Aléa und Teresa saßen gemütlich beim Tee im Grünen. Aléa war müde infolge der langen Fahrt von Berlin nach Marbach, mehr als sechs Stunden. Sie lehnte sich im Sessel zurück, döste zuerst, fiel dann aber schnell in Schlaf und begann nach kurzer Zeit zu träumen. Teresa räumte den Tisch ab und holte eine Decke aus dem Haus.
„Rainbows wept color all over the streets
When you went away maybe one day we´ll meet“
Sie träumte von Farben weinenden Regenbögen und das die Liebe nicht nur blind machte, sondern dass man sie auch nur blind fand. Sie sah sich durch die Straßen von Paris laufen, alles war schemenhaft um sie herum. Da spielte alte Chanson Musik, dann wieder das Rauschen des Verkehrs oder rauschte das dunkle Wasser der Seine?
„So, also hierher kamen die Leute um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.“
Das hatte Rainer vor langer Zeit hier in Paris geschrieben und fast zur gleichen Zeit schrieb ein anderer auch an diesem Ort:
„Longtemps je me suis couché de bonne heure.“
Aber davon träumte sie jetzt gar nicht, sie wollte Julio besuchen und ihn fragen, ob er ihr nicht die Figur der Maga ausleihen könnte. Das Geschriebene ähnelte den Träumen, beides war immer figurativ, symbolhaft, ein Zeichen. Sie schwebte durch Paris wie in einem alten Filmstreifen, Pont Neuf, Quartier Latin, Rue de Varennes, Rue Vaneau, Rue du Cherche-Midi und die Rue de la Tombe Issoire (wen hatte man denn hier begraben), hier musste er wohnen.
Es war immer noch bezaubernd im Quartier Latin, nur die kästchenartigen Kreidezeichen auf dem Pflaster gab es nicht mehr. Auch keine „jeunes filles en fleurs“ die darin herum hüpften. Sie saßen vor den Cafés und schickten ihren Freunden SMS auf so bunte, metallene, handgroße Gegenstände mit Tasten, auf denen sie ständig herumzudrücken schienen. SMS, SOS, ein Boot auf einem See in Brandenburg, das kalte Wasser, wenn nur Melusine, der Meerfrau nichts passiert. Aber ich will doch zu Julio, was hat das denn jetzt mit Theodor zu tun? Reise ich etwa wie Xavier de Maistre um mein Zimmer, kreise um mich selbst, wo bin ich?
„In einem Treppenhaus in Paris, Gnädigste,“ Ulrich tippte ihr auf die Schulter, „ich werde sie bei Ihrem Besuch begleiten.“
Sie sah das verschwommene Treppenhaus mit dem schmiedeeisernen Geländer hinunter und fühlte sich wie in Vertigo. Plötzlich standen sie vor einer strahlend weißen Tür, auf dem Klingelschild stand H. Oliveira. Ein dunkelhaariger Mann, volles Haar, schlank, markantes Gesicht, öffnete ihnen.
„Ach, sie sind es, weitgereiste Gäste, bin ich übrigens auch, wie sie sicher wissen. Ich erinnere mich, die zwei Interviews, schön dass sie gleich zusammen kommen. – Herr, äh…, äh… aus Wien und Frau … aus Berlin. Asseyez-vous sur le divan.“
„Auf dem Schild draußen steht H. Oliveira, eigentlich hatte ich einen Termin bei Julio!“
„Chère mademoiselle, Sie fallen gleich mit der Tür ins Haus. Das ist so, als ob Sie Ihren Begleiter nach Robert fragen würden. Ich weiß Sie bemühen sich sehr um den Begriff der Identität, aber wo wir drei jetzt sind, spielen Identitäten fast keine Rolle mehr. Da sind wir alle nur Schatten und Licht zugleich, veränderliche Figuren.“
„Aber wenn alles so veränderbar ist, alles nur ein Zeichen, wo bleibt denn da die Realität?“
„Sehen sie, Julio, Robert, Theodor, meine Jungs vom Schlangenclub, die diskutieren so hitzig über Ideen, Bücher, Malerei, Kunst und Philosophie. Später werden sie begreifen, dass beinahe alles nur einen Sinn hat, den Sinn, Möglichkeit zu sein, fragen sie Ulrich, er wird es Ihnen bestätigen. Alle suchen wir etwas, alle wollen wir in den Himmel und viele begreifen nicht einmal, wenn sie für Augenblicke dort sind.“
Ulrich wurde neben Aléa etwas unruhig und fragte, ob er telefonieren dürfte, er müsse sich in Wien nach dem Stand der Parallelaktion erkundigen.
Plötzlich war da das Klappern von Geschirr und Aléa öffnete verstört gähnend die Augen, ein letzter Satz von (J)oliveira hing ihr gerade noch im Ohr:
„Nicht einmal in unserer Phantasie können wir vor uns selbst davonlaufen.“
Dann hörte sie Teresas Stimme: „Lass uns hineingehen, es wird kühl. Möchtest du vielleicht einen Likör zur Stärkung?“
(Literarische Begegnungen der dritten Art. 4)