«Mais laissez-moi : vous ne pouvez plus être avec moi. Laissez-moi souffrir, laissez-moi guérir, laissez-moi seule.»
Zwei gern benutzte literarische Metaphern für den Fortgang des Lebens rahmen den nicht einmal fünfzig Seiten langen Text ein: am Anfang sitzt die lungenkranke Ich-Erzählerin in einem fahrenden Zug, der sie in das Sanatorium Tenay-Hauteville bringt und am Ende tanzt sie dort auf einem Ball. Leben bedeutet Bewegung, die das Schreiben in Betrachtung und Reflexion nachvollzieht. Bewegung bedeutet also auch immer, etwas hinter sich zu lassen, eine Trennung zu vollziehen. Die Erzählerin dieser Geschichte nimmt in doppeltem Sinne Abschied von ihrer Liebe zu einem Mann und von ihrem Leben. Denn sie weiß, das ihre Krankheit unheilbar in den Tod führt.
Bisherige Rezensionen gehen immer von der scheinbar naheliegenden Identität von Autorin und Erzählerin aus, die Ich-Form und die autobiographischen Tatsachen und Parallelen mögen dies zwangsläufig suggerieren. Dennoch glaube ich, dass der Text seine literarische Qualität aus einer bewussten Konstruktion bezieht. Sprachlich und stilistisch macht er einen abgeschlossenen, runden Eindruck. Inhaltlich ergänzt durch einen präzisen, schonungslosen Blick auf die eigene psychische und physische Situation, aber auch die Gefühlslage des nun Freundschaft anbietenden Ex-Verlobten. Dieser Mann oder die Männer dieser Zeit erscheinen wie defizitäre Wesen, die sich eine selbstbewusste, unabhängige Frau nur schwer als Liebende vorstellen können. Eine Frau wird in ihren Augen erwählt, lässt sich auserwählen und passt sich einem unterordnenden Rollenverständnis an. Das macht den Text modern, er stellt die Frage der wahren Gleichberechtigung auf der Gefühlsebene, nicht nur auf der äußerlicher Frauenrechte. Wer wählt wen heute? Das romantische Liebesideal sieht Amors Pfeil in der Liebe auf den ersten Blick gleichzeitig auf beide zuschießen, als hätte das Schicksal diesen Augenblick für beide aus der Zeit gerissen. Aber ist Liebe nicht wie alles andere ein Prozess, etwas organisch Wachsendes und auch wieder Sterbendes. Eine Art von beiden geschaffener Golem? So sieht auch die Erzählerin an einer Stelle in ihrem Kosenamen für den Geliebten, Bébé, eine symbolisch gemeinsam geschaffene Figur. In diesem Absatz wird auch deutlich, dass sie sich ihrer eigenen Erzählsituation, die einen Dialog mit einem “Du” braucht (was mich spontan an einen Beitrag zu Gabriel Josipovicis “Moo Pak” erinnert) ganz bewusst ist. Was wir lesen geht also über autobiographischen Briefwechsel weit hinaus, es ist schlicht große Literatur.
“Ich sprach mit mir selbst, doch die Nüchternheit dieses Monologs ermüdete mich manchmal; es ist viel bequemer, einen Vertrauten zu haben, der bedauert, zustimmt, zuhört; man gewinnt an Bedeutung; die Dinge, die man sagt, werden greifbar, bilden eine Romanwelt, in der man eine Rolle spielt. Bis zu welchem Punkt hält man sich an die reine Wahrheit? Dann entleeren sich diese kleinen Romane ihres Schmerzes; dieser erstarrt, wird zu einem der Seele äußerem Gebilde. Ab und zu brauche ich diese Bequemlichkeit. Ich hatte mich zusammengenommen, um meine Integrität zu wahren; doch um mein Mißtrauen zu beschwichtigen, dachte ich nun, wenn ich mein Leben erst erzählt hätte, wäre es von allem Anekdotischen befreit – es würde sich mir in seiner innersten Bewegung offenbaren. Ich brauchte ein Double.
Ich fand Gefallen an dem schwarzgekleideten jungen Mann mit den Augen, die sich auslieferten; ich nannte ihn »Bébé« und sprach jeden Tag mit ihm. Ich erzählte ihm bis ins einzelne von jeder meiner Minuten, und wenn er nicht da war, war er es, mit dem ich fortan leise sprach. Alles bekam erst dann seinen vollen Wert und Geschmack, wenn ich es ihm dargestellt hatte; nicht daß ich mich von ihm hätte leiten lassen, doch er war der Punkt, von dem ich ausging, um zu agieren und zu reagieren. Und ich liebte ihn, als wäre er ich selbst. Ich hätte ihn gern sehr verwöhnt; er war mir kostbar, und ich hatte Angst, ihn zu verlieren.”
Doch nicht nur mit der verlorenen Liebe befasst sich der Text, sondern auch mit Krankheit und Tod, diese beiden den Gesunden so völlig fremden Gegenstände. Schreibend behauptet sich die Autorin gegen ihr nahes Schicksal und gegen auch in diesem Punkt männliche Ignoranz. Männer werden in den kommenden Zeiten vor allem im Nachbarland germanisch und gesund sein. So glaube ich, vor allem man(n) muss dieses Kleinod von Buch auch radikaler lesen, gegen das männliche Rollenverständnis gerichtet. Auch als weibliche Anklage, sich diesem männlichen Selbstverständnis nicht anpassen zu wollen.
Marcelle Sauvageot
Das Unverständnis der Geschlechter füreinander wird immer bestehen, bis es sich aufhebt in einem Augenblick, der jede Differenz verzeiht, weil er keine mehr kennt: ein Augenblick der Liebe. So wie das gegenseitige Erkennen von Matt Damon und Cécile de France am Ende von Clint Eastwoods Film “Hereafter” könnte ich mir ihn vorstellen. Sentimental, sicher, mit Rachmaninows Musik beinahe pathetisch, aber Begegnung und Berührung ist alles.
Der französische Text der ersten Ausgabe 1933 online (auch als PDF exportierbar!)
Einige Rezensionen:
Maike Albath: Eine Liebesklage
Michaela Schmitz: Laissez-moi – eine Passion
Joseph Hanimann: Geschenktes Glück