Vegane Anti-Alkohol-WGs, illegaler Käsekonsum, Glasmöbel: Immer unterwegs, niemals ankommen – Umziehen als Dauerzustand. Wie sich Heimatlosigkeit anfühlt, davon berichtet hier Nora Fischer.
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Vor fast einem Jahr bin ich nach Berlin gezogen. Den Umzug erledigte ich mit dem Zug, mein WG-Zimmer sollte möbliert sein und ich hatte nur meinen großen Reiserucksack und das Fahrrad zu transportieren. Mein Zimmer und eine Mitbewohnerin kannte ich bislang nur über Skype, da ich quasi direkt aus Russland nach Berlin gezogen war – und damit auch vom Status der Freiwilligendienst-im-Ausland-Leistenden zu dem der unbezahlten Praktikantin aufgestiegen war.
Es war ein sonniger Ostermontag, an dem ich am Gesundbrunnen ankam und zu meiner veganen Anti-Alkohol-WG im Prenzlauer Berg spazierte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass die Möbel des überteuerten, dunklen 9m²-Zimmers kurz vor dem Auseinanderfallen waren und ich in den nächsten Monaten vier Mal innerhalb einer Stadt umziehen würde.
Drei Tage später hatte ich einen Nebenjob gefunden, belegte von nun an zwei bis drei Mal die Woche Paninis, rührte Birchermüsli und lernte, wie man einen guten Espresso brüht und traumhaften Milchschaum in sieben verschiedenen Milcharten schäumt. Ich war beschäftigt und hatte viel Arbeit, was mir in diesem Moment aber sehr gut tat und das Loch in mir füllte, das sich nach meiner Rückkehr aus Russland in mir geöffnet hatte. Ein Loch, ein Gefühl von Heimatlosigkeit, Ungebundenheit, Freiheit, Unsicherheit. Ich war mir unsicher, ob dieses Gefühl Fluch oder Segen war.
„Die Gewissheit, an einer Wende meines Lebens, an der Wende meines Lebens zu stehen, schnürte mir das Herz ab, und ich wusste nicht recht, ob ich glücklich oder verzweifelt war.“
Die Miete stieg erneut, die Nebenkosten stiegen gleich mit, mein Zimmer war nach wie vor kalt und dunkel. Meine Möbel waren zwar eines Abends von der Hauptmieterin eingetauscht worden, allerdings drohte das neue Glasregal bei jeder vorbeifahrenden Tram auf mein Bett zu kippen und weckte mich nachts halbstündlich klappernd. Als mir bewusst wurde, dass ich vermehrt auf dem Sofa im Büro meines Praktikums wach wurde und versuchte, möglichst wenig Zeit in dem Raum zu verbringen, für den ich Miete zahlte, fasste ich den Entschluss: Es war höchste Zeit zu kündigen und Käsekonsum innerhalb meiner eigenen vier Wände wieder zu legalisieren.
Mein zweiter Umzug – diesmal mit der Straßenbahn in die Wohnung des IT-Zuständigen meines Praktikums, der mit seiner Familie für einen Monat in die Alpen verschwinden würde. Meine anfängliche Euphorie bei der WG-Suche hatte sich schnell in Frust gewandelt. Skurrile Situationen wie WG-Castings trugen ihren Teil dazu bei, Kämpfe um immer unbezahlbarer werdende, winzige Zimmer mit unsympathischen Konkurrenten und Jury-Mitgliedern. Ein Monat also nun als Zwischenlösung, wieder in einer neuen fremden Wohnung (beinahe) fremder Menschen mit Möbeln, die nicht mir gehörten und Fotos, die noch fremdere Menschen zeigten. Ich fing wieder an, Nächte durchzuschlafen und kam in lichtdurchfluteten Räumen vorerst zur Ruhe.
Der Monat ging vorüber und ich hatte für Ende Juli eine neunmonatige Zwischenmiete im Wedding ergattert – groß, hell, Dielenboden, sehr billig und gerade rechtzeitig mit der Zusage zum Studienplatz. Nur noch einige Wochen zu überbrücken, um dann für eine zunächst unvorstellbar lange Zeit abgesichert zu sein, war ein wunderbares Gefühl. Meine sieben Sachen lagerten im Büro, ich übernachtete mal hier, mal dort, war dann für einige Zeit ohnehin nicht in Berlin. Und schon war es vorbei.
Eine anstrengende Zeit schien zu Ende zu gehen. Eine Zeit ohne festen Wohnsitz, ohne das Wissen, wo ich die nächste Nacht verbringen würde, eine Zeit ohne einen Punkt, an dem ich nach Hause kam. Eine Zeit mit der Freiheit, alle meine Sachen auf dem Rücken tragen und jederzeit gehen zu können.
