NO 2019 | 475 Seiten
OT: »Det andre namnet. Septologien I-II«
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt Henkel
Rowohlt Verlag
ISBN: 978-3-498-02141-2
Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den beiden Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, sie kreuzen sich in der Mitte, ein längliches Bild, und ich sehe, dass ich die Striche langsam und mit dicker Ölfarbe gemalt habe, und sie hat getropft und wo die braune und die lila Linie einander kreuzen, mischt die Farbe sich schön und tropft herab und ich denke, das ist kein Bild, aber zugleich ist das Bild genau, wie es sein soll … (Seite 11)
…denn manchmal gibt es auch Bücher, die genau so sein sollen, wie sie sind, obwohl sie eigentlich recht unbequem zu lesen sind, denke ich, und man immer wieder aufs Neue den Lesefluss suchen muss, jeden Tag und immer wieder, aber wenn man erstmal wieder eine paar Zeilen gelesen hat, kommt der Fluss von ganz allein, er stellt sich ein, ganz automatisch, wie wenn du in einen echten Fluss steigst, einen mächtigen Fluss mit starker Strömung, und du zunächst noch mit den Füßen im schlammigen Grund stehst und dann die Beine hochnimmst, die Arme ausgebreitet, damit du nicht untergehst, und erst langsam, dann aber immer schneller von der Strömung erfasst wirst und mit dem Fluss abwärts ziehst, am Ufer entlang, an Wiesen vorbei, an Wäldern und Siedlungen, an Menschen, die dir vom Ufer aus nachschauen und manche von ihnen, so stelle ich mir vor, winken dir sogar zu, weil sie sehen, dass du mit dem Fluss ziehst und sie selbst nicht, weil sie bleiben, wo sie sind, du aber dem Weg folgst, den der Fluss dir vorgibt, und ich denke, genau so ist das auch mit diesem Buch, denn es gibt dir einen Weg vor, dem du folgst, aber nur, wenn du ihm folgen willst, wenn dir der Sinn danach steht, aber ich denke, wenn du dem Weg nicht folgen, dich nicht vom Fluss tragen lassen willst, wärst du ja gar nicht erst in den Fluss gestiegen, hättest deine Schuhe nicht ausgezogen, deine Kleider angelassen, wärst gar nicht erst zum Fluss gegangen, wärst zuhause geblieben, in deinen eigenen vier Wänden, die du kennst, in denen du dich sicher fühlst und hättest etwas anderes getan, Malen zum Beispiel, wie Asle, der Ich-Erzähler dieses Buches, der seit seinen Kindertagen malt und zeichnet, weil es das Einzige ist, was er gut kann, denn Rechnen und Lesen und Schreiben waren nicht seine Dinge, nur das Malen und Zeichnen, aber mittlerweile will er nicht mehr das malen, was er sieht, denn die bloße Abbildung der Realität ist schlicht und einfach und hässlich, findet er, und er möchte nur noch das malen, was er in sich trägt, mit sich herumschleppt, und mittlerweile hat er sich einen Namen gemacht, denn seine Gemälde verkaufen sich gut, in dieser Hinsicht braucht er nie Sorge haben, aber ich finde, Geld und Berufung sind ja nicht alles im Leben, es muss auch geliebt und gefeiert werden, wie man so schön sagt, findet auch Asle, denn man muss genießen und auch Müßiggang muss erlaubt sein, und auch der Suff ist ein Bestandteil des Lebens und kann Freude bedeuten, aber auch Hilfe, besonders, wenn man jemanden verloren hat, genau wie Asle seine geliebte Ales, die viel zu jung gestorben ist, denn genau dann kann der Suff ein großer Trost sein für eine gewisse Zeit, aber irgendwann muss damit auch Schluss sein, denn sonst lässt dich der Suff nicht mehr los und zieht dich mit sich fort, auch wie ein Fluss, also, denke ich, gibt es gute und böse, helle und dunkle Flüsse, Flüsse, die dir helfen, dich weiterbringen, dich wachsen lassen, aber eben auch Flüsse mit dunklen Zielen, die sich durch Landschaften schlängeln, die du nicht sehen willst, deren Luft du nicht atmen willst, Flüsse, die nicht in ein offenes Meer münden, wo alle frei und glücklich und friedlich miteinander sind, sondern sich an ihren Enden in Säurebäder ergießen, in denen du dich unter unfassbaren Schmerzen langsam zersetzt, genau wie Asles Freund, der auch Asle heißt, Asle und Asle, gleicher Name, anderes Leben, anderer Name, ein Leben wie es Asles hätte sein können, wenn er mit dem Suff nicht aufgehört hätte, denn Asle trinkt nicht mehr, kein Bier, kein Wein, kein Schnaps, aber der andere Asle trinkt und trinkt und trinkt und