Die Menschen stehen vornuebergebeugt ueber die Brueckenreeling und starren in die Tiefe. Von unten nehme ich sie als schwarze Masse wahr, deren Umrisse in der gleissenden Sonne verschwimmen. Sie zeigen auf etwas, das zwischen ihnen auf der Golden Gate Bridge und mir am Ufer liegt. In den Huegeln, die sich vor mir auftuermen und ueber die sich die Bruecke wie ein Salamander hinwegwindet, kaempft ein Mensch um sein Leben. Alle 13 Tage springt eine Person von der Golden Gate Bridge in den Tod. Das sind ueber 1300 bestaetigte Selbstmorde seit der Eroeffnung der Bruecke vor 72 Jahren, die Dunkelziffer liegt wohl bei 2000.
Der Sprung aus 78 Metern in die reissende Stroemung bedeutet nahezu garantiert einen schmerzvollen Tod. Manchmal springen Menschen vom Teil der Bruecke, die ueber Land fuehrt. Dann werden sie nicht von den Wellen verschluckt, sondern ringen auf hartem Fels in aller Oeffentlichkeit mit dem Tod. Eine Barriere fuer Selbstmoerder moechten die Buerger San Franciscos nicht errichten lassen. Das mache die Bruecke haesslich und verhindere auch keine Suizide, sondern treibe die Menschen nur in die Anwendung anderer Methoden. Mehrere wissenschaftliche Studien widerlegen das. Nicht alle Selbstmorde geschehen nach langer Planung, die meisten Menschen folgen einem temporaeren suizidalen Impuls.
Fuer diese Menschen kommt die Golden Gate Bridge einer geladenen Waffe unter dem Kopfkissen gleich: bequeme Erreichbarkeit, die nur 1,20 Meter tiefe Reeling kein Hindernis. Die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung rueckt in San Francisco in den Hintergrund. Die Freiheit des Einzelnen ist in Amerika traditionell das hoechste Gut und steht selten zur Diskussion. Dies darf allerdings nicht darueber hingweg taeuschen, dass es hier auch um den Kern des menschlichen Zusammenlebens gehen muss – um die Frage, welche Art von Gemeinschaft eine Stadt sein moechte, die fuer eine ungestoerte Aussicht durchschnittlich 20 tote Mitbuerger im Jahr in Kauf nimmt.
4 Kommentare zu
@Joerg: Die Anziehungskraft der Golden Gate Bridge ist unbestritten. Sie ging auch vom Eiffelturm und dem Empire State Building aus, bis dort Barrieren errichtet wurden. Um die Selbstmorde von der Bruecke aufzuhalten, sind sie deshalb das effektivste Mittel und wuerden an der GGB vermutlich auch funktionieren. Der Magnetismus muss anders angedacht werden. Nicht zuletzt speist sich die Aura aus der oeffentlichen Glorifizierung der Springenden und die mediale Berichterstattung. Eine verhaeltnismaessig strikte mediale Ignoranz seit Mitte der Neunziger hat Wirkung gezeigt, wohl aber zu spaet. Sollte es Barrieren an der GGB geben, wird man sich der Nachbarbruecke widmen muessen: Momentan gilt es noch als "billig" von der Oakland Bay Bridge zu springen, sollte die GGB aber fuer Selbstmoerder "dicht gemacht" werden, mag sich das aendern.
Von einer "boesen" Anziehungskraft zu sprechen halte ich fuer bedenklich, da sich der Mythos der Bruecke seit Jahrzehnten aus genau jenen Zuschreibungen speist.