Ulrich und die sprechenden Bücher
Das Schaufenster der Buchhandlung Anakoluth, in dem Ulrich seine Entdeckungen machte
Was Sie wahrscheinlich nicht wissen können, ich hieß nicht von Anfang an Ulrich, zuerst hatte ich den griechischen Namen Achilles. Das evoziert männlich breite Schultern, eine stattliche Erscheinung oder Statur und doch Verletzlichkeit. Meine Souveränität soll etwas ausstrahlen, was Frauen anziehend finden und gleichzeitig die Gefahr mindert, dass diese wie zum Beispiel eine Agathe, Diotima oder diese Zufallsbekanntschaft Aléa zu einer Obsession werden. Frauen sollte man nie das Gefühl geben, als ob man ohne sie nicht existieren könnte. Dass ich quasi durch den Griff einer Frau ins Bücheregal einer Bibliothek überhaupt zum Leben erwachte, ein Ausleihvorgang, ist ein literarischer Geburtsfehler. Mittlerweile kann sie ihr Exemplar ruhig zurückgeben, ich habe längst ein buchunabhängiges Leben. Ich komme in Träumen vor, das ist mir das wichtigste, in denen vieler Menschen und sogar in meinen eigenen. Von Gnaden eines Buches oder den Launen einer Frau zu existieren hat etwas Demütigendes, es kommt mir erniedrigend und herabsetzend vor. Ein Mann mag viele oder wenige Eigenschaften besitzen, manchmal sogar ganz ohne auskommen, aber die Unabhängigkeit, zumal eine geistige, sollte sein unveräußerliches Gut sein. Was hat mich eigentlich nach Berlin verschlagen? Ich sollte doch wissen, dass ich besser in Wien aufgehoben wäre. Sind Städte denn überhaupt mehr als eine Ansammlung von Menschen und Steinen?
Als sich Ulrich wieder der Schönhauser Allee näherte, brodelte das Blech der Autokarawanen und die Geschäftigkeit der S- und U-Bahnstation um ihn herum, wie er es sich vor hundert Jahren nie hätte vorstellen können. Als wären die Menschen in einer ständigen Bewegung auf der Flucht vor sich selbst. Ulrich spazierte wie ein Flaneur die Schönhauser Straße entlang und fühlte sich als Passant in dem hektischen Gedränge der Menge. Er musste erneut an Baudelaire und sein berühmtes Gedicht denken, an Bücher überhaupt, war er nicht selbst ein Geist aus einem Buch, dem man etwas Leben eingehaucht hatte? In der Flut der Schaufenster blieb sein Blick plötzlich an einer Buchhandlung hängen. Die Sonne schien und warf milde Schatten unter die beiden großen Fenster voller Bücher über denen der Schriftzug “Buchhandlung Anakoluth” und eine Hausnummer 124 prangte. Vor dem rechten dieser Fenster stand eine kleine Holzbank neben einem Büchertisch aus dem gleichen Material. Zuerst wollte er aber einen Blick auf die liebevoll arrangierten Neuheiten werfen. In Plastikfolien verschweißt, was ihm unpassend vorkam, Bücher brauchten Luft zum Atmen wie er auch, wanderten seine Augen über die ihm unbekannten Autorennamen und Titel. Was sich wohl Spannendes hinter diesen Hieroglyphen auf den Deckeln verbarg. Fast unaussprechliche Autorennamen wie Mircea Cărtărescu und ein kurzer Titel “Der Körper” erregten seine Aufmerksamkeit oder ein dicker Band mit dem Titel “Tante Julia und der Schreibkünstler” eines Mario Vargas Llosa. Immer noch schrieb man also diese dicken Wälzer, immer noch gab es Wahnsinnige wie seinen Robert, die ganze Welten in Druckerschwärze pressten und daneben andere, die sich über “Die Kunst des Erzählens” ausließen. Vielleicht waren die Bücher lebendiger als er, konnten sprechen und sich unterhalten. Er suchte sein Spiegelbild in der Scheibe und fand nur einen verschwommenen Himmel und eine nicht scharf umrissene Wolke voller vorbeieilender Menschen darin, sein eigenes Bild sah er nicht. War er eine Phantasmagorie, war die Welt eine Illusion? Dann konnte man ihr nur mit einem weiteren Phantasma Paroli bieten.
Er setzte sich auf die kleine Bank und versank in Gedanken. Zu ihm sprachen die Bücher schon lange nicht mehr nur wenn er sie aufschlug. Er war schließlich selbst Bestandteil eines solchen und das stattete ihn mit geradezu die Zeit und den Tod übergreifenden Fähigkeiten aus. Es war, als ob die Schöpfer der Literatur ihm auf dem Schoß saßen, wann immer er wollte. So empfand er es im Moment, als säße er und die Autoren der Schaufensterbände an einem Tisch wie bei einem Literatentreff zu seiner Zeit im alten Wiener Café Central. Aber er kannte diese Schriftsteller gar nicht und vermutlich hätten sie sich ebenso wenig zu sagen wie Proust und Joyce, die sich zufällig trafen. Auch in der Bücherwelt existierten nur zitathafte Bruchstücke, die Welt war ein zerbrochener Spiegel. Sein Erfinder hatte seinen jetzigen Zustand in dem Fragment, dem er entsprang, als “dieser geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und Gefühl, Innen und Außen auf das Unbestimmteste ineinander stürzen” beschrieben. Ja, die Welt in uns und die Welt da draußen, das ist schon schwer miteinander in Einklang zu bringen, dachte Ulrich. Je mehr man glaubt zu wissen und erlebt zu haben, desto weiter entfernen sie sich voneinander. Mir bleibt die Sehnsucht, die Suche nach einer verwandten Seele, ach Agathe.”
