Einseitige Ernährung hat in Deutschland eine Tradition. Speziell im Bereich der Bildung. Unser Hunger danach ist auf das Vermächtnis von Lichtgestalten wie Schiller, Beethoven und Nietzsche fixiert. Und Naturwissenschaftler? Der Künstler, Autor und IT-Berater Manuel Bonik glaubt, dass die Errungenschaften von Mathematikern und Chemikern sträflich vernachlässigt werden. Seine eigenen Projekte zeigen wiederum, wie eine Diät, im Sinne einer ausgewogenen Ernährungs- und Lebensweise, funktionieren kann.
Meine intensivste Lernerfahrung jenseits einer Bildungsinstitution war eindeutig meine langjährige Freundschaft mit dem österreichischen Dichter und Denker Oswald Wiener, die in den späten Achtzigern begann und bis heute hält. Ich habe mich damals viel mit Adorno, Baudrillard, Godard-Filmen und dergleichen beschäftigt. Aber Wieners Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman hat mir da doch eine weitere intellektuelle Brennstufe gezündet und mein Weltbild erheblich erschüttert und verändert.
Den Sinn für bullshit schärfen
Da wurde ich ein Wiener-Fan (im Sinne von Fanatiker), und das war offensichtlich Voraussetzung, um mich jahrelang auf (erstmal etwas spröde anmutende) Themen wie Automatentheorie und Selbstbeobachtung einzulassen. (Ob ich heute irgendwas, irgendwem gegenüber noch so viel Ernst aufbringen könnte …?) Da hatte ich 1989 meinen “Guru” gefunden, einen, der freilich frei von jedem Esoterik-Verdacht ist; und umgekehrt freute sich Wiener, jemanden gefunden zu haben, mit dem er über sowas überhaupt reden konnte. Seinen Kunstfreunden galten Computer tendenziell als kunstfeindlich.
Ein Nebeneffekt war, dass mir der Sinn für bullshit geschärft wurde; da war ich dann für Poststrukturalismus und Suhrkamp-Kultur verloren … Produktiver Höhepunkt dieser Freundschaft war bislang unser Buch Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen; da war der dritte Autor, Robert Hödicke, als Mathematiker gewissermaßen Anwalt der Fachwelt, und ich als Laie (ok, Profi-Journalist) Anwalt aller anderen, dem man alles nochmal und nochmal erklären musste, bis auch er es verstanden hatte und z. B. eine Universelle Turing-Maschine programmieren konnte; ein Grund, warum das Buch meines Erachtens in didaktischer Hinsicht ziemlich gut gelungen ist. Doch ein individueller, persönlicher höchstintelligenter und zudem charismatischer Lehrer ist natürlich schwer zu überbieten.
In meiner nicht enden wollenden Dissertation über Fehler beschäftige ich mich zur Zeit mit Renaissance-Astronomie und hier speziell mit Regiomontanus, dieser Lichtgestalt des 15. Jahrhunderts, der fast im Alleingang die Renaissance der Naturwissenschaften bewirkt hat nach den verlorenen Jahrhunderten des christlichen Mittelalters und ohne dessen Arbeiten wohl weder Kopernikus noch Columbus erreicht hätten, was sie erreicht haben.
Das Internet misstrauisch nutzen
Um mich mit Büchern zu versorgen, bin ich heutzutage natürlich eher im Internet als in der Stabi unterwegs. Zu den Gutenberg-Schnäppchen von Amazon und ZVAB gesellen sich zudem zusehends Ebooks, und meine u. a. dank GoogleBooks (schade, dass avaxhome.ws so furchtbar illegal ist) rasch wachsende E-Bibliothek wartet eigentlich nur noch auf einen Reader, der nicht so teuer, stromfressend und so proprietär ist wie das iPad; Sony Reader und Kindle gehen schon in die richtige Richtung, aber schätzungsweise in einem Jahr dürften die richtig leckeren Geräte kommen.
