Der Buecherblogger

ICH UND MEINE UNBEGREIFLICH WAHNSINNIGEN FRAUEN (Zur Erzählung “Zellengenossen” von Roberto Bolaño)

14 Erzählungen des chilenischen Schriftstellers umfasst dieses 2008 erschienene Taschenbuch, in dem sich Bolaño einmal mehr als ein Meister der Erzählkunst erweist. Seine Geschichten handeln von gescheiterten Schriftstellern, verletzbaren und verletzenden Frauen, von der Hilflosigkeit, auch am Telefon, wenn man schweigt. Sie handeln, natürlich, von ihm selbst, vom Tod und es gelingt ihm immer, ein ganzes Leben in wenige Seiten zu packen. Diese kurzen Erzählungen sind ein guter Einstieg in den Kosmos Bolaño, den es damals vor etwa neun Jahren noch zu entdecken galt, auch für mich mit all den neuen Übersetzungen, die anschließend im Hanser-Verlag erschienen. Ich schrieb 2009 drei Beiträge über die Erzählungen “Enrique Martin”, “Zellengenossen” und “Clara” für das Weblog zwei666.de, die ich hier noch einmal separat einstelle, bevor sie vielleicht ganz verloren gehen.

Eine kurze Assoziation, das schöne Wort “wüstensonnenuntergangsrot” betreffend, will ich aus heutiger Sicht (März 2018) noch anfügen. Denn Jahre später stieß ich auf ein ähnlich ungewöhnliches Adjektiv, das mich über meinen eigenen Gedanken wundern ließ, es gäbe doch wirklich Bücher, die man nur wegen eines einzigen Wortes gelesen haben sollte. Zum Beispiel Mariana Lekys Roman “Was man von hier aus sehen kann.” Das mich überzeugende Adjektiv hieß in diesem Fall “kranzschleifenschwarz”. Sieglinde Geisel nennt es in ihrem Page-99-Test ein “luxuriöses Adjektiv”. Zunächst einmal sagt es in seiner alliterativen Lautmalerei, dass jede Farbe auf jedem Gegenstand ihre eigene, auch subjektive Wahrnehmungsmöglichkeit besitzt. Etwas nur schwarz zu nennen, bedient sich der üblichen Sprachübereinkunft der Allgemeinheit. Das Subjekt in der Literatur aber dient nicht der Allgemeinheit, bestenfalls ist es zu ungewöhnlicher Sprache gewordener Ausdruck einer entgrenzten Wahrnehmung.

Interpretation

Sofia heißt in diesem Fall die spanische, antifranquistische Studentin, die zur gleichen Zeit wie der Erzähler 1973 in Chile in Spanien im Gefängnis sitzt. (Bolaño spielt mit der eigenen Biographie) Jetzt ist sie seine promiskuitive Geliebte. Wir befinden uns im Umfeld eines spanischen Studentenmilieus, in der man Sekundärliteratur über Hegel liest, die die Frauen natürlich nicht verstehen. Sie sind dazu da, beschlafen zu werden, und möglichst nicht immer in der gleichen Stellung. Sofia schläft zur gleichen Zeit mit einem kommunistischen Kommilitonen. Sie war allerdings auch schon mit Emilio verheiratet, man studierte die gleiche Fachrichtung. Gelesen wird Valerie Solanas und Ronald D. Laing. Der Erzähler liest die Sonette des letzteren! (Prosa und Lyrik, was für ein Spannungsverhältnis) Dem Übersetzer Christian Hansen haben wir übrigens das schöne Wort „wüstensonnenuntergangsrot” (S. 155) zu verdanken. Im Spanischen ein ganzer Nebensatz aus fünf Worten: „un rojo de desierta crepuscular”, und wer würde dabei von uns nicht an die mexikanische Wüste denken („2666″). Sofia hat auch eine Freundin, Nuria, die genau wie Emilio Gymnasiallehrerin ist. Von ihr erfährt der Erzähler den weiteren Lebensverlauf Sofias.

Die Studentenwohngemeinschaft hat sich aufgelöst, der Erzähler bleibt einsam zurück und die Beziehung zu Sofia versickert nachdem man noch gemeinsam nach Portugal trampte und leidenschaftliche Nächte verbrachte. Sofia gleitet in eine Monate andauernde psychische Erkrankung ab. Sie verkraftet ihre Scheidung und ihre gescheiterten Beziehungen nicht. Verstört lebt sie mit einem neuen „Begleiter” zusammen, dem sie irgendwie hörig zu sein scheint, was den Erzähler schockiert. Sie habe sich von einer unabhängigen, politisch denkenden Studentin in eine abhängige, unemanzipierte Frau verwandelt. Er erkennt sie nicht wieder. Von Nuria, wie gesagt, erfährt der Erzähler später die „einfach[e] [und] unbegreiflich[e] Geschichte” (S. 164) des Mordversuchs Sofias an ihrem Exmann Emilio.

Unbegreiflich sind Bolaños Erzählungen und auch seine Frauenfiguren immer. Das Spiel mit realen und surrealen Versatzstücken macht die Frage nach der Plausibilität überflüssig, vergleichbar etwa mit der Frauenfigur in Stefan Zweigs Meisternovelle „Brief einer Unbekannten”, die aus heutiger Sicht auch eher unrealistisch und unwahrscheinlich erscheint. Schon der zumindest im Deutschen erste Satz: „Es traf sich…” (S. 155 spanisch: Coinzidimos…) beginnt wie im Märchen. Sofia hatte also zusammen mit ihrem neuen Begleiter versucht, Emilio umzubringen. Doch der Erzähler besucht die schizophren wirkende Sofia erneut, die in einer merkwürdig leeren, auch von Büchern befreiten, Wohnung lebt. Sie schlafen wieder miteinander, aber Sofia fühlt sich „eiskalt wie eine Tote” (S. 167) an. Ein Raum in der Wohnung ist verschlossen. Auf die Frage nach dem Verbleib ihres Begleiters antwortet Sofia mit einem vollkommenen Lächeln. Die beiden ziehen sich an und gehen in eine Pizzeria essen.

Bolaño erzählt wie immer spielerisch, Realität und  subjektive Erzählebene fließen ineinander über. Einen Text lesen heißt, in ihm zu träumen, aber auch gelegentlich aufzuwachen. Liegt der Begleiter tot in dem verschlossenen Raum, die scheinbare Schlusspointe der Erzählung? Warum sind die Frauen bei Bolaño alle psychisch zumindest labil? Warum erfährt der Leser wenig über die Promiskuität oder Nichtpromiskuität des Erzählers?