Die gegenwärtige Krise des Kapitalismus erweist sich kaum als grundlegende Krise. Sie scheint vielmehr eine zu sein, aus der der Kapitalismus gestärkt und verändert hervorgehen wird. Es stellt sich aber die Frage, inwieweit sich damit möglicherweise die Organisationsweise kapitalistischer Gesellschaften verändert. Es bedarf empirischer Beobachtungen, welche Veränderungen sich in welchen Bereichen auf welche Art durchsetzen – oder eben nicht.
Der Fokus sollte daher auf den Grenzverschiebungen des Kapitalismus liegen. Eine Rolle spielt hier die Transformation der fordistischen Produktion zum flexiblen Netzwerk-Kapitalismus, die auch mit der Entgrenzung der Arbeitsformen, der zunehmenden Verwertung des gesamten Lebens und der Anforderung, unternehmerisch und kreativ zu sein, zusammenhängt. Was wir also beobachten können, sind zahlreiche Verschiebungen der klassischen Grenzen etwa zwischen Arbeit und Leben, zwischen Öffentlichem und Privaten etc.
Konkrete Grenzverschiebungen
Persönlich erfahre ich diese Veränderungen nicht zuletzt im Wissenschaftsbetrieb etwa durch die Ausweitung prekärer und kaum planbarer Beschäftigungsverhältnisse und die allgemeine Ökonomisierung der Hochschulen, d.h. der Orientierung an Drittmitteln, der Auflösung demokratischer Mitbestimmung und der gezielten Etablierung von marktähnlichen Mechanismen, die die Konkurrenz zwischen Hochschulen und WissenschaftlerInnen fördern sollen. Auch hier kann die bekannte moralische Klage, das alles käuflich sei, durch das Staunen darüber ergänzt werden, was alles profitträchtig produziert und eingesetzt werden kann.
Das Buch, das ich kürzlich gemeinsam mit Karina Becker, Henning Laux und Tilman Reitz zu diesem Problemfeld herausgegeben habe, widmet sich daher ganz konkreten Grenzverschiebungen des Kapitalismus. Es geht also Phänomene wie der Green Capitalism oder auch um bestimmte gesellschaftliche Bereiche und Sektoren wie etwa das Hochschulwesen, die Leiharbeit oder um Fragen des digitalen Eigentums. Das schließt auch die Fragen ein, welche Grenzen tatsächlich auf welche Weise gesetzt werden und inwiefern diese umstritten oder umkämpft sind.
Es fehlen Utopien
Unsere heutige Situation ist die einer Zersplitterung gesellschaftlicher Kämpfe, die oft gar nicht die Form des Kampfes annehmen. Um dies zu differenzieren, hilft es nicht, global von “Widerstand” zu sprechen, man muss auch die subtileren und eher mikro-logischen Kräftelinien erfassen, die von den unzähligen Formen des Eigensinns und Subversionen ausgehen, ohne deshalb schon reflexiver, artikulierter oder organisierter Widerstand zu sein.
An diesen Stellen mögliche Formen des Widerstands zu benennen (und ausfindig zu machen) ist deshalb schwer, weil die Verknüpfung der vielfältigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bislang kaum gelingt. Insbesondere neuere Konfliktlinien haben bislang kaum organisierten Widerstand hervorgerufen, allenfalls lassen sich zahlreiche, oft nicht verknüpfte Subversionen innerhalb der Alltagspraxis beobachten.
Es fehlt an utopischen Perspektiven, die verhindern, dass die Forderungen oppositionell bleiben, ohne zur Restaurierung alter, sozialstaatlicher Herrschaftsverhältnisse beizutragen.
10 Kommentare zu
Utopien zu entwickeln, ist beinahe unmöglich, denn die müssen glaubwürdig erscheinen. Nur in einer "unvorstellbaren Katastrophe" scheinen sie noch denkbar.
Mit subtileren, mikro-logischen Kräftelinien ist - im foucaultschen Sinne - gemeint, dass Veränderungen nicht immer nur vom Widerstand im Großen ausgehen, sondern etwa auch aus der eigensinnigen oder auch kreativen Logik des Alltagshandelns. Ich hatte weniger Protestformen im Netz im Sinn, sondern bestimmte Verweigerungshaltungen etwa am Arbeitsplatz, die nicht unbedingt große Formen des Widerstands sind, aber mitunter doch etwas, was aufsummiert Veränderungen hervorrufen kann. In dem Sinne kann man das dann als unartikulierten Widerstand verstehen, da es zwar keinen direkten Aufstand, aber wohl doch etwas widerständiges oder eigensinniges gibt. Er ist in dem Sinne unartikuliert, als er nicht unbedingt verbalisiert werden muss - was bei den klassischen Widerstandsformen normalerweise immer mitgedacht ist.
In Bezug auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Debatte (@Winkler) würde ich vermuten, dass es durchaus einen zentralen Unterschied macht, ob man in wohlfahrtsstaatlichen oder in neoliberalen Gesellschaften arm ist. Es scheint mir wichtig, die verschiedenen Formen von Armut zu beschreiben und auch aufzuzeigen, dass beispielsweise ein neoliberales Regierungskalkül im Gegensatz zum Sozialstaatsmodell Armut nicht mehr als abzuschaffendes Übel begreift, sondern in einer Politik der Armut durchaus strategisch zu nutzen weiß. Entsprechend lässt sich hier auch eine Transformation vom welfare zum workfare state beobachten, die mit einer Zunahme an Schikanen und Zumutungen gegenüber Arbeitslosen einhergeht.
Mit dem Konzept der Grenzverschiebungen ist gemeint, dass es uns um diese Veränderungsprozesse und Umstrukturierungen geht. In diesem Sinne verschieben sich Grenzen neu oder werden etwa auch durch Widerstände neu gezogen (indem etwa bestimmte Zumutungen erfolgreich zurückgedrängt werden). Grundsätzlich besagt das aber auch, dass es immer Grenzen des Kapitalismus gegeben hat, zumindest wenn man Kapitalismus nicht einfach als Großbezeichnung der gegenwärtigen Gesellschaftsformation nimmt, sondern als spezifische Produktionsweise begreift. Historisch findet man diese natürlich zunächst im (auch geographischen) Außen, also etwa in subsistenzwirtschaftlich organisierten Gesellschaften. Dann aber auch im Innern, indem etwa bestimmte gesellschaftliche Bereiche wie die Reproduktionsarbeit (also etwa Kindererziehung und Hausarbeit) nicht primär kapitalistisch ausgerichtet waren (das zeigt sich sowohl in der Produktionslogik wie hinsichtlich dessen, dass die Arbeitskraft unentgeltlich organisiert war), oder auch die staatliche Bürokratie nach anderen Logiken funktionierten (auch wenn sie dadurch gesamtgesellschaftlich natürlich ein Garant dieser Produktionsweise waren). Es handelt sich also um eine Verschiebung von Grenzen, wenn ökonomische Strukturlogiken (wie Wettbewerblichkeit oder die primäre Orientierung an der Frage der Verwertbarkeit) in solchen Bereichen eine immer größere Rolle spielen.
In diesem Sinne lassen sich meines Erachtens zumindest zahlreiche Bereiche benennen, an denen derartige Verschiebungen stattgefunden haben - von der Ökonomisierung des Erziehungssystems und der Hochschulen über die creative economy bis zu den fast verzweifelten Bemühungen, die digitale Welt in kapitalistische Eigentumsverhältnisse zu übersetzen.
Nun gut, ich hoffe, das macht ein paar Dinge klarer. Ich freue mich über weitere Diskussionen!