“In Search of Lost Time” or “Remembrance of Things Past”
![]() Paul Cézanne “Gardanne” |
![]() Annette in Ravenna |
Erinnerungen haben natürlich nur einen persönlichen Wert, Sie kennen das. Aber diesen Brief, den ich vor 32 Jahren von einer Freundin erhielt, in die ich vergeblich schrecklich verliebt war, beschreibt ein Lebensgefühl der damaligen Zeit und ist darüber hinaus sehr interessant, weil er aus einem kurzen Studienaufenthalt in Frankreich stammt. Betroffen sitzt man mit dem Brief in der Hand da und sieht sich wieder mit Anfang zwanzig an Baggerseen baden, hört Keith Jarretts “Köln Concert”, während man zu einer Anti-AKW-Demo fährt und spielt wieder auf einem Klavier, das vorübergehend im Keller stand, obwohl man gar kein Klavier spielen konnte. In der Weihnachtszeit ergreift uns die sentimentale Nostalgie. Inspiriert durch “Punk Pygmalion” veröffentliche ich hier einen ganz privaten Brief. Ich glaube, die Briefschreiberin mit dem Afrolook der Siebziger würde es mir nicht übel nehmen. Wir kannten uns nur vor mehr als dreißig Jahren und haben uns nie wieder gesehen.
Lieber Dietmar, 4, rue de Félibres, 13100 Aix-en-Provence, 27-10-1978
ich weiß nicht warum, aber in der letzten Zeit musste ich des öfteren an dich denken. Wie du da lebst in S., inzwischen vielleicht allein oder mit mehreren Leuten ein bisschen Musik machst, liest, spazieren gehst, vielleicht immer noch viel allein bist, dich mit dir selbst beschäftigst. Möglicherweise ist es gerade das, was mich an dich erinnert, denn seit ich hier in Aix bin – seit guten zwei Wochen – beschäftige ich mich auch mehr mit mir selbst. Ich lese viel, schreibe, gehe spazieren, das Wetter ist noch sehr gut. Ich wohne mit 3 Französinnen zusammen, in deren Zimmer ich gerne Musik höre, ich selber habe ja kaum etwas mitgebracht. Das erspart mir Umzugsschwierigkeiten. Ich kenne hier nur wenig Leute mit denen ich gerne zusammen bin, zu den mehr oberflächlichen Bekanntschaften, die man hier recht schnell schließen kann, habe ich keine Lust. Inzwischen habe ich mich etwas eingelebt, aber ich mag mich nach wie vor nicht festlegen, wie lange ich hier bleiben werde.
Die Uni fängt erst nächste Woche an, im Augenblick ist Streik. Etwas Sport werde ich auch mitmachen, es ist eigentlich mehr Bewegung als richtiger Sport. Danse et créativité”, “ Danse moderne et Jazz” und vielleicht “Education corporelle” (eine Art Gymnastik mit Schwerpunkt Körperbewusstsein) . Die Gegend hier ist sehr schön, sie lädt regelrecht zu Ausflügen ein. Mir graut schon davor, wenn das Wetter kühl und ungemütlich wird, ich bin so gerne in der Sonne draußen. Es macht auch Spaß, durch den Ort zu gehen. Aix ist wirklich hübsch, ziemlich alt mit vielen Gassen, Plätzen, Cafés, Bäumen.
“Ich denke des öfteren an Freunde von mir in Deutschland, ich glaube ich bin an einem Punkt, wo ich Lust habe, mit einigen etwas Festeres anzufangen. Ich weiß, dass sich das aus der Ferne leicht sagen lässt, zumal die Möglichkeit dazu auch recht gering ist, wenn ich in Deutschland bin, da diejenigen, die mir augenblicklich wichtig sind, in ganz verschiedenen Städten wohnen. Ich weiß auch noch nicht so recht, wo ich hingehe, wenn ich wiederkomme, es zieht mich mehr nach Süddeutschland. Es hängt halt davon ab, was ich machen will (falls ich mich jemals wirklich entscheiden kann), wo ich das machen kann und ob ich das dann noch damit vereinbaren kann, in der Nähe von Freunden zu wohnen.
