und nieder, eine Myriade Halme
kauten ihre Zähne. Auf dem Wasser trieben Kähne.

Noch pochte Wärme in den Tau unterm aufgeblähten
Fell. Am Morgen zielte Emmas Blick totgefressen
ins Gebüsch, schaumig schaukelten die Zweige.


Nora Bossong ©Peter-Andreas Hassiepen

©Peter-Andreas Hassiepen

Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, studierte in Berlin, Leipzig und Rom Philosophie und Komparatistik. Sie veröffentlichte die Romane Gegend (2007), Webers Protokoll (2009), Gesellschaft mit beschränkter Haftung (2012) sowie den Gedichtband Sommer vor den Mauern (2011), der mit dem Peter Huchel-Preis 2012 ausgezeichnet wurde. Soeben erschien bei Hanser ihr vierter Roman 36,9° über den italienischen Marxisten Antonia Gramsci.