Vermutlich hatte ich auch schon bessere Ideen, als ausgerechnet diesen Trumm hier vorzustellen. Aber irgendwann musste es ja so kommen, denn alle paar Jahre greife ich ganz freiwillig zu diesem Bildungsroman des 19. Jahrhunderts, der einen mit seiner manchmal nachgerade pedantisch durchgehaltenen Handlungsarmut und Humorlosigkeit durchaus an den Rand der Verzweiflung bringen kann.
Der Roman, ursprünglich in drei Bänden veröffentlicht, wurde von Größen wie Thomas Mann, von Nietzsche und von Karl Kraus bewundert und von Friedrich Hebbel höhnisch verspottet:
Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.
Schon der erste Absatz:
Mein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen Teil des ersten Stockwerkes eines mäßig großen Hauses in der Stadt, in welchem er zur Miete war. In demselben Hause hatte er auch das Verkaufsgewölbe die Schreibstube nebst den Warenbehältern und anderen Dingen, die er zu dem Betriebe seines Geschäftes bedurfte. […] Mein Vater hatte zwei Kinder, mich den erstgeborenen Sohn und eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als ich. Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen, in welchem wir uns unseren Geschäften, die uns schon in der Kindheit regelmäßig aufgelegt wurden, widmen mußten, und in welchem wir schliefen. Die Mutter sah da nach, und erlaubte uns zuweilen, daß wir in ihrem Wohnzimmer sein und uns mit Spielen ergötzen durften.
Der Ich-Erzähler, Heinrich Drendorf, hat das große Glück, dass sein Vater, ein Wiener Kaufmann, es immerhin zu solchem Wohlstand gebracht hat, dass er selbst keiner Erwerbstätigkeit nachgehen muss, sondern sich seinen zahlreichen Interessen, vornehmlich den Naturwissenschaften, widmen kann. Als Heinrich älter wird, gestattet ihm der Vater sogar, die Sommermonate auf dem Land oder im Gebirge zu verbringen, damit er dort seine geografischen Studien betreiben kann.
Während einer dieser Sommeraufenthalte befürchtet Heinrich, von einem Gewitter überrascht zu werden, und bittet den Besitzer eines schön gelegenen Landhauses, dort das Unwetter abwarten zu dürfen. Diese Bitte wird ihm von dem feinen älteren Mann, der sich später als der Freiherr von Risach entpuppt, gewährt.
Die Männer kommen ins Gespräch, verstehen sich, Heinrich bleibt über Nacht. Und in den folgenden Jahren kehrt er am Ende seiner monatelangen Exkursionen immer wieder für einige Zeit im „Rosenhaus“ ein, in dem das Leben sehr ruhig, sehr ritualisiert und sehr privat vonstattengeht. Der alte Freiherr kann so den Bildungsweg des jungen Heinrich begleiten, fördern und die noch fehlenden Impulse für die Entwicklung des jungen Mannes geben. In ihren zahllosen Gesprächen geht es um das Wesen der Schönheit, das Mittelalter, Griechenland, Kunst, sehr viel Kunst, Schmuck, Hofbewirtschaftung, Antiquitäten, Architektur, griechische Statuen, Gemälde, Bücher, Ordnung und Goethe. Ganz offensichtlich kommt Heinrich aus einer Familie, die dem alten Freiherrn wesensverwandt ist.
Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er [der Vater Heinrichts] zu sagen, könne nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein. Dieser Zug strenger Genauigkeit prägte sich uns ein, und ließ uns auf die Befehle der Eltern achten, wenn wir sie auch nicht verstanden. So zum Beispiele durften nicht einmal wir Kinder das Schlafzimmer der Eltern betreten. Eine alte Magd war mit Ordnung und Aufräumen desselben betraut. (S. 9)
Irgendwann lernt Heinrich auch Mathilde, die über alles geschätzte Freundin des Freiherrn, und deren Kinder, Sohn Gustav und die wunderschöne Nathalie, kennen.
Wenn der Roman also nicht wegen seiner Handlung fesselt und auch die fast schon sterilen Charakterzeichnungen sicherlich nicht das sind, was mich an diesem Opus beeindruckt, dann könnte selbst die Sprache, die über weite Strecken so fein und so aus der Zeit gefallen ist, mich nicht über 700 Seiten bei der Stange halten.
Es ist etwas ganz anderes, was hier von Stifter bewunderungswürdig vorgeführt wird.