Den Wert von Internetquellen generell muss man einschätzen können: was ist seriös und was ist Blogger-Geblubber. Da hilft traditionelle, internetlose Bildung natürlich. Wikipedia kann in vielen Hinsichten sehr erhellend sein, aber ich sehe die auch sehr skeptisch, seit ich festgestellt habe, dass dort Themen wie die berühmte menschengemachte globale Erwärmung sehr einseitig dargestellt werden; schade für so ein schönes Projekt, wenn hier Lobbyismus naturwissenschaftlichen Anspruch verdrängt. Wenn es um solchen geht, verlässt man sich vielleicht doch besser auf Quellen wie zum Beispiel arXiv.org.
Dritterseits bin ich kein Internet-Kostverächter: Facebook zum Beispiel nutze ich gerne als Medium, in dem ich meine Veranstaltungen und Meinungen posten kann – fast wie meinen eigenen Blog. Und umgekehrt kriege ich hier von anderen immer wieder mal interessante Anregungen. Allerdings ist es unbefriedigend, dass auf Facebook egal welches Thema einen Tag später vergessen ist. Auch diverse Kunstprojekte, mit denen ich zu tun habe, beispielsweise Morgenvogel Real Estate oder The RotTT, sind Internet-affin, und ich lerne da auch noch dazu. Abgesehen davon verdiene ich mein Geld damit, mich mit dem Internet einen Tuck besser als andere auszukennen.
Bildung im Griff der 68er
Als 1964 geborener 46jähriger bilde ich mir ein, von der alten und von der neuen Welt – der mit und der ohne Internet – jeweils das Beste mitbekommen zu haben, kenne Bäume und Burgen und Brandblasen noch in echt, und nicht nur als Computerspiel. Wissend, dass die Älteren schon immer über die Jungen geschimpft haben, bin ich mithin erstaunt, wie wenig Ahnung die Generation Internet vom Internet hat, wie wenig Wissen davon, dass und welche Prozesse hinter dem Drücken eines Knopfes stehen.
Anders herum haben die Kommenden den Vorteil, dass man sie nicht mehr mit Religion und ähnlicher Folklore von ihren tatsächlichen Interessen ablenken kann, weil die alten Autoritäten nur noch Unterhaltungsangebote unter vielen, vielen anderen stellen. Das kann zu Verwirrung und Orientierungslosigkeit führen, aber – positiv betrachtet – auch zu freien Köpfen mit stärkerer Kritikfähigkeit als bei älteren Generationen.
Grundsätzlich nichts gegen “kulturelle Bildung” (was immer das eigentlich sein mag), aber eine Verbesserung von Bildung im traditionellen Sinne von Mathematik, Sprachen etc. wäre wichtiger. Die hat es in Deutschland leider schwer, weil die Interessen der diversen Kultusministerien (Bildung ist Ländersache – mit all den Posten, die dranhängen) offensichtlich schwerer wiegen als die Interessen der Schüler (die von einem bundeseinheitlichen Bildungssystem profitieren würden).
Auch sind die – inzwischen offensichtlich fest im Griff der 68er sich befindenden – Lehrpläne und Schulbücher mit viel Ideologie à la “Technik = böse” überfrachtet, so dass man lernen soll, wie schlimm sich Kunstdünger auf die Umwelt auswirkt, und allenfalls noch am Rande, wie das Haber-Bosch-Verfahren funktioniert (ohne das die Menschheit verhungern würde). Da muss man sich nicht wundern, wenn man heute unter Fachkräftemangel leidet. Hier müsste in den Lehrplänen einiges entrümpelt werden, und dann wäre auch Zeit gewonnen für die kulturelle Bildung.
Schlüsselmoment der Wirtschaftskrise
Um deren Wert weiß ich natürlich als jemand, der u. a. einen Hochschulabschluss in Musikwissenschaften hat; gerade frühe Musikerziehung soll sich ja sehr gut auf die Denkfähigkeit auswirken; bekanntlich war Musik im Quadrivium der mittelalterlichen Universitäten ein Elementarfach (unter naturwissenschaftlichen Vorzeichen). Andererseits kriege ich die Assoziation von “kultureller Bildung” mit “Suhrkamp-Kultur” und ähnlichem nicht mehr aus dem Kopf, und der tut sich damit leider schwer bei seiner ausgeprägten Allergie gegen bullshit (Harry Frankfurt, Oswald Wiener).
