Die Ökonomisierung greift um sich. Kein gesellschaftlicher Bereich bleibt verschont. Alles muss sich rechnen. Alles wird betriebswirtschaftisiert. Hat der Kapitalismus noch Grenzen? Berliner Gazette-Autor Lars Gertenbach kommentiert.
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Die Debatte um Armut geht weiter. Doch ergibt sie überhaupt Sinn? Es macht einen zentralen Unterschied, ob man in neoliberalen oder in wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaften arm ist. Daher ist es wichtig, die verschiedenen Formen von Armut zu beschreiben. Und im Zuge dessen beispielsweise aufzuzeigen, dass ein neoliberales Regierungskalkül – im Gegensatz zum Sozialstaatsmodell – Armut nicht mehr als abzuschaffendes Übel begreift, sondern in einer “Politik der Armut” durchaus strategisch nutzen will.
In diesem Zusammenhang lässt sich eine Transformation vom Welfare zum Workfare state beobachten, die mit einer Zunahme an Schikanen und Zumutungen gegenüber Arbeitslosen einhergeht – inklusive populistischer und zynischer Debatten um die vermeintliche Dekadenz der Unterschicht. Das Konzept der Grenzverschiebungen, mit dem sich ein von mir herausgegebenes Buch beschäftigt, versucht diese Veränderungsprozesse und Umstrukturierungen herauszuarbeiten.
Grenzen des Kapitalismus
Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass der Kapitalismus immer Grenzen hatte. Zumindest wenn man Kapitalismus nicht einfach als Großbezeichnung der gegenwärtigen Gesellschaftsformation nimmt, sondern als spezifische Produktionsweise begreift. Auch Marx beschreibt dies detailliert, etwa in Bezug auf die Kämpfe um die Begrenzung der Arbeitszeit oder die Enteignung der subsistenzwirtschaftlich arbeitenden Landbevölkerung im 18. und 19. Jahrhundert.
Historisch findet man die Grenzen des Kapitalismus an der Peripherie des Weltsystems, also etwa in außerwestlichen Gesellschaften. Aber nicht nur. Es gibt sie auch im Zentrum. In Europa etwa waren bestimmte gesellschaftliche Bereiche wie die Reproduktionsarbeit (etwa Kindererziehung und Hausarbeit) zunächst nicht primär kapitalistisch ausgerichtet, auch die staatliche Bürokratie funktionierte nach anderen Logiken.
Als in diesen Bereichen ökonomische Strukturlogiken eine immer größere Rolle zu spielen begannen, verschoben sich die Grenzen des Kapitalismus: Nach und nach wurden dort Wettbewerblichkeit, respektive die primäre Orientierung an der Frage der Verwertbarkeit zum Standard. Besagte Grenzen verschieben sich auch dann oder werden neu gezogen, wenn durch Widerstände bestimmte Zumutungen erfolgreich zurückgedrängt werden.
Dynamik der Ökonomisierung
In diesem Sinne lassen sich zahlreiche Bereiche benennen, in denen Grenzverschiebungen des Kapitalismus in letzter Zeit stattgefunden haben – von der Ökonomisierung des Erziehungssystems bis zu den Diskussionen um kürzere Schulzeiten, von der Umstrukturierung der Hochschulen bis zum Boom der Creative economy oder den fast verzweifelten Bemühungen, die digitale Welt in kapitalistische Eigentumsverhältnisse zu übersetzen.
Derartige Veränderungen sind sozial umkämpft oder zumindest umstritten. In jedem Fall sind sie Teil einer Dynamik der Ökonomisierung. Auf der einen Seite erschließt diese Dynamik neue Bereiche der Profitabilität. Auf der anderen Seite gibt sie zahlreiche Bereiche als nicht beziehungsweise nicht-mehr profitabel auf. Die Diskussion um Exklusion, neue Armut und das Brachliegen ganzer Regionen macht dies nur allzu deutlich.
Um diese Dynamiken zu begreifen, müssen wir die Gegenwart befragen: Was verändert sich hier jeweils in welchen Bereichen? In welche möglicherweise zum Teil neuartigen oder anders gelagerten gesellschaftlichen Logiken ist dies eingelassen? In welche Richtung entwickelt sich all dies zukünftig? Es gibt darauf sicherlich keine schnellen, keine einfachen Antworten. Aber der lange und harte Weg führt zu einer deutlicheren Vorstellung davon, was ich Grenzverschiebungen des Kapitalismus nenne. Einer Vorstellung, die uns helfen sollte, Widerspruch zu artikulieren.
(Anm.d. Red.: Dies ist der zweite Beitrag von Lars Gertenbach, der die Diskussion im Anschluss an seinen Beitrag “Globalisierungskritik, wie weiter? Antwort #92“ kommentiert.)
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