Der Buecherblogger

Roberto Bolaño: Lumpenroman V

Leseeindrücke Kapitel 4

Bolaño versetzt sich gekonnt beim Erzählen in der Ich-Form in seine jeweiligen Protagonisten hinein. Auffällig ist beim „Lumpen(roman)“, dass auch hier eine weibliche Figur genommen wird, wie in „Amuleto“. In „Stern in der Ferne“, einem früheren Werk, war es noch Arturo B., ein dem Autor selbst ähnelnder Erzähler. Im „Chilenischen Nachtstück“ war es Sebastiàn Urrutia Lacroix, ein chilenischer Geistlicher, der erzählte. Hier ist es nun eine noch sehr junge Frau Bianca, die zur Erzählerin wird. Den Namen mag man mit Unschuld und Reinheit assoziieren, die sie im Verlauf der Geschichte zwar immer mehr verliert, sich aber auch ihre inneren Werte zu bewahren weiß. Als beschmutzte Hure will sie jedenfalls nicht gesehen werden und bis zum Schluss wird sie auch einen engelhaften inneren Kern ihrer Persönlichkeit aufrechterhalten.
Interessant erscheint mir, dass der Blick, also die Erzählperspektive des jeweiligen Ich-Erzählers konsequent den ganzen Text durchgehalten wird. Meist erzählen sie auch rückblickend und natürlich immer aus ihrer subjektiven Sicht. Seinen beiden großen Romanen spendierte Bolaño einen anderen Blickwinkel. In den „Wilden Detektiven“ sind es zwar auch Ich-Erzähler, aber sehr viele unterschiedliche, also eine Multiperspektive. In „2666“ herrscht eine eher auktoriale Erzählsituation. Worauf ich hinaus will? Die langen Werke lassen keine durchgehende Ich-Erzählhaltung zu, während die kürzeren Novellen immer einen festen Ich-Protagonisten haben. Das heißt, die in Ich-Form erzählten Werke waren von Anfang an immer als kleinere Werke, Erzählungen oder Novellen geplant. Die Erzählhaltung ergibt sich also schon aus der anfänglichen Intention des Autors, beim Ich-Erzählen ist die Kürze vorprogrammiert.
Der Ich-Erzählform haftet auch immer etwas Bekenntnishaftes an, siehe „Chilenisches Nachtstück“, siehe Auxilio Lacouture in „Amuleto“. Auch im „Lumpen(roman)“ wird in Form einer zurückblickenden Beichte, wie bei Biancas Blick in den Spiegel, quasi vor und von sich selbst erzählt. Bianca ist zum Zeitpunkt ihres Erzählens Mutter und vermutlich sogar familiär gebunden. Ihre jugendliche Vergangenheit muss sie vielleicht auch vor sich selbst rechtfertigen, weil das, was in diesem Kapitel beginnt, ihre sexuellen Erfahrungen, als Resultat auch eine Schwangerschaft nach sich ziehen konnte. Vielleicht ist das Kind in der Jetztzeit der Erzählerin doch eine Folge ihrer beginnenden sexuellen Eskapaden.
Der Inhalt dieses Kapitels ist schnell erzählt. Die beiden Gäste des Bruders sind für einige Zeit zu einem Bodybuilder-Wettbewerb nach Mailand gereist und Bianca erzählt davon, dass sie erst eine kurze Teenager Liebe hatte, die sich schnell wieder verlief. Als die „Blutsbrüder“ erfolglos von ihrem Wettbewerb zurückkommen, beginnt sie mit beiden regelmäßig zu schlafen und macht Andeutungen, dass sie manchmal nicht weiß, welcher von beiden ihr in der Nacht beigewohnt hat. Einen Absatz, der sowohl von einer unterschwelligen Schuld, aber auch von dem Gefühl der Leere in ihrem Liebesleben und überhaupt im Leben handelt, möchte ich gern zitieren:

„Zu meiner Entlastung kann ich sagen, falls es etwas zu sagen gäbe, falls der Begriff Entlastung angemessen wäre (was er nicht ist), dass ich keine Sekunde lang dachte, ich würde mich verlieben. Ich sah Negative von Liebesszenen. Sah Negative von leidenschaftlichen Erlebnissen, für die eine Fernsehserie Pate stand oder schon vergessenes Getuschel kleiner Mädchen. Manchmal sah ich ein ganzes Leben als Negativ: ein größeres Haus in einem anderen Viertel, Kinder, eine bessere Arbeit, Jahre, das Alter, einen Enkel, den Tod in einem staatlichen Krankenhaus oder mich selbst unter einem Laken, im Bett meiner Eltern, das ich gern ächzen gehört hätte, ächzen wie einen sinkenden Ozeanriesen, das aber stumm war wie ein Sarg.“ 

Es ist ein typisches Beispiel, wie Bolaño in der Ich-Form einer Figur eigene Gedanken mit einfließen lässt, aber nicht so als ob sie nicht Teil des Gedankenflusses dieser fiktiven Person sein könnten oder sie etwa stören würden. Er selbst wird Teil dieser Figur, „Tod in einem staatlichen Krankenhaus oder mich selbst unter einem Laken“, beschreibt er damit nicht auch seine eigene mögliche Zukunft? Schuld ist ein zentrales Motiv bei Bolaño, das man auch gern zum Anlass nimmt, ihn unterschwellig religiös christlich zu interpretieren, ich sehe ihn mehr in der Nähe des Existenzialismus, in dem auch der Liebe immer ein Zweifel anhaftet, es aber um die Freiheit des Individuums geht. Könnte dieser Absatz nicht ein Rückblick auf sein eigenes Leben sein? Das surrealistisch anmutende Bild eines Bettes als „stummen Ozeanriesen und Sarg“, wessen Sterbebett ist das eigentlich? Am Ende wieder ein lapidarer Satz, nachdem Bianca beschlossen hat, dass sie sich nicht mehr fast jede Nacht von einem der Männer besteigen lassen will:

„Wider Erwarten ging das Leben unverändert weiter.“

Zur Klärung für die wenigen, die dies lesen sollten, ich schreibe Leseeindrücke, keine Rezensionen und die Wiedergabe des Inhalts oder gute umfassende Rezensionen gibt es schon an anderer Stelle. Dies sind nur meine eigenen bescheidenen Gedanken an einem weiteren bescheidenen Morgen meines Lebens. Ein paar Links auf andere Besprechungen möchte ich deshalb noch dazugeben:

Bernd Berke auf westropolis.de
Thorsten Wiesmann auf implizit.blogspot.com
Andreas Breitenstein in der NZZ
Adam Soboczynski in der ZEIT
Christopher Schmidt in der SZ
Heike Geilen auf sandammeer.at
Leserunde auf wilde-leser.de