verliert sich im Suff, ist im bösen Fluss gelandet, kommt nicht mehr ans Ufer, will nicht mehr ans Ufer, hat längst aufgegeben, ans Ufer zu wollen, und zittert und zittert und zittert nur noch, denn der Fluss ist so kalt, und selbst in seinen seltenen schwachen lichten Augenblicken weiß er, dass er ans Ufer zurück muss, und dass das Ufer gar nicht weit weg ist, und dass dort eine wärmende Decke auf ihn wartet, und auch Asle, der ihm helfen würde, so gern helfen würde, aber das sind nur schwache Erinnerungen an ein Leben, das der andere Asle schon lange hinter sich gelassen hat, und ich denke, dass auch der andere Asle, der im dunklen Fluss, nur eine schwache Erinnerung an ein Leben ist, dem Asle entkommen ist, denn genau darum geht in dem Buch, nämlich um die Dualität aller Dinge, darum, dass es das Eine nicht ohne das Andere geben kann, und dass du immer eine Wahl hast, es immer eine Option gibt, und dass zwei Wege sich kreuzen können, wie zwei Pinselstriche, einer lila, einer braun, und dass an der Schnittstelle, dem Treffpunkt, der Überschneidung etwas Neues entsteht, in einer Farbe, die es vorher noch nicht gab, die noch keinen Namen hat und auch noch keinen anderen…
DER ANDERE NAME erschien in der großartigen Übersetzung von Hinrich Schmidt Henkel bei Rowohlt, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Alle Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet Ihr hier. Eine weitere, sehr positive Besprechung findet Ihr bei literaturleuchtet. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Chapeau zu dieser beeindruckend gut geschriebenen Ein-Satz-Rezension!
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Nach diesem Buch war es mir ein Bedürfnis.
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Liest sich der Stil des Buches denn ähnlich? Denn dann können 475 Seiten vergleichsweise lang sein … 😉
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Das ist genau Fosses Stil, sein ganz eigener Sprachrhythmus. Als Einstieg sind knapp 500 Seiten sicher ein bisschen fett, aber um Fosse kennenzulernen – was ich nur empfehlen kann – kann man auch zu seinen älteren, um einiges kürzeren Sachen greifen. Ich empfehle TRILOGIE, drei zusamenhängende Geschichten, die auch einzeln erschienen sind.
LG von der Ostsee!
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Dann mache ich mich mal diesbezüglich schlau – vielen Dank für den Tipp.
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Das hast Du allegorisch sehr schön gewebt.
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Dankeschön!
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Bravo! Ich bin begeistert. Ich liebe diesen Stil ja sehr.
Habe schon alle anderen Bücher von ihm gelesen und warte nun sehnsüchtig auf die Fortsetzung.
Fiel dir diese Besprechung leicht?
Viele Grüße!
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Danke! Ehrlich gesagt, habe ich einfach angefangen und konnte nicht mehr aufhören. Nach zwanzig Minuten war ich fertig, hab nochmal Korrektur gelesen und veröffentlicht. Das ist wirklich eine sehr produktive Art zu schreiben. Ich hatte das bei einem Mayröcker-Roman schonmal gemacht, da war die Erfahrung ähnlich:
https://booksterhro.wordpress.com/2015/03/02/mayroecker-und-ich-schuettelte-einen-liebling/
Ich will das nicht größer reden, als es ist – mit Fosses Qualität ist das natürlich nicht zu vergleichen –, aber ich fand es passend für die Rezension und es hat Spaß gemacht.
Beste Grüße!
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Eine wundervolles Besprechung von Dir. Ich freue mich nun auf die Lektüre, habe ihn auf der Buchmesse erleben dürfen und wurde dadurch auch neugierig, ihn mal wieder zu lesen. Viele Grüße
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Vielen Dank!
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[…] „Bookster“, der mich ja einmal scharf rügte, weil ich angeblich gespoilert habe, dat in seiner Besprechung auch nur mit einem Satz probiert, die Absätze aber wegelassen, weshalb ich den Text noch immer nicht verstanden habe. […]
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[…] Weitere Besprechungen gibt es bei literaturleuchtet und Bookster HRO. […]
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