Roberto Bolaños “Amuleto”. Der dritte Mann(Capítulo 9)
Gemälde eines Tales von Leonora Carrington
In ihren Fieberträumen halluziniert Auxilio von einem fiktiven Besuch bei der in Spanien gebürtigen und in Mexiko lebenden surrealistischen Malerin Remedios Varo, die bereits 1963 im Alter von 55 Jahren gestorben ist (vgl. die ebenfalls imaginierten unmöglichen Dichterbegegnungen in Kap. 7). Die drei Zigaretten in einem Aschenbecher sollen absurderweise darauf hinweisen, dass außer Auxilio und Remedios noch eine dritte Person im Haus ist. Vielleicht könnte es ihre Freundin Leonora Carrington sein oder auch nur eine der vielen Katzen auf ihren Bildern, aber Katzen rauchen bekanntlich nicht.
“Remedios Varo sieht mir ins Gesicht und lächelt. Ich bin allein, verkündet sie. Ich erzähle, wie sehr ich sie bewundere, rede von den französischen Surrealisten, den katalanischen Surrealisten, dem Spanischen Bürgerkrieg, Benjamin Péret erwähne ich nicht, denn die beiden haben sich 1942 getrennt, und ich weiß nicht, was für Erinnerungen sie an ihn hat, aber von Paris rede ich schon, vom Exil, ihrer Ankunft in Mexiko, ihrer Freundschaft mit Leonora Carrington, und da merke ich doch plötzlich, daß ich ja Remedios Varo von ihrem eigenen Leben erzähle…”
Vermutlich wäre diese dritte Person jedoch eher der Tod, denn die Todesnähe ist es, die alle drei miteinander verbindet: Auxilio, Remedios und Arturo (Belano und Bolaño). Remedios hat nur noch ein Jahr zu leben, heißt es. Bolaño weiß von seiner schweren Lebererkrankung und möglicherweise von dem Rest an Zeit, der ihm zum Schreiben bleibt. Zu weiteren Sinnbildern des Todes werden hier eine schwarze Katze und der „Mann aus Eis“, der mich an den Schneemann aus „2666“ erinnert. Auch die feministische Dichterin Juana de Ibarbourou lässt mich an Juana Inés de la Cruz denken. Was sollen wir bloß vom letzten Kuss auf die Wange Remedios halten, „die linke“? Bolaño benutzt die Verwirrtheit Auxilios, um auch bei der Dauer ihres Ausharrens auf der Toilette ungenau bleiben zu können. Von zwei Wochen ist die Rede, was 14 Tagen und den 14 Kapiteln des Romans entspräche, aber zwischen dem erwähnten 18. – 30 September sind es nur 13 Tage. Real sollen es, falls es diesen Vorfall tatsächlich gegeben haben sollte, nur 8 Tage gewesen sein. So wie man drei Zigaretten natürlich auch hintereinander rauchen kann, ist Poesie anscheinend wie die Zeit dehnbar. Der dritte Mann in meiner Überschrift ist natürlich nur eine Anspielung auf den bekannten Film mit Orson Welles, obwohl der Tod doch auch weiblich sein könnte, auf eine tödliche Art verführerisch und süß. Lesen eigentlich mehr Männer, „kleine lateinamerikanische Machos“ (S. 67) Bolaño? Wo doch gerade hier die Geschichte einer Frau erzählt wird und das Ganze auch eine Hommage an die Kunst und den Feminismus ist?
Das Gemälde eines Tales, das Auxilio im Haus von Remedios Varo bei ihrem Besuch entdeckt, nimmt das Szenario vom Ende des Buches vorweg. Das Tal, in dem ein Teil der lateinamerikanischen Jugend im Abgrund der Diktaturen verschwindet und von denen nur ein Lied als Zeichen der Erinnerung bleibt, das Amulett.
“… und ich sehe ein gewaltiges Tal, ein Tal wie vom höchsten aller Berge aus gesehen, ein bräunlich grünes Tal, und schon allein der Anblick der Landschaft läßt mich schaudern, denn ich weiß, so wie es sicher ist, daß sich eine zweite Person im Haus befindet, daß es sich bei dem, was die Malerin mir da zeigt, um ein Präambulum handelt, ein Bühnenbild, vor dem sich eine Szene abspielen wird, in der mich ein Feuermal treffen wird, oder nein, kein Feuermal, in diesem Moment kann mir nichts Feuriges mehr etwas anhaben, was ich sehe, ähnelt eher einem Mann aus Eis, einem Mann, aus Eiswürfeln zusammengesetzt, der sich nähern wird und einen Kuß auf meinen Mund, meinen zahnlosen Mund drücken wird, und ich werde sie spüren, jene Lippen aus Eis auf meinen Lippen, ich werde seine eisigen grünen Augen sehen, Zentimeter vor meinen eigenen Augen, und dann werde ich leblos umsinken…”
Leonora Carrington Remedios Varo