Das mag das Luxusproblem eines Erwachsenen sein, und umgekehrt sei ja jedem Erwachsenen der Luxus gegönnt zu glauben, dass ihn die Lektüre von Luhmann oder Wittgenstein geistig weiterbringt. Gleichwohl wünschte ich mir, wie erwähnt, für die Jüngeren andere Bildungsakzente; Mangel an mathematischer Bildung z. B. scheint mir doch ein Schlüsselmoment der aktuellen Wirtschaftskrise zu sein. Wenn Märkte im Sinne von Benoît Mandelbrot chaotische Systeme sind, sind es die Ableitungen davon, die Derivate, erst recht; an solche Massenvernichtungswaffen (Warren Buffett) sollte man niemanden heranlassen, der nicht mindestens einen Doktor in Mathematik hat; am besten wohl niemanden.
Die beiden Welten zusammenbringen
Kann man die zwei Welten (C. P. Snow) der Bildung zusammenbringen? Ein Versuch war NightAcademy, ein Projekt mit der russischen Künstlerin Joulia Strauss und ein alphabetisch grundierter Ansatz, mit Radio und Fernsehen Kunst zu machen, vor allem auf Twen FM.
Meine Idee war, da Themen nach Alphabet statt nach “inneren Zusammenhängen” zu kombinieren, also z. B. in der Sendung Q den Barockdichter Quirinus Kuhlmann mit den neuesten Erkenntnissen der Quantenphysik und einer Band namens Queen. Das war zum einen künstlerisch-locker, zum anderen gewollt bildungsbürgerlich, und endlich war man ja auch gezwungen, sich Gedanken zu machen, wenn exotische, und noch mehr Gedanken, wenn weniger exotische Buchstaben anstanden.
Bei R stand eine ganze Rapper-Gang aus dem Wedding im Studio. Insgesamt waren sich Joulia und ich – als Künstler, die weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen sind – immer einig, dass der Kunstdiskurs, der so häufig in Geschwafel über individuelle Befindlichkeiten übergeht, noch einiges an philosophischer, technischer, naturwissenschaftlicher, ja überhaupt Bildung gebrauchen kann.
14 Kommentare zu
Ich versuche in meiner Arbeit auch sehr interdisziplinär zu arbeiten und auch oft Mathematiker und Informatiker heranzuziehen, aber das ist sehr schwer, weil ich vieles nicht verstehe, genau wie anders herum viele Mathematiker sozialwissenschaftliche Theorien nicht verstehen. "Nicht verstehen" geht ja aber nicht davon aus, dass die Auffassungsgabe des Rezipienten schlecht ist, sondern dass der Sender nicht verständlich schreibt bzw. sich artikuliert, dass es auch andere verstehen. Diese Kritik sehe ich auch oft in der Kommunikationswissenschaft, die nicht kommunizieren kann. Über Niklas Luhmanns Theorien gibt es *ein* verständliches Buch von Margot Berghaus und das ist schade.
Daher finde ich die Abgrenzung von "zwei Welten" nicht gut, weil es ja keine zwei Welten gibt, sondern nur die Kommunikation innerhalb der einen Welt nicht klappt. Oder?
Bilder auf Internetcommunities hochzuladen sind doch viel wichtigere und esentiellere Skills, als der Nutzen irgendwelcher wissenschaftlichen Errungenschaften (ausser vielleicht wichtige technische Details zu irgendwelche Flachbildschirme, die irgendwie im Iphone eingebaut sind) .
wahrscheinich sind wir doch genau deshalb jetzt auch alle irgendwie kreativ und reden den ganzen Tag nur noch über neue Ipads und Iphones und uploaden Babyfotos auf Facebook.
juhu
trotzdem..
wenn ich Kinder hätte und es mir leisten könnte, würde ich sie liebend gerne auf die gemischte Manuel Bonik Gesamtschule schicken.. 8)
http://www.youtube.com/watch?v=7_zzPBbXjWs
1961 haben US-Studenten durchschnittlich noch 41 Stunden, 2003 nur noch 27 Stunden in der Woche für das Studium aufgewendet. ergro titelt telepolis:
Freizeit-Uni: US-Studenten arbeiten immer weniger fürs Studium
http://www.heise.de/tp/blogs/6/147861
http://www.abendblatt.de/ratgeber/extra-journal/article1546962/Unterricht-auf-dem-Wasser.html