Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Leseeindrücke von Kapitel 11.
Clara, die jüngere der Dorfschullehrerinnen, beginnt im elften Kapitel in der Ich-Form über ihre glückliche Kindheit zu erzählen. Ihre Mutter besitzt ein “kleines Geschäft für Hochzeitskleidung” und nicht nur deshalb heißt das Kapitel “Zu heiraten, vor dem Spiegel zu stehen und glücklich zu sein”. Wie schon ihre Vorgängerin Silvana erzählen Lehrerinnen einfach prächtig. Im allgemeinen ist sonst der pädagogische Zeigefinger nicht mein Fall, aber der wird hier auch nicht erhoben. Spätestens jetzt sollten Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, mit ihrer Computermaus auf das x rechts oben klicken und mit dem Lesen aufhören, denn dieses und das folgende Kapitel haben mich gefühlsmäßig viel zu sehr vereinnahmt. Hymnen sind immer peinlich oder gar pathetisch, auch die auf Kapitel in einem Buch. Also dahin mit dir, du objektive Kritik, ich tauche ins trübe Wasser der Gefühle. Die beiden Kapitel erschienen mir fast wie aus einem Guss, und als würde sich auch die Sprache steigern. Ich hatte das Gefühl, jetzt nach hundertvierzig Seiten in dem Roman richtig angekommen zu sein. Also ich war auch schon vorher drin, aber nicht so. Vermutlich lag es auch an dieser einfachen, aber poetischen Erzählweise von Kindheit und Glück, die das Vergängliche von beidem immer mit betont. Clara sitzt mit ihrer Schwester, wenn die Mutter Hochzeitskleider näht, vorn im Schaufenster des Ladens und sie blicken gemeinsam auf die Straße und warten auf die wenigen Kunden. Schon der dritte Absatz dieses bemerkenswerten Kapitels endet mit dem Satz:
“Ich habe erst viele Jahre später bemerkt, als ich längst zu Hause ausgezogen war, dass ein Teil von mir dort im Fenster sitzen geblieben ist, ein Teil, der noch immer dort sitzt und ohne davon zu wissen, vollkommen glücklich ist.”
Die Stimmung, die diese Beschreibungen der Kindheit vermitteln ist durch ein einzelnes Zitat nicht zu belegen. Glück, auch das beim Lesen, kann man nicht befriedigend definieren oder philosophisch einordnen, über das Glück muss man erzählen. Erst die Erzählung macht viele menschliche Grunderfahrungen nachvollziehbar und teilbar. Die andere Seite der Straße vor dem Laden wird zum Beispiel als Bild benutzt, um einen Übergang zwischen Kindheit, Schule und schließlich Studium zu schaffen. Clara studiert Pädagogik und möchte eigentlich weiter in der Stadt arbeiten, aber die Schulverwaltung bietet ihr nur die Stelle in einem Dorf an, so verschlägt es sie nach Marginime. Der Abschied von der Mutter und der Schwester, die “zur Gänze im Fenster unserer Kindheit sitzen” bleibt, fällt schwer, aber schon nach zwei Stunden Zugfahrt wird sie vom Schuhmacher und Bürgermeister Ioan am Bahnhof des idyllischen Dorfes abgeholt. Ihre kaputte Uhr weist darauf hin, dass auch die Zeit in dem Dorf stehengeblieben ist. Methoden und Unterrichtsmaterial sind hoffnungslos veraltet, dafür ist ihre Wohnung über dem einzigen Schulraum vom Tischler handgefertigt und schön hell. Es braucht ein halbes Jahr, bis sich Clara und die Einheimischen aneinander gewöhnt haben und sie als Lehrerin mit neuen Methoden akzeptieren. Sie freundet sich mit dem alleinerziehenden Bürgermeister Ioan und seinem Sohn Nicolae an. Dann erzählt sie von ihrem Verhältnis zur jungen Krisztina, die auch Lehrerin werden will wie sie und eine schöne dazu. Sie unterstützt sie in diesem Bestreben, in die Stadt zu gehen und entwickelt eine beinahe schwesterliche Beziehung zu ihr. Wohl auch, weil sie die eigene verloren hat. Als es um die Vorgänge bei der Beerdigung der Mutter der beiden Tischlersöhne Varian geht, die beide ein Auge auf Krisztina geworfen haben, rät sie ihr, sich an den lebenslustigen Stadtmenschen Varian zu halten. Im Nachhinein hat sie deshalb Schuldgefühle, weil das Mädchen von einem Tag auf den anderen plötzlich für immer verschwindet. Sie vermutet mit dem unwiderstehlichen Varian in die Stadt.
Das Kapitel besticht durch poetische, einfache Bilder, wie das Schaufenster, die Straße, die Uhr, die Hochzeitskleider, die Schule und den Dorffriedhof. Es könnte auch als kleine Erzählung für sich stehen. Erzählende und Dialogpassagen sind gut aufeinander abgestimmt. Sprachlich wird, wie in der Musik, mit dem Stilmittel der Wiederholung einzelner Phrasen gearbeitet. Ein für das betreffende Kapitel charakteristisches Bild oder Thema taucht am Ende wie ein Kreis schließendes Da Capo mit den gleichen Worten wieder auf. So geschieht am Schluss etwas für mich Wunderbares, denn das Bild des glücklich im Schaufenster sitzenden Geschwisterpaares vom Anfang wird am Ende des Kapitels auf Krisztina übertragen. Was auch immer ihr zugestoßen sein mag, das Glück bleibt zeitlos Teil unserer Erinnerungen.