Ulrich hatte im Dachzimmer seiner Berliner Mietwohnung gestanden und einen Blick auf das Gerät geworfen, mit dem man im 21. Jahrhundert durch miteinander verbundene Kabel in Bild und Text mittlerweile selbstverständlich kommunizierte. Briefe hatten sich lediglich in der Geschäftswelt einigermaßen erhalten. Der Raum, der gedanklich zur Verfügung stand, hatte sich ebenfalls globalisiert, schien ins Unendliche zu wachsen. Nur die Gedanken selbst waren nichts als kleine glitzernde Schneeflocken, die im Augenblick, wo sie den Boden berührten, ihre Existenz schon wieder aufgaben. Er sah nachdenklich über den Schreibtisch hinweg aus dem Fenster, wo lange Eiszapfen erstaunlich groß von der Dachrinne herunter hingen. Diese flüchtige Welt des bunten Bildschirms stellte virtuelle Verbindungen her. Die junge Frau, die er im Zug getroffen hatte, mit der er sogar in Paris einen kurzen Besuch bei einem Julio oder Oliveira gemacht hatte, der “Vom anderen Ufer” schrieb, würde auch bald ihren ersten Roman veröffentlichen. Sie sehnte sich immer noch nach einem klugen, “mittelschönen” Mann und er wünschte ihr Erfolg mit dem Buch und bei ihrer Suche. In einem Zugabteil hätte es ja beinahe schon mit gleich zwei Aspiranten geklappt. Aber solange der “Idealgigolo” noch nicht gefunden war, galt das rumänische Sprichwort: “Daca n’ai ce-ti place, sa-ti placa ce ai” – Wenn du nicht das hast, was du möchtest, solltest du das mögen, was du hast. In der Literatur hatten schon viele junge Männer in Zügen gesessen. Nicht nur sein Zeitgenosse Hans Castorp war zur Kur in die Berge gereist, Jahre später war ein anderer junger Mann einsam in einem Abteil zu einer Insel "auf der anderen Seite der Welt" unterwegs. Mit der "anderen Seite” musste es in der Literatur eine besondere Bewandtnis haben. Fast zur gleichen Zeit wie sein Erfinder Robert ihn seine Abenteuer bestehen ließ, hatte ein anderer Künstler, Alfred Kubin, einen Roman “Die andere Seite” geschrieben. Literatur will immer hinüber, über etwas hinaus und ist doch etwas, das auch immer nicht über sich hinauskommt. Das war nur scheinbar ein Widerspruch, denn die Wirklichkeit war selbst schon ein gespiegeltes Zeichen. Ohne Wahrnehmung war sie nicht erfahrbar und alles zeigte immer auch auf anderes und gleichzeitig auf sich selbst zurück.
Alles war vergänglich, schmolz wie Schnee.
(Literarische Begegnungen der dritten Art. 7)