Dinge, die man angefangen hat, sollte man versuchen auch zu ende zu führen. Also geht es weiter mit dem Rückblick auf meine Kommentierung des sechsten Kapitels von Amuleto. Im Klappentext steht:
“Dies ist die Geschichte einer mutigen, durchgedrehten Frau. Aber auch die Geschichte jener Studenten, die nach 1968 in Mexikos Hauptstadt im Kugelhagel der Armee ihr tragisches Ende fanden… Dem Freiheitskampf in Südamerika setzt Roberto Bolaño mit “Amuleto” ein ergreifendes Denkmal:
War auch die Rede vom Krieg in diesem Lied, von den heldenhaften Abenteuern junger, geopferter Lateinamerikaner, so wusste ich doch: Es sang vor allem von der Tapferkeit, der Sehnsucht, der Freude: Dieser Gesang ist unser Amulett.”
Da ich mich gerade mit deutsch-rumänischer Poesie beschäftige noch der Hinweis, dass Bolaño dieses Buch dem Lyriker und Mitbegründer der infrarealistischen Bewegung Mario Santiago Papasquiaro (Mexiko DF,1953-1998) widmete. Das unterstreicht den Stellenwert von Gedichten allgemein. Ich glaube, ohne seine eigenen Gedichte, wäre Roberto Bolaño nicht so ein guter Erzähler geworden.
Mein erster Eindruck war: hier schreibt Bolaño seine ganz eigene Sicht der lateinamerikanischen Literaturgeschichte, ordnet sich selbst als junger Autor der viszeral- bzw. infrarealistischen Generation der siebziger Jahre ironisch in den Gesamtzusammenhang der Rebellion gegen die als „Macondo-1)Generation“ zu bezeichnenden Schriftsteller ein. Marquez, Pacheco, Huerta, Paz, alles Schriftsteller einer Vätergeneration, denen nicht nur die Idealisierung eines Lateinamerika-Pseudobildes für Amerikaner und Europäer, sondern auch teilweise politischer Opportunismus vorgeworfen wird. Sich selbst als Arturo Belano dort einzuordnen, auch in die politische Geschichte der mexikanischen Geschehnisse des Jahres 1968 einzuordnen, birgt die Gefahr des Pathos, des `Als-ob-ich-schon-tot-sei-Schreibens´, des `sich-selbst-fiktiv-zu-einer-Instanz-werden-Lassens´. Bolaño aber besitzt genug Selbstironie, Abstand und Humor, um hier nicht unbescheiden zu erscheinen. Sein eigener Boom heute gibt ihm in seiner Abgrenzung posthum auch irgendwie Recht.
Dass eine poetische Schicksalsgöttin ihre schützende Hand über ihn hielt, als er 1973 in Chile inhaftiert wurde, spiegelt sich in der Hauptfigur Auxilio Socorro Amparo Caridad Remedios Lacouture. Sie wird so zu einer Art musischen Göttin der lateinamerikanischen Literaturgeschichte stilisiert (vgl. die gesuchte Dichterin Cesárea in “Die wilden Detektive”), die deshalb auch als quasi heiliges Merkmal nicht ohne Grund „aus der katholischen Lehre abgeleitete Vornamen“ trägt. Sie scheinen mir nicht nur diesen, sondern auch einen biographisch-poetischen Bezug zu haben. Das kleine „s“ am Ende von Remedios reizte mich, in den Vornamen auch mexikanische Dichterinnen und Künstlerinnen zu suchen. (S. 63) Leider ist meine Kenntnis von lateinamerikanischen Künstlerinnen mehr als dürftig, sodass ich nur um kompetenteren Beistand bitten kann. Mein dürftiges Dechiffrier-Ergebnis:
Auxilio = Alcira Soust Scaffo, Socorro = Gabriela Mistral, Amparo = Maria Amparo Ruiz de Burton ?, Caridad = ???, Remedios = Remedios Varo.
Bedroht fühlt sich dieses weibliche Konglomerat aus Künstlernamen durch die Gewalt der realen lateinamerikanischen Geschichte und leidet in ihrem “blutenden Zugabteil” der Universitätstoilette unter delirierenden Albträumen. In der erzählten „Binnengeschichte“ von Arturos Reise nach Chile und seiner ersehnten Rückkehr legt seine leibliche Mutter Karten, aus Angst um sein Schicksal, und Auxilio, als eine ganz weltliche Mutter der Poesie, kocht ihr Kaffee, bevor sie unaufdringlich in „die ewigen Kneipen“ der Hauptstadt verschwindet. Beide sind in Sorge um ihren Arturito.
1) Macondo ist das mythische Urwalddorf aus Gabriel Garcia Marquez´ Roman “Hundert Jahre Einsamkeit”, der das populärste Hauptwerk des lateinamerikanischen “Boom” repräsentiert. .