Zauberei von Anfang an – Die erste Seite des Romans. Eine subjektive Sammlung VII
“Love, Christian, is a warm bearing wave.”
“Wir setzen uns mit Tränen nieder”, sang unser Schülerchor zu Beginn der Gedenkstunde, dann ging Herr Block, unser Direktor, zum bekränzten Podium. Er ging langsam, warf kaum einen Blick in die vollbesetzte Aula; vor Stellas Photo, das auf einem hölzernen Gestell vor dem Podium stand, verhielt er, straffte sich, oder schien sich zu straffen, und verbeugte sich tief.
Wie lange er in dieser Stellung verharrte, vor deinem Photo, Stella, über das ein geripptes schwarzes Band schräg hinlief, ein Trauerband, ein Gedenkband; während er sich verbeugte, suchte ich dein Gesicht, auf dem das gleiche nachsichtige Lächeln lag, das wir, die ältesten Schüler, aus deiner Englischstunde kannten. Dein kurzes schwarzes Haar, das ich gestreichelt, deine hellen Augen, die ich geküßt habe auf dem Strand der Vogelinsel: Ich mußte daran denken, und ich dachte daran, wie du mich ermuntert hast, dein Alter zu erraten. Herr Block sprach zu deinem Photo hinab, er nannte dich liebe, verehrte Stella Petersen, er erwähnte, daß du ein allzeit fröhlicher Mensch gewesen warst: “Wer ihre Schulausflüge mitmachte, schwärmte noch lange von ihren Einfällen, von der Stimmung, die alle Schüler beherrschte, dies Gemeinschaftsgefühl, Lessingianer zu sein; das hat sie gestiftet, dies Gemeinschaftsgefühl.”
Ein Zischlaut, ein Warnlaut von der Fensterfront, von dort her, wo unsere Kleinen standen, die Quartaner, die nicht aufhörten, sich darüber auszutauschen, was sie interessierte. Sie bedrängten, sie schubsten sich, sie hatten einander etwas zu zeigen; der Klassenlehrer war bemüht, Ruhe zu stiften. Wie gut du aussahst auf dem Photo, den grünen Pullover kannte ich, kannte auch das seidene Halstuch mit den Ankern, das trugst du auch damals, am Strand der Vogelinsel, an die es uns antrieb im Gewitter.
Siegfried Lenz: Schweigeminute. Novelle. Hamburg 2008. Musikbegleitung: “Bach´s Tränen”
Siegfried Lenz ist für mich ein Mensch, der eine herzliche Wärme ausstrahlt, und so ist es auch mit seinen literarischen Werken.
Liebe Grüße,
Tanja
Hallo Tanja,
für die verspätete Antwort kann ich nur eine momentane Grippe als Entschuldigung anführen. Eine andere Leserin meines Blogs wies mich zu recht darauf hin, dass es unfreundlich ist, nicht zu antworten. Ihrem Kommentar was Siegfried Lenz betrifft kann ich natürlich nur zustimmen, allerdings wird ihm diese Menschlichkeit auch manchmal als unmodern oder zu konform vorgeworfen. Er ist eben kein experimenteller Schriftsteller mit Hang zur Postmoderne, sondern auf eine menschliche Art altmodisch. Das Altmodische kann, wenn alle nach der Mode schielen, aber auch durchaus sehr modern sein.
Eine Gemeinsamkeit scheinen wir zu haben: wir mögen beide Leuchttürme. Die sind mittlerweile auch eher aus der Mode gekommen und werden für einsame Hochzeiten oder als romantische Metapher für alles Mögliche missbraucht. Mir suggerieren sie eine positive Abgeschiedenheit. Indem wir alle unser Licht hochhalten, solange wir leben, gehören wir möglicherweise alle zu den „lighthousekeepern“.
Was unseren Buchgeschmack angeht, segeln wir doch in verschiedenen Gewässern. Ich kann mit Vampiren, Mysterythrillern oder historischer Unterhaltungsbelletristik nicht so besonders viel anfangen, aber es gab auch einmal eine Zeit, inder ich „Die Nebel von Avalon“ von Marion Zimmer Bradley gelesen habe. Ich finde allerdings, dass Literatur mehr sein sollte, als nur Unterhaltung. Unterhalten darf sie schon, aber nur Flucht aus der Wirklichkeit sollte sie nicht sein, vielmehr kritische Auseinandersetzung mit ihr und dem Leben überhaupt. Das Sie Ihr Lesen mit anderen teilen, auch mit Ihrem Freund einen gemeinsamen Blog führen, finde ich natürlich gut. Das Verbindende ist sowieso immer das Wichtigere, denn es hebt die Fremdheit gegenüber dem Anderen auf.
Herzlichen Gruß
Der Buecherblogger