Nach seiner letzten Lesung im Jahr 2010 hat sich Theatermacher und Berliner Gazette-Autor Alexander Karschnia hingesetzt und in die Tasten gehauen. Zusammen mit Henrik Kuhlmann entstand dabei ein zahlenmystischer Rückblick.
Kurz vor Jahresende, am 13.12., hat die Raumsonde Voyager unser Sonnensystem verlassen, um vielleicht doch noch das Versprechen einzulösen, dass der gefloppte Fortsetzungsfilm von Kubrick’s 2001 schon im Jahre 1984 verkündet hatte: “2010: Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen” (Peter Hyams).
Dieses Vorrücken der 1 um eine Stelle macht auch die Magie des Fotobandes von Rainald Goetz aus: 11. September 2010. Auf die allgemeine Zahlenmystik unsres Jahrtausendwendejahrzehnts wirkt dieses Datum natürlich stärker als der nächstes Jahr bevorstehende 10. Jahrestag des Attentats – ein Jahrzehnt, das mit diesem Jahr eben nicht endet. Vielmehr steht es zu befürchten, dass dessen Mystik uns bis 2012 in Atem halten wird.
Was alles nicht passiert ist
Erst wenn der 20.12.2012 ohne apokalyptische Klimax vorübergegangen sein wird, können wir diese ominösen Nuller Jahre endlich als abgeschlossen betrachten (und uns überlegen, ob wir im 21. Jahrhundert weiterhin in Jahrzehnten rechnen wollen, oder ob wir nach den ersten 12 Jahren nicht das Dezimalsystem über Bord schmeißen sollten und das Dekadensystem durch das ‘Jahresdutzend’ ersetzen sollten – auch aus historisch-politischer Prophylaxe, um eine Wiederholung des gescheiterten 20. Jahrhunderts zu verhindern).
2010 war das Sci-Fi-Jahr – in Sim City 2000 wurde ein atomarer meltdown in Silicon Valley vorhergesagt und District 9 hat uns letztes Jahr noch versprochen, dass in Südafrika keine WM stattfindet, sondern Aliens landen würden. (Außerdem sollte Lisa Simpson dieses Jahr einen Engländer heiraten!) Doch nichts von alledem.
Stattdessen versucht der Bundespräsident dem deutschen Afghanistan-Einsatz einen Sinn zu geben (Außenhandelnsinteressen = Kriegsdividende) und tritt daraufhin zurück – ebenso Roland Koch und Ole von Beust. Kaum wird der immer noch amtierende Kriegsminister vom Focus als “Mann des Jahres” auf die Titelseite gehoben, da schießt er sich öffentlichkeitswirksam selbst ab, indem er mit seiner Frau und Johannes B. Kerner den Advent im Kriegsgebiet verbringt.
Scheitern als Chance
Und seinem Cousin Florian Henckel von Donnersmarck scheint das schier Unmögliche zu gelingen, nämlich mit einem Hollywoodstreifen mit Angelina Jolie und Johnny Depp, der in Venedig spielt, zu scheitern. Fazit: Das Motto des Jahres heißt “Scheitern als Chance“!
Das war vor zwölf Jahren das Motto der Anti-Parteien-Partei Chance 2000 von Christoph Schlingensiefs, dem Toten dieses Jahres. Bleibt zu erwähnen, dass wir in einem normalen parlamentarischen Turnus erst dieses Jahr und nicht schon letztes Jahr gewählt hätten. Chance 2010: Es scheitern nicht nur Bundespräsidenten, adlige Kriegsminister und Filmregisseure, sondern ebenso BP (und mit ihnen die komplette Kultur der brennstoffbetriebenen Moderne) und auch Staaten der westlichen Hemisphäre: Griechenland, Irland, Portugal – Failed States of Europe.
So hat der Euro noch keine 10 Jahre hinter sich gebracht und steht schon zur Disposition. Doch vielleicht nehmen solche Vorgänge nur aufgrund der oben beschriebenen allgemeinen Zahlenmystik apokalyptische Dimensionen an, während man in einer nüchterneren Zeit zu simpleren Schlussfolgerungen gelangen würde, die so einfach wie radikal wären, nämlich: aufhören. Eine neue Platte auflegen. Höchste Zeit für den 21.12.2012 – dann kann das 21. Jahrhundert endlich beginnen…
4 Kommentare zu
Liegt es daran, oder ist einfach die Zeit der großen utopischen oder dystopischen Erzählungen einfach vorbei?