Seit die Wunder der modernen Technik die Arbeitswelt umkrempeln, braucht die BVG keine Schaffner mehr. Weil keine Schaffner auch keine Pausenstullen essen oder Fahrplanauskuenfte geben, entbehren auch Schaffnerhaeuschen ihres urspruenglichen Verwendungsszwecks.
Auf dem U1-Bahnsteig Moeckernbruecke ist ein Blumenladen in der Schaffnerabstell- kammer eingezogen. Geaendert hat sich dadurch aber nicht viel, denn so, wie es keine Schaffner mehr gibt, gibt es hier auch gar keine Blumen. Die sind nur fotografiert, auf Pinne ge- spiesst und in Blumentoepfe gesteckt. Rosen, Tulpen, Nelken – man kann alle Blumen faken.
>Karnation< heisst der Laden. Blumen-Fleischlichkeit. Vege- tarier-Witz? Oder Simulation durch Bilder als Fleischwerdung im virtuellen Zeitalter? Realitaet ist ja schon oede, irgendwie dreidimensional. Simulation ist Realitaet 2.0, Hyperrealitaet! Selbst Gott ist nicht mehr real. Tot, untot, jedenfalls nicht mehr, was er mal war. Seit alle ein hippes Accessoire namens Vernunft
mit sich herumtragen, wollen sie nichts mehr hoe- ren von Allmaechtigkeit und Gnade oder gar Gottgefaelligkeit und Demut. Dafuer aber vom Dalai Lama, Reiki, Tantra, Kama- sutra, Power-Yoga, Feng Shui, Chu K’a Selbstmassage, der Kabbala, Eurythmie, Bachbluetentherapie, Scientologie, Sata- nismus, Natursekt, Prinzessin Diana und dem Papst. Simulation kann wirklich Karnation auf Erden sein.
Und dann sind da noch die Autoren und ihr geistiges Eigen- tum, einst Genies, Dichterfuersten, verdammt schlaue Leute, auktorial und kurz vor anbetungswuerdig. Kurz nach Gott mussten auch die dran glauben: Mausetot, weil der Leser jetzt schlau genug ist, sich seinen eigenen Teil zu denken und den Text ganz gerne selbst konstituieren mag. Autoren-Attrap- pen muessen jetzt im Text so karnieren, wie es der Leser ger- ne haette und andere Autoren intertextualieren moechten. Kann nicht wenigstens die BVG den Quatsch lassen und die Haeuschen einfach zunageln, verbarrikadieren, sie verwaisen, vor sich hin daemmern lassen? Schaffnerhaeuschen-Zombies waeren wenigstens keine Fleisch-Fakes.
9 Kommentare zu
@Susanne: Vielleicht heißt der Laden auch so, weil auf Englisch "carnation" Nelke heißt? ;)
Apropos Lederle. Hat der Name was mit ehemaliger Körperhaut, sprich Leder zu tun? Ein Künstlername vielleicht? Wo man ja künstliches Leder nicht unterstellen will in so gottlosen Zeiten, wo kommen wir da hin!
Aber als Lesergott darf man da auch einen Kunstledernamen vermuten:)
@Tobias: Um auf die florale Onomastik zurück zu kommen: Nicht nur die Nelke spielt hier eine Rolle, schließlich bedeutet Susanne "die Lilie".
@ Samson: Was will uns die Autorin damit sagen?
Dann firmiere ich jetzt wieder unter meinem richtigen Namen: Tiger Lily