Auf dem kleinen Tisch neben ihm erregte noch ein grell orangefarbener Band seine Aufmerksamkeit. Er suchte einen Titel, fand aber nur eine merkwürdige Zahl mit der Quersumme zwanzig: “2666”. Sollte das etwa der Titel sein? Falls eine Jahreszahl gemeint war, stellte er sich die Frage, ob die Menschen der Zukunft überhaupt noch solche Bücher lasen, geschweige denn das, in dem er selbst vorkam. Der Name des Autors klang spanisch oder lateinamerikanisch: Bolaño. Vor hundert Jahren gab es von diesen Ländern mehr Reiseberichte als Romane und Roman stand eindeutig auf dem Buchdeckel. Die Welt schien größer geworden zu sein. Er sah sie plötzlich alle auf einer Bank Platz nehmen wie Halluzinationen aus dem Jenseits.
Roberto Bolaño Robert Musil Mircea Cărtărescu
Sein Robert war mit Hut und Fliege, Sakko und sommerlich hell gekleidet erschienen, dagegen wirkte dieser Bolaño seltsam schwarz, wie ein Ritter von der traurigen Gestalt, aber mit großer Brille und ernstem, wissendem Blick. Der dritte mit den langen, dunklen Haaren schien korrekt in Schal und dickerer Jacke etwas schützen zu wollen, wie der Panzer eines Insekts das sensible Innere vor der Außenwelt. Das musste dieser Cărtărescu sein, vermutlich Rumäne. Nun stell uns schon deine belanglosen Fragen, schienen ihre Gesichter sagen zu wollen. Nun gut, die Geister die ich rief, dachte Ulrich. Er überlegte sich eine einfache Frage an alle, die sie kurz beantworten sollten.
“Warum glauben Sie, dass man schreiben muss?”
Cărtărescu antwortete als erster:
“Kunst und Poesie sammeln sich in einem an wie in einem Schwamm. Irgendwann braucht man nur noch zu drücken, und es fließt. Ich habe dafür keine Erklärung. Es ist eine große Kraft, und ich bin in der Mitte davon. Es ist grösser als ich, es schreibt in mir. Und je grösser das ist, was einen bewegt, desto grösser ist das Werk.”
Bolaño zündete sich eine Zigarette an, räusperte sich und sagte dann ziemlich schnell:
“Literatur, so wie ich sie verstehe, ist ein gefährliches Abenteuer. Sie erfordert einen Mut, dem Nichts ins Auge zu sehen. Aber die Leute sehen, was sie wollen, und was die Leute sehen wollen, entspricht nie der Wirklichkeit. Die Leute sind feige bis zum letzten Atemzug. Ich sage es ihnen im Vertrauen: Von allen Lebewesen ist, grosso modo, der Mensch der Ratte am ähnlichsten.”
Musil seufzte, aber antwortete präzise und deutlich:
“Die Welt des Schreibens und Schreibenmüssens ist voll von großen Worten und Begriffen, die ihre Gegenstände verloren haben. Es fällt den Autoren nichts Neues ein, und sie schreiben einer vom anderen ab.”
Cărtărescu beschwerte sich über die laute Geräuschkulisse der Straße:
“Schlagartig wird mir der entsetzliche Verkehrslärm bewusst, und zugleich die unendliche Einsamkeit und Trübsal des Lebens.”
Ulrich schwindelte es etwas bei diesen Antworten in seinem Kopf und vor seinen Augen, denn trotz seiner einem Achilles ähnelnden stattlichen Figur, kam er sich in der Gesellschaft dieser “Schreibkünstler” seltsam klein vor. Sie schienen eine Größe zu haben, die weit über das Körperliche hinausging. Alles war ein Traum, eine Hauptstadt als verwundbarer Körper, der Möglichkeitsmensch, der “wässrige Rest eines Auges”, alles Erinnerung.
“Ihre Bücher können sprechen,” sagte Ulrich zu der netten Buchhändlerin, die mit besorgtem Gesicht auf ihn zukam. “Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten, sie sehen blass aus?” ignorierte die junge Dame lächelnd seine Feststellung.
”Meinem Körper geht es gut, aber sie haben da einen Band in Ihrem Schaufenster, der den Titel “Der Körper” trägt. Den würde ich gern mitnehmen.”
(Literarische Begegnungen der dritten Art. 10)
Zitate aus Mircea Cărtărescu: “Die Wissenden” und einem Interview, Robert Musil: “Der Mann ohne Eigenschaften”, Roberto Bolaño: “2666”.
Die Reihe “Literarische Begegnungen der dritten Art” gibt es hiermit zum zehnten Mal. Es sind kleine, fiktive erzählende Texte, in denen sich Bücher, Schriftsteller und literarische Blogger begegnen. Die Beiträge sind in der Kategorie “Gipfeltreffen” zusammengefasst und haben eine gewisse innere Chronologie:
1. Gipfeltreffen in England
2. Gipfeltreffen in Berlin
3. Gipfeltreffen in Stuttgart
4. Gipfeltreffen in Paris
5. Gipfeltreffen in Frankfurt
6. Erotisches Gipfeltreffen in Sibiu
7. Gipfeltreffen auf der anderen Seite
8. Teestunde am Prenzlauer Berg
9. Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht
10. Ulrich und die sprechenden Bücher