Ich war irgendwie völlig auf der falschen Fährte. Ymir ist nicht wie ich fälschlicherweise annahm arabisch oder türkisch, sondern ganz im Gegenteil, der Name einer Figur aus der altnordischen Mythologie. Laut Wikipedia handelt es sich um einen zweigeschlechtlichen Urzeitriesen, angeblich das erste Lebewesen auf der Welt. Das war bei diesem Buch schon mal die erste Überraschung. Denn durch die falsche Namensassoziation hatte ich irgendwie eine Flüchtlingsgeschichte erwartet. Aber statt nach Syrien oder in die Türkei führt uns der junge Philip Krömer in seinem Debütroman nach Island. Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs fliegt ein dreiköpfiges Expeditionsteam im Geheimauftrag der Nazis in den hohen Norden, um in einem geheimnisvollen Erdloch eventuell dem Ursprung der nordischen Rasse auf die Spur zu kommen.
Jetzt wird sich vielleicht der ein oder andere fragen, wie man sich eigentlich für ein Buch entscheiden kann, über das man sich augenscheinlich so gar nicht informiert hat? Nun ja, das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht so genau. Ich überrasche mich oft selber. Da müssen manchmal nur die richtigen Knöpfe gedrückt werden, schon hat man mich – fürs Erste. Und einer dieser Knöpfe hieß in diesem Fall „Open-Mike-Publikumspreis“. Philip Krömer hat diesen im Jahr 2013 gewonnen und war damit für mich schon mal kein ganz so unbeschriebenes Blatt. Der nächste Knopf hieß Homunculus und ist der Verlag. Neugegründet, Indie und mit einem interessanten Querdenker-Konzept. Das alles hat ausgereicht, um ‚Ja‘ zu sagen zu Philip Krömer und seinem etwas sonderbaren Roman.
Zunächst einmal ein dickes Lob: Der Verlag hat ganze Arbeit geleistet. Man hält ein wirklich wunderschönes Buch in den Händen. Dicker Pappeinband ohne Schutzumschlag, State of the art-Grafikdesign auf Titel und Backcover. Die historischen Illustrationen aus einem alten Gesundheitsbuch und die Kapiteldeckblätter gehen mit der Geschichte eine wunderbare Synthese ein. Das gedruckte Buch korrespondiert in hervorragender Weise mit der Geschichte, die es transportiert. Es riecht sogar ein wenig nach Vorkriegszeit und Höhle. Das ist schon mal ganz hervorragend und freut mich wirklich sehr. Zeigt es doch, dass der in diesem Jahr erst gegründete Verlag von Anfang an keine Kompromisse eingehen will. Da wird nicht gespart, sondern aus dem Manuskript genau das Buch gemacht, das daraus gemacht werden musste. So und nicht anders, genau dieser Einband, diese Typo, diese Grafiken, dieser Geruch – perfekt.
Soviel zur Form, kommen wir zum Inhalt. Der Erzähler, einer der Expeditionsteilnehmer von damals, berichtet rückblickend. Wir Leser werden mit großer Geste eingeladen uns zu setzen, der Geschichte zu lauschen, zuzuhören wie die drei Männer sich im Körper Ymirs langsam nach unten abseilen. Durch Luftröhre, Magen und Gedärme immer tiefer eindringen bis zum Anus. Es ist stockfinster, es weht ein steter Wind, es gibt fremdes Leben da unten. Ist es der Ur-Arier? Wenn ja, dann ist er sehr behaart. Am Ende kommt nur einer wieder zurück nach oben – der Erzähler himself. Wie soll es auch anders sein? Und er erzählt uns die Geschichte nicht wie sie sich zugetragen hat, sondern – wie er augenzwinkernd anmerkt – wie es ihm gerade gefällt. Sie könnte auch komplett anders gewesen sein. Denn das, was da unten wirklich stattgefunden hat, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, darf niemals bekannt werden. Vielleicht würden wir es nicht verkraften, vielleicht würde es alles verändern, vielleicht ist da unten aber auch einfach gar nichts, alles dunkel und leer. Keiner weiß das wirklich. Und der Erzähler, der einzige, der das aufklären könnte, wird das nicht tun.
Und so bleibt man als Leser ein wenig unbefriedigt zurück. Von der Erzählstimmung erinnert mich Ymir ein wenig an Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ – auch ein Buch, das mich etwas ratlos zurückgelassen hat. Und so kann ich diesmal gar kein richtiges Fazit ziehen. Sowohl Kehlmanns Klassiker als auch Krömers Ymir haben in mir nichts zum Klingen gebracht. Da gab es nichts und niemanden, womit ich mich identifizieren konnte, lesend lachen oder leiden konnte. Es ist einfach nur eine Geschichte – gut erzählt, kurzweilig und so skurril, dass man sich bestimmt noch Jahre später daran erinnern wird. Wenn man das schöne Buch aus dem Regal nimmt, über den geschmackvollen Umschlag streicht, diesen Geruch einatmet und gedanklich wieder in das Loch einsteigt. Schwarz und vielleicht voller Geheimnisse, vielleicht aber auch einfach nur öde und leer.
___________
Titelfoto: Gabriele Luger
Verlag: Homunculus
216 Seiten, 19,90 €
„Es ist einfach nur eine Geschichte – gut erzählt, kurzweilig und so skurril, dass man sich bestimmt noch Jahre später daran erinnern wird.“
Das, lieber Tobias, kann man nun wirklich nicht von jeder Geschichte behaupten, daß sie sich so festsetzt im Kopf, daß man noch Jahre später usw…. dann muss es doch eigentlich eine verdammt gute Geschichte sein… 😉
herzliche grüße
gerd
LikenGefällt 2 Personen