Der Autor entwirft eine Utopie, eine idealisierte Welt der Harmonie und Ordnung, in der nicht nur jeder Mensch seinen Platz hat, auch den Gegenständen und wertvollen Kunstobjekten ist ein fester Ort zugeordnet. Kein Buch im Lesezimmer des Rosenhauses darf irgendwo herumliegen, sondern muss nach der Lektüre wieder ins Regal geräumt werden. Die Rosen an der Hauswand, die das Gebäude wie mit einem Teppich überziehen, werden mit Umsicht und viel Arbeit gepflegt. Es gibt ein Zimmer, in dem nur Vogelfutter aufbewahrt wird, damit man die Vögel, die wiederum das Ungeziefer von den Rosen fernhalten sollen, an das Haus und die Örtlichkeit bindet.
Die junge Generation wird nach einem bestimmten Plan erzogen. Gustav, der jüngere Bruder Nathalies und gleichzeitig der Ziehsohn des alten Freiherrn, liest nur, was ihm gestattet wurde, gleichzeitig setzt man das Vertrauen in ihn, dass er die Bände Goethes, für die man ihn noch zu jung erachtet, nicht anfassen wird, obwohl sie ihm frei zugänglich sind. Körperliche Ertüchtigung gehört genau so selbstverständlich dazu wie die sorgfältige Einhaltung der Stunden des Home Schooling und die Auswahl der passenden Bekannten.
Alte Möbel und Gerätschaften, selbst verfallene Kirchen, werden mit viel Liebe und Sachverstand, mit dem man das eigentliche Wesen dieser Dinge wieder sichtbar machen möchte, restauriert. Da kann es dem Leser und der Leserin dann auch schon mal passieren, dass man mehrere Seiten lang ein Möbel oder eine Statue beschrieben bekommt.
In diesem patriarchalisch, manchmal auch ziemlich pedantisch geordneten Privat-Universum, sind auch die Rollen der Geschlechter festgeschrieben. Die Frau bekommt den Bereich der Häuslichkeit zugeschrieben, der Mann geht aktiv in die Welt, in die Politik, in den Krieg, ins Büro. Zwar wird die Frau in ihrem Tun respektiert und geachtet, aber bestimmte Entscheidungen trifft ausschließlich der Mann und entsprechender Respekt vor dem Hausherrn kann in der Ehe nicht schaden. Interessen, die den Rahmen der Häuslichkeit überschreiten, sind für eine Ehefrau dabei weniger wünschenswert. Sie darf sich allerdings herzlich mitfreuen, wenn dem Gatten wieder ein schöner Kunstfund geglückt ist.
Genauso ordnen sich die Dienstboten und die Arbeiter, denen höhere Bestrebungen ja bekanntlich eher fremd sind, gern in dieses System ein und sehen ihren Lebenszweck selbstredend in ihrer Sorge für die Herrschaft. Künstler und kreative Menschen hingegen stehen irgendwo dazwischen und haben einen größeren Freiraum und werden bereits als Individuen wahrgenommen.
Heinrich gleitet wie auf Kufen der sittlichen und ästhetischen Vervollkommnung entgegen, nie ist sein Weg gefährdet, selbst die Annäherung an Nathalie erfolgt unaufgeregt, ja unausweichlich. Möglich ist dies, da Mathilde und der Freiherr von Risach in ihrer Jugend den Leidenschaften und der Unvernunft so viel Raum gelassen haben, dass sie im Grunde heute noch dafür bezahlen und in ihrem Nachsommer, dem eigentlichen Kern des Romans, zwar zu Frieden und Milde gefunden haben, doch vor allem dafür sorgen können, dass die nächste Generation nicht die gleichen Fehler macht.
Spät im Roman erzählt der alte Risach dem jungen Heinrich seine Lebensgeschichte. Interessanterweise ist die viel lebendiger, wirkt viel menschlicher, da Stifter hier noch Menschen aus Fleisch und Blut hat aufeinandertreffen lassen. Während die Szenen zwischen Heinrich und Nathalie manchmal unfreiwillig komisch sind, da körperliche Anziehungskraft kein Thema sein durfte. Nathalie ist ein Engel, der so rein und so überirdisch schön ist, dass sie vor lauter Holdseligkeit kaum etwas sagen kann.
Überhaupt werden in diesem Roman nur feine und sehr tiefsinnige Gespräche geführt, einen Alltag mag man sich da gar nicht recht vorstellen.
