Vorweg, den Text des Gedichts und einige weiterführende Links gab es bereits im vorigen, spontanen Beitrag bei dessen Erscheinen, hier.
In der zweiten Strophe, die wie die beiden folgenden sechszeilig daherkommt, wird nun der aktuelle Anlass konkret thematisiert, der das Schweigen gebrochen hat: der von der Regierung Israel angekündigte und angedrohte, präventive Angriff auf den Iran. Bezeichnend für die zumindest wohl auch intendierte Absicht zu einem Versuch der Ausgeglichenheit, wird die andere israelfeindliche Seite als “Maulhelden” beschimpft. Den meisten erscheint dies unausgewogen, aber man sollte die Hauptthematik dabei nicht vergessen, das Schweigen der deutschen Regierung bzw. der Schweigekonsens in großen Teilen von Bevölkerung und politischer Repräsentanz. Um ein Aufrechnen geht es dem Prosagedicht nicht.
In der dritten Strophe wird eine nicht zu leugnende Tatsache beklagt, dass die breite Bevölkerung über das israelische Atomwaffenpotential wie über das amerikanische in der Bundesrepublik meist völlig im Unklaren gelassen wird und eine Überprüfung nur auf der feindlichen Seite stattfinden soll. Die vierte bemängelt eine Vorverurteilung desjenigen, der dieses Schweigen bricht, als Antisemit. Aus einem einzigen, langen, dreizehnzeiligem Satz, der etwas überfrachtet anmutet, besteht die fünfte Strophe. Was den Satz dennoch zur Versform macht sind die vielen Substantiv-Paare, die wie eine verstärkende Aufzählung wirken, etwa Verbrechen/Vergleich, Mal um Mal, Spezialität/Sprengköpfe oder Befürchtung/Beweiskraft. Erst jetzt, am Ende dieser Strophe und in der Mitte des ganzen Textes gipfelt dieser Satz in den Titel für das gesamte Gedicht: “Was gesagt werden muss”. Der Auslöser für das Sagen ist die geplante Lieferung eines weiteren deutschen U-Boots an Israel.
Heikel wird es in der sechsten Strophe bei dem Wort “meine Herkunft”, denn viele Kritiker nahmen das selbstgefällig zum Anlass, Grass seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS erneut um die Ohren hauen zu müssen. Ich kann darauf nur antworten, dass ich nie dafür garantieren würde, wenn ich als Siebzehnjähriger 1944 (ich bin 1954 geboren) schon gelebt hätte, nicht auch an diese Stelle hätte geraten können. Jemandem nach über sechzig Jahren seine Jugendsünden vorwerfen können nur die, die zweifelsfrei immer auf der Seite des Guten stehen. Die sind mir per se in ihrer Rechtschaffenheit und Fehlerlosigkeit suspekt, werfen aber gern den ersten Stein.
Die siebte Strophe stellt wiederholt insistierend die Frage nach dem eigenen Schweigen an sich selbst und enthält den immer wieder herausgestellten Kernsatz: ”Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden”. Das muss sich nicht zwangsläufig nur auf einen atomaren Erstschlag beziehen, sondern betrifft auch den Angriff mit konventionellen Waffen. Sprachlich interessant ist, dass das Verb “tilgen” zum zweiten Mal gebraucht wird, wodurch ein Zusammenhang zwischen dem Makel der nationalsozialistischen Vergangenheit und der aktuell möglichen Mitschuld durch Deutschlands Waffenlieferung hergestellt wird.
In der achten von neun Strophen insgesamt gibt es sprachlich eine Parallele zur fünften Strophe, die auch wie schon gesagt, aus einem einzigen Satz besteht und ebenfalls mit zwei trotzigen Wörtern beginnt: “Jetzt aber,” und “Und zugegeben:”, als brauche der Sprecher einen Anschub und Aufruf, sein zu langes Schweigen endlich zu überwinden. Gerade der Schluss des Prosagedichts ist in seinem Befrieden wollen, seinem eingefordertem Ruf nach neutraler Kontrolle, was die Waffensysteme beider Seiten anbelangt, bisher durch Entrüstung über die anmaßende Hybris des oberlehrerhaften Zeigefingers, als zweitrangig diskreditiert worden. Das in der ersten Strophe schon aufgetauchte, sich durch die Wortsyntax ziehende “l” taucht auch in der letzten auf und erinnert an die immer wieder auftretende Diskrepanz in friedliebenden Religionen (“Wahn”) zwischen ihrem theoretischem Glaubensanspruch und den damit verbundenen realpolitischen, meist kriegerischen Auswirkungen.
Was die literarische Bewertung angeht sympathisiere ich mit der Auffassung von Denis Scheck, in der politischen mit der von Jakob Augstein, mögen mich andere auch als naiv betrachten oder gar verbale Steine werfen wollen. Mit der Ästhetik des Gedichts allein kann man sicher keinen Preis gewinnen, sein Inhalt aber ist eine Warnung an uns alle, dass immer noch kommen kann, was angedroht wurde. Wenn ich die vielen Kriegsschauplätze in den Nachrichten sehe, weiß ich nur eins mit Sicherheit, dass der Einzelne und die einfache Bevölkerung immer “allenfalls Fußnoten” sein werden, egal in welchem Krieg. Der nun schon lang anhaltenden Debatte ist zu wünschen, dass sie etwas bewirkt, am besten einen Stopp der Waffenlieferungen und die Verhinderung eines Präventivangriffs, von welcher Seite auch immer. Wenn Grass mitgeholfen haben sollte, nicht mit Kadavergehorsam in einen angezettelten Krieg zu ziehen, war es bei allen Einschränkungen und manch übertriebener Fehleinschätzung letztlich in der auslösenden Wirkung dann doch ein gutes Gedicht.
Ich will mit diesem etwas lang geratenen Versuch das Kapitel “krasses Gedicht” endgültig abschließen. Von seiner Thematik wird man das leider noch lange nicht sagen können.