Peter Richter – 89/90

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Als die Mauer gefallen ist, habe ich in Westberlin gelebt, direkt am Hermannplatz in Neukölln. Es war dort nie besonders beschaulich, aber die Tage nach dem 09. November 1989 werde ich nie vergessen. Mit der U-Bahnlinie 8 direkt vom Bahnhof Friedrichstraße sind sie bei uns eingefallen, standen in Schlangen vor dem Aldi und der Sparkasse. Mit diesen hellblau gescheckten Jeansstoffen im sogenannten Moon-Washed-Style. Schimmeljeans, wie sie drüben genannt wurden. Es gab davon Hemden, Hosen, Jacken und sogar Portemonnaies. Wer richtig Scheiße drauf war, hat sich von Kopf bis Fuß damit eingekleidet. Dazu eine LCD-Armbanduhr und Minipli-Dauerwelle – vorne kurz, hinten lang. Fertig war der Schimmelmensch.

In jeder Wendedokumentation kann man sie heute noch sehen. Den Menschen in den Schimmeljeans haben wir die deutsche Einheit zu verdanken. Sie sind immer wieder Montags auf die Straße gegangen, sie haben die Stasizentrale gestürmt und bei der ersten freien Volkskammerwahl die CDU gewählt. In Peter Richters Wendechronik 89/90 wird diese Zeit wieder lebendig. Wir begleiten den Ich-Erzähler, der- wie der Autor selbst – diese turbulenten Wendemonate als 17-Jähriger in Dresden erlebt. In kurzen, unterhaltsamen Episoden führt Richter uns durch den Alltag seines Chronisten.

Die letzten Jahre der DDR sind in den vergangenen Jahren immer wieder literarisch aufbereitet worden. Die grandiosen Wenderomane von Uwe Tellkamp und Eugen Ruge sind literarische Bollwerke, an den sich jeder Versuch, diese Zeit zu beschreiben, messen lassen muss. Doch Peter Richter bringt sich gar nicht erst in die Verlegenheit, damit verglichen zu werden. Er wählt eine andere Form der Erzählung. Sein Ich-Erzähler und die Hauptfiguren in 89/90 sind keine Protagonisten, die eine Geschichte voranbringen. Sie sind vielmehr Chronisten, die Geschichte beobachten, von ihr getrieben werden. Alleine der Umstand, dass die handelnden Personen nicht mit Namen, sondern nur mit Abkürzungen genannt werden, zeigt, dass keine Identifikation gewollt ist.

Hier wird aus der Perspektive eines Zeitzeugen berichtet, so wie es tatsächlich war, damals 89/90. Das ist der gleiche naturalistische Erzählstil, wie ihn auch Karl Ove Knausgard verwendet. Chronisten-Blickwinkel einstellen und dann einfach alles aufzeichnen. Doch im Gegensatz zu Knausgard, dessen sachlicher fast schon eintöniger Erzählstil mich auf Dauer doch sehr ermüdet hat, schafft es Peter Richter seine Leser auch sprachlich zu begeistern. Er beschreibt und formuliert stellenweise so treffend, dass ich manche Absätze zwei- bis dreimal gelesen habe. Wie zum Beispiel diese grandiose Passage über zwei Zigaretten rauchende Mädchen auf dem Schulhof, die sich ihre Disko-Erlebnisse erzählten:

„Und weißt du, was der Typ DANN gemacht hat?
Die Duett in den Mund, Feuer geben lassen, Ansaugen – und während des Rauspustens mit der zigarettenführenden Hand einen weiten Bogen nach rechts außen vollführend:
Er hat mit WESTGELD gewedelt.
Andere Zigarettenhalterin: NEIN!
Hand geht zurück zum Mund, hektischer Zweitzug, dann in das Auspusten hinein: OH doch!

An solchen Passagen habe ich einfach Spaß. Und 89/90 ist voll davon, literarisch sehr abwechslungsreich und auf durchgängig hohem Niveau. Ob die beschriebenen Lebensumstände alle so zutreffen, kann ich als Wessi schlecht beurteilen. Mir kommt das alles sehr plausibel vor und deckt sich in vielen Punkten mit meiner Wahrnehmung aus der damaligen Zeit. Alles in allem ein sehr schönes Stück Zeitgeschichte, kurzweilig und literarisch interessant aufbereitet, bei dem sowohl Zeitzeugen als auch die Generation danach auf Ihre Kosten kommen.

Foto: Gabriele Luger

7 Antworten auf „Peter Richter – 89/90

  1. Ich bin eigentlich etwas müde geworden, die DDR-Romane betreffend, weil ich nicht 100-prozentig überzeugt war von den erfolgreichen Büchern wie „Der Turm“ und „Kruso“, die mir sehr gefallen haben, allerdings nicht in diesem Maße, wie sie meist besprochen worden sind. Ich empfehle da sehr gern „Die Insel“ von Matthias Wegehaupt, der das Leben auf einer Ostsee-Insel aus der Sicht eines Künstlers beschreibt, allerdings in einem sehr ironischen Ton, wahrscheinlich war dieser der beste Schutz, damals durch die Zensur „zu mogeln“. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich selbst in der DDR aufgewachsen bin und viel eher die Geschichten der Ferne interessant finde. Manchmal bin ich auch der Meinung, man braucht nur ein Buch über die DDR zu schreiben und schon sind die Verkaufszahlen garantiert. Trotzdem macht mich Dein wunderbarer Beitrag sehr neugierig. Im Übrigen finde ich Knausgard wiederum ganz wunderbar. Weil er vor allem sich von der Geschichte nahezu löst und die großen Fragen des Lebens bespricht.

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  2. Ja, aus der Ferne ist es spannend, jedenfalls interessiert mich die DDR immer noch sehr und trotz des großen Stöhnen „Schon wieder ein DDR-Roman, der jetzt sicher gewinnt!“, bin ich mir nicht ganz sicher, wo ich das Buch, in meiner eigenen Liste https://literaturgefluester.wordpress.com/2015/09/05/longlistentagebuchnotizen/einreihen soll?
    Ich habe es sehr gerne gelesen, das war auch sicher leichter als der „Turm“, manches, wie zum Beispiel das mit den rechtsradikalen Jugendlichen war für mich literarisch eher neu, gehört hatte ich das eher aus den Zeitungen, die Mädchen werden ein bißchen schlecht behandelt, wie das bei Sechzehnjährigen vielleicht so ist, mich aber störte, ansonsten habe ich wieder sehr viel Interessantes erfahren und bin jetzt sehr gespannt, ob es auf die Shortlist kommt?

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