„Der Verlust des Ortes ist wie der Verlust eines Anderen, des letzten Anderen, des Phantoms, das einen empfängt, wenn man in seine einsame Wohnung zurückkehrt. (…) Es ist schwierig, eine Rolle zu spielen, wenn man keinen Ort mehr hat; an seinem Platz zu bleiben, wenn man ihn verloren hat; bei den Anderen zu sein, wenn man selbst ohne festen Wohnsitz, ohne Bleibe und fast namenlos ist.“
Es ist Januar. Es ist so kalt, dass die Schneeflocken sternförmig fallen. Mit einem Kommilitonen schlendere ich das Spreeufer entlang, am Pergamonmuseum vorbei, in Richtung Alex. Unter einer Brücke auf Höhe des Doms entdecken wir eine Art leerstehende Wohnung ohne Wände und Dach, drei Matratzen und Schlafsäcke, vier Stühle, einen Tisch, jede Menge Haushaltskrempel und Kleider in Einkaufswägen und Kartons. Bald bin ich wieder ganz genauso unterwegs, meine Zeit im Wedding neigt sich dem Ende zu und neues Ufer ist nicht in Sicht. Der eisige Wind schneidet mir ins Gesicht und der Gedanke an eine neue Suche nach Hause schnürt mir die Luft ab.
Wir reden über den Kältebus, der bei facebook die Runde macht und dazu aufruft, einen Kältenotruf zu wählen, wenn man Obdachlose findet. Mein Kommilitone ist letztens auch mit dem Bus gefahren, allerdings um eine Dokumentation darüber zu drehen. Mich überrascht, was er erzählt: dass niemand eingestiegen ist. Dass sie sich über Café, Tee und Suppe freuen, aber nicht im Warmen übernachten wollen. Warum? Schlechte Erfahrungen haben sie gemacht, ihre Freiheit wollen sie nicht aufgeben. Diese Freiheit hat ihren Preis. Und sie ist zugleich der Preis für die Sicherheit, vom Phantom Zuhause empfangen zu werden.
„Aber die Erde ist so klein und die globalisierte Welt so rund, dass man sich kaum vorzustellen vermag, wohin man denn fliehen sollte.“
Anm.d.Red.: Die Zitate stammen aus dem ethnofiktiven „Tagebuch eines Obdachlosen“ von Marc Augé, erschienen im C.H.Beck-Verlag 2012. Die Fotos stammen von Ichigonotsukikage und stehen unter einer Creative Commons Lizenz.
22 Kommentare zu
ps: heimtloisigkeit ist nicht gleich obdachlosigkeit. ich kann kein obdach haben, dafür aber eine heimat und umgekehrt kann ich keine heimat haben, dafür aber aber ein obdach.
für mich handelt es sich hier a) nicht um freiwillige mobilität, b) um mehr als luxusproblemchen einer einsamen facebook-gesellschaft, sondern um ein phänomen, mit dem gering-/nicht-verdienende Menschen durchaus ein echtes problem haben.
danke für den buchtipp. deinem ps kann ich nur zustimmen, du kannst aber auch keines von beiden haben.
ich halte es für nicht sehr zielführend, probleme mit vergleichen zu anderen zu relativieren. damit kann man dann auch einer vergewaltigten deutschen frau sagen, dass das in bürgerkriegen auf der tagesordnung steht und frauen in der luxus-ersten-welt ja immerhin nicht mehr gesteinigt werden. oder 25 jährigen mit burn-out erklären, dass es sich lediglich um auswirkungen einer modernen gesellschaft und pseudo-psycho-wehwehchen handelt. was bringt es, zu sagen: oh, ist doch alles halb so wild, unser leben ist so schön im vergleich zu so viel mehr leid auf der welt? ich will mich nicht damit zufrieden geben, dass es mir schlechter gehen könnte.
falls es den anschein macht, als würde mein artikel das größte problem der welt benennen und beschreiben wollen: das war nicht die absicht. es ist (wie bereits erwähnt) eine beobachtung und ein erlebnis eines problems (von vielen), über dessen gewicht man streiten kann. (und schon dieser streit ist eigentlich ein zeichen dafür, dass das thema vielleicht seine daseins-berechtigung hat.)
im französischen gesetz zum beispiel ist diese neue art von obdachlosigkeit schon angekommen, man unterscheidet zwischen "personne sans domicile fixe" (person ohne festen wohnsitz) und "personne sans domicile stable" (ohne stabilen wohnsitz).
Schöne Beitrag.
Mein Lektüre Tipp zum Thema "49 million Americans who lack health insurance - a crowded group that no one chooses to join." HIier:
http://www.huffingtonpost.com/arianna-huffington/medicaid-americans-health-care_b_2590145.html
http://www.zeit.de/gesellschaft/2013-01/leserartikel-obdachlos-frieren
in besonderem maße virulent wird aktuell das gefühl gemeinsam im boot zu sitzen mit menschen, die auf den ersten blick am anderen ende der sozialen pyramide weilen oder einfach nur klassen tiefer oder in einer anderen welt, der so genannten dritten zum beispiel.
in diesem sinne lese ich hier in diesem bericht grenzübergreifende solidarität heraus. wir brauchen das, wenn wir als (welt-) gesellschaft überleben wollen.