Weißt du, der Besuch damals bei dir hat mir sehr gut gefallen. Du hattest dich verändert, warst irgendwie sicherer geworden. Ich hatte schon geahnt, dass du nicht mehr kommen wirst, obwohl, sicher war ich mir nicht. Was ist mit Andrea und dir? Ich würde jetzt gerne mit dir zusammensitzen, Tee trinken und erzählen.
Das Gedicht (oder wie man´s nennen mag) hat Anne aus der Schule mitgebracht. Ein paar Psychologen haben das für irgendeinen Unterricht ausgearbeitet. Ich find´s stark. [ aus: Ronald D. Laing: Knoten, ein Buch über zwischenmenschliche Kommunikation]
Maman m’ aime parce qu’ elle est bonne
Je suis mauvais de croire qu’ elle est mauvaise
donc je suis bon elle est bonne
et elle m’ aime parce que je suis bon
de savoir qu’ elle est bonne
Je suis mauvais de douter qu’ elle me punit
parce que je doute elle m’ aime en me punissant de douter qu’ elle m’ aime
Elle dit que ce doit être sa faute si je doute qu’ elle m’ aime
Elle sent mal parce que je ne crois pas qu’ elle m’ aime
parce qu’ elle se sent mal quand je ne crois pas qu’ elle m’ aime
Elle a l’ impression que c’ est sa faute
si je suis assez cruel pour douter qu’ elle m’ aime
quand elle me fait me sentir cruel
en pensant qu’ elle essaie de me faire me sentir cruel
Falls du mal Lust bekommen solltest, mir zu schreiben, meine Adresse ist:
Annette D. chez G. A. R.
4, rue de Félibres
13100 Aix-en-Provence
Ich werde jetzt aufhören zu schreiben und lieber in die Sonne gehen.
Hoffentlich braucht der Brief nicht zu lange, die Post streikt hier so halbwegs.
Sei ganz lieb gegrüßt,
Annette
PS Genieß deine Einsamkeit, aber verlier’ dich nicht darin.
Es freut mich, dass Sie inspiriert wurden, in Ihren eigenen Schuhkartons (oder wo horten Sie die Vergangenheit) zu wühlen. Ein schöner Brief, der ein Lebensgefühl ausdrückt, das ich kenne. Und wiederum bei mir Erinnerungen auslöst an die Provence und einen heißen Sommer Anfang der 80er Jahre. Herzliche Grüße und schöne Weichnachtstage.
Melusine
Liebe Melusine,
mit meiner Frau habe ich schon etwas Ärger bekommen ob meines brieflichen Exhibitionismus. „Du und deine Verflossenen, irgenwann schreibst du noch über deine Badewannenente oder deine erste Sandkastenfreundschaft.“ Um so mehr freut es mich, dass ich bei Ihnen da auf Wiedererkennung und Verständnis stoße. Besser wäre es natürlich, wenn ich daraus einen fiktiven „Briefroman“ basteln würde, wie Sie es versuchen.
Also ein Schuhkarton ist es nicht, aber sowas Ähnliches. Die Fotos lagern , wenn sie nicht in Alben stecken, in einer Holzkiste und meine Postkarten und Briefe, sowie allerlei eigene schriftliche Aufzeichnungen verwahre ich in schlichten Papiermappen oder Ordnern. Da bleiben sie auch und ich werde natürlich nicht mein ganzes Privatleben hier im Blog ausschütten. Das Privates nicht unbedingt interessant sein muss, zu dieser Selbsterkenntnis bin ich noch fähig. Aber gerade dieser Brief bedeutet mir etwas Besonderes und Besonderes sollte man teilen dürfen.
Herzlichen Gruß und ebenfalls Glück und Gesundheit im Neuen Jahr, ach, und natürlich das, was genauso wichtig ist wie die Gesundheit: Liebe.
Der Buecherblogger