Dennoch: Hebbel hatte unrecht. Das Buch ist etwas ganz Eigenes, ganz Besonderes. Diese Utopie hat so offensichtlich einen doppelten Boden, man glaubt ihr nicht und doch ist absolut faszinierend, wie Stifter sich die ideale Erziehung zum humanen Menschen, den Umgang der Menschen untereinander und die Überbrückung der Klassenschranken dachte, wie hier jemand einer ganzen Welt eine Ordnung, einen Sinn einschreiben wollte, dass man sich sogar bei dem Wunsch ertappt, es wäre das ein oder andere davon in Erfüllung gegangen.
Auch das überstrapazierte Modewort der Achtsamkeit: In dieser Welt wird es von den Protagonisten gelebt. Man geht achtsam mit Büchern und Kunstgegenständen um. Man geht achtsam mit den zur Verfügung stehenden Stunden des Tages und mit dem anvertrauten Reichtum um. Man prasst nicht (ganz im Gegensatz zu Stifter) und stellt nichts zur Schau. Man redet, man schweigt, man lässt dem anderen seinen Raum. Letztlich erstreckt sich diese Art der Weltaneignung auch auf einen nachhaltigen Umgang mit der Natur. Und der alte Gärtner ist glücklich, als er einen übergroßen Kaktus, der bei den Nachbarn nicht gewürdigt wurde und schon ganz schief und krumm zu werden drohte, in seine Obhut nehmen und der Pflanze nun die Bedingungen bieten kann, die sie für ein ungehindertes Gedeihen benötigt.
Selbstredend werden in dieser idealen Welt entsprechende finanzielle Ressourcen und die frei verfügbare Zeit vorausgesetzt, sodass man sich ausschließlich den individuellen Interessen und Liebhabereien widmen kann. Etwas, das Stifter fast sein ganzes Leben lang versagt blieb.
Und all denen, die Bildung nur unter dem Aspekt der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwertbarkeit sehen, wird gesagt:
Gegen diesen Einwurf sagte mein Vater, der Mensch sei nicht zuerst der menschlichen Gesellschaft wegen da sondern seiner selbst willen. Und wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er es auch für die menschliche Gesellschaft. Wen Gott zum besten Maler auf dieser Welt geschaffen hätte, der würde der Menschheit einen schlechten Dienst tun, wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte: wenn er der größte Maler wird, so tut er auch der Welt den größten Dienst, wozu ihn Gott erschaffen hat. Dies zeige sich immer durch einen innern Drang an, der einen zu einem Dinge führt, und dem man folgen soll. […] Gott lenkt es schon so, daß die Gaben gehörig verteilt sind, so daß jede Arbeit getan wird, die auf der Erde zu tun ist, und daß nicht eine Zeit eintritt, in der alle Menschen Baumeister sind. (S. 15)
Im Anschluss sollte man dann noch gleich die Biografie von Wolfgang Matz lesen. Wie Stifter, dessen Verdrängungen, Selbsttäuschungen und unerfüllte Sehnsüchte sich im Nachsommer wie in einem dunklen Spiegel wiederfinden und der spätestens mit diesem großen Werk nur noch auf Unverständnis stieß, ist eine zuweilen erschreckende, aber immer interessante Lektüre. Selbst wenn Matz etwas einseitig die „Schuld“ an Stifters unglücklicher Ehe ausschließlich bei dessen Frau verortet. Aber das wäre dann schon wieder eine andere Geschichte.
Stifter hat in diesen Roman alles hineingelegt, was er von der Welt in seinem Denken erfassen konnte; er ist eine Summe seines ganzen Lebens und Schreibens, der Höhepunkt seines Werks. Und nicht nur des seinen: Der Nachsommer gehört zu jenen Büchern, die einsam und unerreicht, einzigartig und vollkommen in der Landschaft der deutschsprachigen Literatur stehen; eines jener wenigen Meisterwerke, die fremd wie ein Findling in ihrer Zeit liegen und eine unmittelbare Wirkung nicht haben konnten. Ganz und gar gegen seine Epoche angeschrieben, ist er doch ohne Bezug auf sie kaum zu verstehen; in jeder Faser von Stifters persönlichster Lebenserfahrung geprägt, ist er doch Lichtjahre entfernt von jeder romanhaften Autobiographie.
Aus: Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge, Carl Hanser Verlag 1995, S. 324
